Das Günter-Görlich-Festival geht weiter: Auch heute stammen alle Texte dieses aktuellen Newsletters von diesem Autor, einem der bekanntesten Autoren und Kulturfunktionäre des untergegangenen Landes und zwar einschließlich des aktuellen Beitrages der Rubrik Fridays for Future – traditionell immer das fünfte und letzte der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 08.07. 22 – Freitag, 15.07. 22) zu haben sind. Mehr dazu weiter unten – nach den anderen vier Görlich-Büchern:

Die Ehrgeizigen“ sind Paul und Jürgen, zwei Dreherlehrlinge, die im Berufswettbewerb stehen, und sehr unterschiedlich sind. Werden sie Freunde bleiben?

Görlichs erstmals 1971 veröffentlichtes Jugendbuch „Den Wolken ein Stück näher“ sorgte bei seinem Erscheinen für heftige Diskussionen über Lebenssinn und Lebenslust und darüber, wie revolutionär der damalige DDR-Sozialismus eigentlich noch war. Ein spannendes Buch. Bis heute lesenswert.

In dem Kinderbuch „Der blaue Helm“ für Leser von 8 Jahren an bringt der Diebstahl eben dieser Arbeitsschutzkopfbedeckung einen kleinen Jungen in ziemliche Schwierigkeiten. Und nicht nur ihn.

Das Mädchen und der Junge“ thematisiert die Frage, wieviel Aufgeben in der Liebe gut und richtig ist.

Und damit sind wir wie schon oben angekündigt wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Erneut steht ein ebenso trauriges wie wichtiges Thema auf der literarischen Tagesordnung: Rassismus, Rassismus im Alltag. Oft sind es gar nicht so sehr die großen üblen Beleidigungen, sondern oft auch die kleinen, wie nebenbei gestellten scheinbar harmlosen Fragen, die andere Menschen verletzten: Sag mal, wo kommst Du eigentlich ursprünglich her?

Erstmals 2003 veröffentlichte Günter Görlich im Scheunen-Verlag Kückenshagen „Das fremde Mädchen“: Das fremde Mädchen Mina Acad kommt aus dem großen Berlin in eine norddeutsche Kleinstadt. Nur Oliver kümmert sich um sie. Und Annegret, beides Kinder aus ihrer neuen Klasse. Doch manche mögen die Mina nicht. Weil sie anders ist. Eben fremd. Es wird spannend um Mina. Und Oliver. Das fremde Mädchen bringt eine ganze Stadt auf die Beine. Begeben wir uns in den Norden des Landes:

Das fremde Mädchen

Die Stadt Sulkow liegt im Norden. Dort gibt es einen Marktplatz mit einen alten, renovierten Rathaus, eine Stadtmauer mit Wehrtürmen und am Rande der kleinen Stadt eine Schule.

Die ist ein unauffälliges Gebäude.

An einem Septembertag beginnt das neue Schuljahr. Die Klasse fünf hat sich im Unterrichtsraum eingefunden, Mädchen und Jungen, die sich über die vergangenen Ferien unterhalten.

Oliver Beck sitzt in seiner Bank, die ihm allein gehört seit der Zeit, da er hier neu in die Klasse kam. Und das war im vergangenen März, mitten im Schuljahr also. Schuld war Olivers Vater, der sich versetzen ließ aus der Stadt Potsdam in diese Gegend, denn der Vater ist ein Wasserbauspezialist. Und die Stadt Sulkow ist umgeben von Seen, die verbunden sind durch einen Fluss.

Oliver hat keine besonderen Ferienerlebnisse, Vater hatte sich einzuarbeiten in seine neue Aufgabe und will erst in den Winterferien Urlaub nehmen.

Oliver ist groß, hat blonde, kurze Haare und ein schmales Gesicht. Er ist in der Klasse der Größte, ist sogar einen halben Kopf größer als Thorsten Schmidt. Der nimmt ihm das von Anfang an übel. Thorsten Schmidt ist zwar einen halben Kopf kleiner als Oliver, dafür aber bulliger und kräftiger, jedenfalls dem Aussehen nach.

So war es im Mai in einer Hofpause zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen Oliver und Thorsten gekommen, genauer gesagt, Thorsten hatte den Streit vom Zaun gebrochen.

