Unter dem Motto "Spätfolgen der Querschnittlähmung – Prävention und Therapie" ging die 35. Jahrestagung der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegie (DMGP) erfolgreich zu Ende. Auch wenn sich aufgrund der enormen Entwicklung bei der Behandlung querschnittgelähmter Menschen – rund 140.000 leben allein in Deutschland – die Lebenserwartung mittlerweile der Normalbevölkerung angenähert hat, machte der Kongress deutlich, dass eine Querschnittlähmung weit mehr bedeutet als nicht mehr gehen zu können. Da sich neben der Mobilitätseinschränkung mit höheren Alter neue gesundheitliche Probleme ergeben, war Lebensqualität ein ganz großes Kongressthema.

Multiprofessioneller Ansatz mit intensiven Diskussionen

An vier intensiven Kongresstagen wurde diskutiert, wie die Situation von Betroffenen und ihren Angehörigen nachhaltig zu verbessern sei, auch wenn trotz aller Fortschritte der Medizin eine Heilung immer noch nicht möglich erscheint: "Unser multiprofessioneller Ansatz ermöglichte hochinteressante Diskussionen mit allen an der Behandlung von Menschen mit Querschnittlähmung beteiligten Berufsgruppen", so die beiden Kongresspräsidenten, Chefarzt PD Dr. Thomas Meiners und Leitender Arzt Dr. Heiko Lienhard am Zentrum für Rückenmarkverletzte der Werner Wicker Klinik Bad Wildungen. Im Mittelpunkt standen die Schwerpunktthemen Chronischer Schmerz, Darmlähmung, Neuro-Urologie, Dekubitus und Endoprothetik.

Eins der gravierenden gesundheitlichen Probleme bei Menschen, die jahrzehntelang im Rollstuhl sitzen, ist im fortgeschrittenem Alter neben der gestörten Wirbelsäule die Überbelastung von Schulter, Armen, Handgelenken und Ellenbogen. Die großen Verschleißerscheinungen sind verbunden mit Schmerzen und Kraftminderungen. Der vielbeachtete Vortrag von Uwe Riess, Leitender Oberarzt Orthopädie, Bad Wildungen, verdeutlichte mögliche Alternativen zu Schulter-OPs bei Rollstuhlfahrern. Ein durchgängiges großes Diskussionsthema waren Darmprobleme im Rollstuhl, die früher oder später zu Stuhlinkontinenz führen und die Lebensqualität deutlich einschränken.

Lebensqualität und AWMF Leitlinie für lebenslange Nachsorge

Das umfassende Thema Lebensqualität betreffe allerdings "die gesamte Infrastruktur", wie Dr. Lienhard feststellte. "Barrierefreiheit" sei nicht unbedingt "rollstuhlgeeignet". Es ging um mehr berufliche Integration und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Basiswissen bei der ärztlichen Ausbildung über die Besonderheiten der Querschnitt-Behandlung, das erweiterte Angebot telemedizinischer Sprechstunden und auch um den bestehenden Pflegenotstand. Die breite Diskussion der aktuellen AWMF Leitlinie für lebenslange Nachsorge nach Querschnittlähmung verdeutlichte den großen strukturellen und flächendeckenden Bedarf, diese Empfehlungen und Forderungen auch in die Praxis umzusetzen.

Neue Therapieansätze und Behandlungsmöglichkeiten

Mit großem Interesse wurden neu entwickelte Therapieansätze wie zum Beispiel die elektrische Stimulation des verletzten Rückenmarks oder die Transplantation von Stammzellen verfolgt. Doch wurde in den Diskussionen deutlich, dass Rückenmarksverletzten keinesfalls auf ihre Unfähigkeit zu laufen reduziert werden dürfen. Auch wenn sie mit neuen Technologien wie Hightech-Exoskeletten wieder auf die Beine kommen könnten, sei die Mobilität auch durch Rollstühle gut kompensiert, wie Dr. Lienhard betonte. Die Hauptprobleme seien die Wiederherstellung von Sexualfunktion, Darm und Blase. Da es wenig Evidenz im diesem Bereich gebe, ermöglichte der praxisnahe Kongress den notwendigen Erfahrungsaustausch, um neue Ideen und Ansätze hervorzubringen.

Mit Blick auf zukünftige Behandlungsmöglichkeiten lag ein besonderer Tagungsschwerpunkt im Bereich der pathologischen Molekularmedizin. Die ersten Ergebnisse eines Forschungsprojektes, warum gelähmte Menschen so lange leben, wurden mit Spannung erwartet und breit diskutiert. "Evolutionär gibt es das so nicht", so Dr. Meiners. "Körper und Seelen dieser Menschen haben etwas Besonders, das zu hinterfragen und ergründen ist. Was passiert in den gelähmten Partien, was passiert mit der Immunologie?" Diese hochspannenden Fragen und Erkenntnisse aus dem Leben der Gelähmten könnten letztlich Auswirkungen für alle haben.

Hochintellektuelle Festrede und Ausblick

 "Im Anschluss des überaus erfolgreichen Jahreskongresses der DMGP, des intensiven inhaltlichen und persönlichen Austausches" würdigte Dr. med. Marcus Nehiba, Chefarzt der Neuro-Urologie an der Werner Wicker Klinik, als "gebührenden und eindringlichen Abschluss" den Festredner Dr. Wolfgang Schäuble, dienstältestes Mitglied des 20. Bundestags, seit 2021 Alterspräsident des deutschen Parlaments und nach einem Attentat 1990 vom dritten Brustwirbel abwärts gelähmt.
Die hochintellektuelle Festrede umfasste "allgemeine Gedanken über unsere Politik und Gesellschaft". Wer eine Auseinandersetzung mit der "Gesellschaftsressource Gesundheitssystem" erwartet hatte, wurde jedoch enttäuscht. Ein Ausblick und eine Weiterführung der intensiven Diskussionen, wie das Leben von Querschnittgelähmten noch verbessert werden kann, ist bei der 36. Jahrestagung der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie 2023 zu erwarten. Weitere Informationen unter www.dmgp-kongress.de.  

Hintergrund: 1985 gegründet, verbreitet die DMGP Kenntnisse über die umfassende Behandlung von Querschnittgelähmten und fördert die Fortbildung in Richtung partnerschaftlicher und multiprofessioneller Zusammenarbeit aller an der Behandlung Querschnittgelähmter beteiligter Berufsgruppen. Außerdem koordiniert die DMGP die Zusammenarbeit mit internationalen Fachgesellschaften und fördert wissenschaftliche Arbeiten zur Querschnittlähmung.

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