Er wollte Oliver in den Schwitzkasten nehmen. Doch er wusste nicht, dass Oliver in seiner Potsdamer Schule der Judogruppe angehört hatte. So lag er gleich flach, der bullige Thorsten.

Das passierte mitten auf dem Schulhof und es gab viele Zeugen.

An diesem Septembertag wartet die Klasse fünf auf die Klassenlehrerin Matusche, eine Frau mittleren Alters, mit der recht gut auszukommen ist. Sie wird wahrscheinlich in der ersten Stunde die Ferien auswerten. Es wird Reiseberichte geben von denen, die in der Welt herumgekommen sind mit den Eltern, andere Schilderungen von denen, die es sich nicht leisten konnten, so weit zu reisen. Oliver hat sich vorgenommen, von seiner Zeit mit Vater zu erzählen, von den Seen und dem Fluss, den Stunden als Angler und Beobachter im Wald.

Die Tür öffnet sich, und herein kommt Frau Matusche. Sie schiebt ein Mädchen in den Raum. So ein Mädchen gibt es sonst nicht in der Stadt Sulkow. Es ist sehr schlank, hat ein rundes, dunkles Gesicht, sehr große schwarze Augen und langes bläulich-schwarzes Haar.

Es ist still im Klassenzimmer, alle starren das Mädchen an, das jetzt neben Frau Matusche vor der Wandtafel steht.

Frau Matusche sagt: „Guten Morgen. Bevor wir heute beginnen, möchte ich euch eine neue Mitschülerin vorstellen. Sie heißt Mina, Mina Acad.”

Frau Matusche nimmt ein Kreidestück und schreibt mit großen Buchstaben an die Tafel: – MINA A C A D –

Frau Matusche sagt: „Mina kommt aus Berlin. Ihr Vater eröffnet in Kürze eine Gaststätte. Am Markt wird das sein. Minas Vater ist aus der Türkei nach Deutschland gekommen, aus dem kurdischen Teil der Türkei. Mina ist in Berlin geboren und groß geworden. Ja, und nun ist sie bei uns hier in Sulkow und wird unsere Schule besuchen. Ja, und ihr sollt sie gut aufnehmen.“

Frau Matusche hat einen Arm um Mina gelegt, schaut sich um, wahrscheinlich sucht sie einen Platz für das Mädchen.

Sie nimmt Mina an die Hand und geht auf die Bank zu, in der Oliver allein sitzt.

„Oliver, ab jetzt hast du eine Nachbarin. Du wirst mit ihr auskommen.“

Oliver schaut hoch zu Frau Matusche.

„Wenns sein muss“, sagt er und rückt seinen Stuhl ein wenig zur Seite. Obwohl das nicht notwendig ist, denn es ist neben ihm genügend Platz für Mina.

Frau Matusche sagt: „Hilf ihr ein bisschen, Oliver. Du weißt ja wie es ist, wenn man sich eingewöhnen muss.”

Das Mädchen nimmt ihren Rucksack von der Schulter und zieht die Jacke aus, hängt sie über die Stuhllehne, setzt sich auf ihren Stuhl, faltet die Hände auf dem Pult.

Frau Matusche steht immer noch vor der Bank und schaut auf Mina hinunter.

Sie sagt: „Nun also, das war’s, Mina. Hast jetzt deinen Platz hier. Und wir beginnen nun mit unserer Stunde.“

Und sie geht nach vorn zu ihrem Tisch, schlägt das Klassenbuch auf und schließt es wieder.

Oliver schaut seine neue Nachbarin an, sieht sie jetzt von der Seite, ihre leicht gebogene Nase, ihre dunkle Haut und das schwarze, bläulich schimmernde Haar.

Und Frau Matusche fordert auf, Ferienerlebnisse zu erzählen. In der ersten Pause fragt Oliver: „Du kommst aus Berlin?“

„Ja”, antwortet Mina, „in Kreuzberg haben wir gewohnt, am Schlesischen Bahnhof.“

„In Kreuzberg war ich auch schon“, sagt Oliver.

„Wo denn?“, fragt das Mädchen.

„Am Herrmannplatz. Mein Vater hat mich mitgenommen“, erklärt der Junge.

„Der Herrmannplatz gehört aber zu Neukölln“, sagt Mina.

„Dann war ich eben in Neukölln“, meint Oliver.

„Das macht ja nichts. Kann man verwechseln“, sagt Mina.

Es beginnt die zweite Stunde und Oliver denkt, dass Mina gut Deutsch spricht. Nicht sehr gut, eben so, wie er auch.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 1959 erschien im Verlag Neues Leben Berlin „Die Ehrgeizigen“ von Günter Görlich: Die Dreherlehrlinge stehen im Berufswettbewerb. Paul, der als einziger das Abitur hat, ist der Beste des Aktivs und ziemlich überheblich. Er hat den Ehrgeiz, die Goldmedaille im Berufswettbewerb zu bekommen. Dazu muss sein Lernaktiv das beste sein, komme was wolle. Sein Freund Jürgen betrachtet Paul immer kritischer, vor allem, nachdem beide bei einer Demonstration in Westberlin verhaftet wurden und Paul dort – im Gegensatz zu Jürgen – mit Samthandschuhen angefasst wurde. Ein spannendes Buch über Freundschaft, Ehrlichkeit und Liebe. Zunächst einmal aber gibt es offenbar einen Streit zwischen den beiden Freunden – und eine beherzte Rettungsaktion:

Das werd ich dir nicht vergessen

„He! Komm zurück!“

Paul wölbte die Hände um den Mund und schrie, dass ihm die Halsadern anschwollen.

„Stehenbleiben! Jürgen, hörst du … zurückkommen!“

Doch der Junge in der verblichenen, viel zu weiten Lederjacke schlitterte über das Eis, ohne sich auch nur einmal umzuschauen. Der Wind, der von den Hügeln kam und die Kiefern ansprang, dass sie sich ächzend bogen, blähte die Lederjacke wie ein Segel.

So ein Dickschädel, der Jürgen. „Die Wette gilt“, hatte er gerufen und war losgelaufen. Dabei ging es nur um einen erfrorenen Vogel, der mit gespreizten Schwingen auf dem Eis lag. Wenn die Sonne schien, glänzte sein weißes Gefieder. Eine Elster sei das, hatte Jürgen behauptet. Dabei war’s eine Möwe, das konnte man doch sehen.

„Möwe? Dass ich nicht kichere … Noch nie waren Möwen hier“, hatte sich Jürgen ereifert und spöttisch geblinzelt, als habe er sagen wollen: Mein Lieber, wenn du auch auf deiner Oberschule die Weisheit gefressen hast – von solchen Sachen hast du keine Ahnung.

Dann hatte er mit puterrotem Kopf gerufen: „Wetten … eine Elster… zehn Mark!“, hatte seine Lederjacke zurechtgerückt und war durch das trockene Schilf gesprungen.

Kinderei! Paul stieß die Hände in die Taschen seines Anoraks und presste die Lippen aufeinander.

Der Wind war böig und warm.

Bis zum Ufer war das Knirschen des brechenden Eises zu hören. Paul zuckte zusammen.

Ein Bild entstand vor seinen Augen: Ein kleiner Teich, ein Junge ist im Eis eingebrochen, nur sein knallroter Schal und die Pudelmütze sind noch zu sehen, ein Mann liegt auf dem Bauch und schiebt eine Leiter auf die Pudelmütze zu.

In der Fibel, gleich auf der dritten Seite, war das Bild, erinnerte sich Paul.

Dann überwand er die Starre. Im Eis klaffte ein zackiges Loch. Schwarzes Wasser quoll hervor. Er hörte einen Schrei.

Hilfesuchend blickte er sich um, doch hinter ihm waren nur Wald und Sand, aus dem knorrige Wurzeln ragten.

Er riss sich den Anorak vom Leib, drehte ihn zu einem Strick zusammen und kroch auf das Eis. Er dachte: Die schweren Schuhe ziehen in die Tiefe … Dort unten sind eiskalter Schlamm und verfaulte Schlingpflanzen.

In dem schwarzen Loch vor ihm griffen Jürgens Hände nach dem bröckelnden Rand. Paul hörte das Wasser schwappen und spürte die federnde Spannung im Eis.

Als kalte Spritzer sein Gesicht trafen, warf er den Anorak. Das Gewicht des Ertrinkenden riss in den Handgelenken, der Schmerz wollte die Finger öffnen.

In einer schmalen Rinne fraß sich das Wasser auf ihn zu. Er zog zum Ufer, der Zorn ließ seine Kräfte wachsen. Er spürte keinen Schmerz mehr, keine Kälte und auch keine Furcht.

Dann versank Jürgens Kopf nicht mehr. Aus dem Wasser tauchte nass glänzend die Lederjacke.

Paul fühlte Sand unter den Füßen.

Er sah, wie Jürgen schwankte, wie das Wasser von der Lederjacke rann, sah die blauschimmernden Lippen und die starren Augen des Freundes.

„Komm rausl“, rief er heiser.

Die Sonne funkelte wieder durch die Wolken. Das Eis war wie ein Spiegel, durch den ein schmaler zackiger Riss lief.

„Beweg dich, Mensch!“, schrie Paul und stieß Jürgen ins Kreuz, weil er fürchtete, der würde umfallen und nicht mehr aufstehen.

Am Hang, im Schutz einer dichten Schonung fachte Paul ein Feuer an. Jürgens Kleider dampften. Uber sein Gesicht rannen Tränen.

„Der Rauch beißt so“, sagte er.

Paul warf neues Reisig auf.

Regentropfen klatschten ins Laub. Paul trat das Feuer aus, er schaute besorgt zu Jürgen hinüber. Beim Radfahren wird ihm warm werden, überlegte er. Hoffentlich ist eine Kneipe im Dorf, eine trockene, warme Bude …“

Erstmals 1971 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Den Wolken ein Stück näher“ von Günter Görlich. Dem E-Book liegt die Ausgabe von 1985 zugrunde: Klaus Herper wird durch den Arbeitswechsel seines Vaters aus der ihm vertrauten Umgebung gerissen. Fremd ist ihm die große Stadt, und fremd sind ihm die andere Schule und seine neuen Klassenkameraden. Der erste Schultag verläuft nicht sehr ermutigend für Klaus. Er gerät unverschuldet in Streit mit Heinz Mateja, dem Klassenbesten der 8 b. Doch da gibt es den Klassenleiter der 8b – Lehrer Magnus -, der von allen Schülern geliebt und verehrt wird.

Der Autor findet überzeugende Antworten auf die Fragen junger Menschen nach dem Sinn unseres Lebens. Günter Görlich erzählt von den scheinbar unbedeutenden Auseinandersetzungen der beiden Freunde im Kollektiv ihrer Klasse; er gestaltet erregende moralische Probleme unserer Zeit. Das Buch beginnt mit einer nicht besonders guten Stimmung seines Helden, Klaus Herper, wie er selbst erzählt:

1. Kapitel

Meine Stimmung war so mies wie das Wetter an diesem dritten September. Das Datum nenne ich so genau, weil an dem Tag die Schule anfing. Ein entscheidendes Jahr steht vor dir, hatte mein Vater mit Nachdruck gesagt.

Warum sollte die achte Klasse so entscheidend sein? Vielleicht weil’s die Jugendweihe gibt und den Personalausweis? Na, ich weiß nicht.

Ein guter Mann ist mein Vater, so im Allgemeinen hat er auch recht. Er dachte vielleicht an sich, weil er mit der achten Klasse hatte abgehen müssen von der Schule – die Zeiten waren so. – Es war eine alte Schule in Lichtenberg. Wir haben sie mal besichtigt. Vater fand sogar noch Inschriften, die er in die Wand geritzt haben wollte. Ich konnte nichts mehr entdecken, war ja alles zerkratzt.

Vater war schuld an meiner miesen Stimmung, denn ihm verdanken wir es, dass wir in dieser Riesenstadt hockten, was mir nicht gefiel – ganz und gar nicht.

Ich stand auf dem Balkon unserer neuen Wohnung, acht Stockwerke über der Straße, mit dem Fahrstuhl zu erreichen, wenn der nicht seine Mucken hatte. Das Fahrstuhlgeräusch ging meiner Mutter auf die Nerven. Gleich hinter unserer Küchenwand stand der Motor, und der hatte was zu ziehen und brummte ganz schön.

Mutter behauptete am zweiten Tag nach unserem Einzug, dem Lärm nach müsste jeden Augenblick ein Lastkraftwagen in ihre Küche hineinfahren. Das war natürlich übertrieben.

Von Norden wehte der Wind, trieb graue Wolken tief über die Stadt hinweg. Man musste staunen, wo kamen alle diese Wolken her?

Schornsteine und andere turmartige Gebäude wurden von den Wolken um die Hälfte gekürzt, sie sahen aus wie abgebrochen. Es gefiel mir, auf dem Balkon zu stehen, gewissermaßen über der Stadt. Das war wie so vieles andere neu in meinem Leben. Das sollte mir endlich bewusst werden. Vater forderte es schon eine ganze Weile von mir.

Bloß an diesem dritten September hatte ich nicht die Stimmung dazu. In einer Stunde würde ich in einer anderen Schule sein – anderes Schulgebäude, andere Lehrer, andere Schulkameraden, andere Kniffe, andere Spitznamen. Vorsichtig beugte ich mich über das Balkongeländer. Die Tiefe kam mir unheimlich vor, dabei wohnten wir schon eine Weile hier oben, direkt unter dem Himmel. Diesen Begriff hatte meine Schwester Marlies gefunden.

Ich gab mein Angstgefühl natürlich nicht zu, um nichts in der Welt. Wie käme ich, Klaus Herper, dazu, hatte ich doch die höchsten Bäume in der waldreichen Umgebung Potsdams erklettert.

Ich wurde das Gefühl nicht los, und mein Vater hatte gemerkt, dass mir beim Runtergucken nicht ganz wohl ist. Am ersten Tag – die Möbelträger räumten noch ein, und ich hatte als gutes Familienmitglied der Herpers auch mitgeholfen – war ich so einfach an das Balkongeländer rangegangen und ganz schnell zurückgezuckt. Vater sagte nur: „Man muss sich daran gewöhnen.“ Und Mutter, die gerade in Holzwolle wühlte, um ihre Tassen, Krüge und Teller zu bergen, rief ängstlich: „Passt mir bloß auf Marlies auf.“

Vater sagte: „Man muss es ihr nur erklären. Dann geht sie schon nicht ran.“

Typisch für Vater. Er ist ein großer Erklärer. Kann mich manchmal nervös machen. Ich weiß schon alles, aber er erklärt’s mir noch einmal. Mutters Warnung ist berechtigt. Wer Marlies kennt, der weiß auch, dass sie, obwohl sie kaum mit der Nase an das Balkongeländer ranreicht, gerne einen Blick über das Geländer riskieren möchte. Die fünfjährige Krabbe schiebt sich einfach eine leere Kiste ran, nicht auszudenken.

So sagte ich zu Marlies: „Mach keinen Quatsch, du. Ich kann dir sagen, da bleibt nichts mehr übrig von dir, wenn du da runtersegelst. Hast du gehört? Bist nicht auf unserer Terrasse in Potsdam, Mädchen. Dort betrug der Höhenunterschied zum Rasen zwanzig Zentimeter.“

Sie sah mich an mit ihren blauen Augen. Wer hat bloß in unserer Familie solche blauen Augen? Mutter? Ihre gehen mehr ins Grüne. Vater? Völlig unbestimmbar und dazu die Brille. Bruder Werner? Da habe ich mir noch nie Gedanken gemacht, wozu auch. Und jetzt war’s schwer, das nachzuholen. Werner schaukelte auf einem Wachboot vor Rügen. Bei dem Wetter. Wind von Nord, muss schwere See sein. Die werden ganz schön durchgeschüttelt auf dem Kasten. Ist ja auch egal, was Werners Augen für eine Farbe haben.

Also am dritten September stand ich auf dem Balkon und wartete auf Mutter und Marlies. Ich wollte ihnen zuwinken.

Nach unserem neuen Familienfahrplan waren die beiden die ersten, die das Haus verlassen mussten. Bis zum Sommer, draußen in Potsdam, ging’s umgekehrt lang. Erst zog Vater ab, er lief bis zu seiner Hochschule. Das wäre Medizin gegen Kreislauf- und Herzbeschwerden, sagte er und hielt lange Vorträge darüber. Die sind, ich muss das gerechterweise zugeben, für mich immer langweilig. Was ist überhaupt der Kreislauf? Und gibt es so was wie Herzbeschwerden? Ich war der zweite in Potsdam, der gehen musste, das heißt, ich schmiss mich auf mein Rad. Nur fünf Minuten Weg hatten Mutter und Marlies.

Eigentlich war in Berlin alles aus der gewohnten Ordnung gekommen.“

Erstmals 1976 veröffentlichte Günter Görlich im Kinderbuchverlag Berlin „Der blaue Helm“ – gedacht für Leser von 8 Jahren an: Einen Helm zu besitzen ist der sehnlichste Wunsch des Jungen – Charlies Blauer muss es sein! Diese unüberlegte Tat bringt dem Jungen Mirko viel Kummer – und als er sich endlich entschlossen hat, den Helm zurückzubringen, kann Mirko den jungen Bauarbeiter nicht finden. Ob es ihm gelingen wird, Charlie doch aufzuspüren? Gleich zu Beginn sieht es jedenfalls so aus, als sei Mirko kurz vor seinem Ziel:

1

Auf einmal ist für den Jungen die große Gelegenheit gekommen. Der blaue Helm könnte ihm gehören.

Der Junge muss nur aufstehen von der zerrissenen Matratze und zum Bauwagen hinüberrennen. Dort liegt auf einer Holzbank der blaue Helm, fällt auf mit seinem Glanz in der Reihe zerschrammter Helme, deren Farbe gewiss einmal weiß gewesen war.

Die Männer, denen die Schutzhelme gehören, gehen rasch auf einen Bagger zu, der einsam inmitten des weiten Baugeländes steht. Es muss irgendetwas passiert sein – von dort hat jemand gerufen.

Unter den schweren Schritten der Männer wirbelt Staub auf. Rissig und ausgetrocknet ist der Boden. Im Junimonat hat es nicht einmal geregnet. Die Männer sprachen darüber, der Junge hat es gehört. Sie waren besorgt, sie befürchteten, der Grundwasserspiegel könne gesunken sein. Das Bohren würde dann erschwert werden.

Einer widersprach, ein großer, junger Mann, er trägt langes, blondes Haar und hat einen rötlichen, wirren Bart.

„Leute, im Frühjahr ist doch viel von oben heruntergekommen, hat uns gar nicht gepasst, den ganzen Mai über, erinnert euch mal.“

Diesen Rotbart nennen die anderen Charlie. Und ihm gehört der blaue Helm. Wenn er den aufsetzt, sieht er recht abenteuerlich aus.

Der Junge bewunderte den jungen Mann – der Wunsch, den blauen Helm zu besitzen, wurde stärker und stärker.

Das blieb aber ein Wunsch, über den der Junge nachdenken konnte, ohne rot zu werden. Das Vorhängeschloss am Bauwagen war groß und stabil, und Charlie schloss jeden Tag nach Arbeitsschluss sorgsam den Schlüssel sogar zweimal herum.

Der Junge hatte es genau beobachtet.

Der blaue Helm ist sicher verwahrt im Bauwagen.

Einmal schlich der Junge, als die Männer gegangen waren, zum Bauwagen, schob die Holzbank heran und spähte durch das kleine Fenster in das Innere des Bauwagens.

Den blauen Helm konnte er nicht entdecken.

Dafür aber Frauenbilder an den Wänden, ausgeschnitten aus Zeitschriften, sehr bunte Bilder, Frauenköpfe, aber auch Frauen, die gar nichts anhatten. Das interessierte den Jungen nicht, er suchte den blauen Helm. Doch der lag irgendwo im Bauwagen versteckt und war durch das Fenster nicht zu sehen.

Und das Vorhängeschloss vereitelte sowieso von vornherein alle Pläne.

Das war vor zwei Tagen am Abend gewesen.

Heute aber leuchtet der Helm zum Greifen nahe in der Sonne.

Der Junge steht von der Matratze auf, schüttelt Sand und dürres Gras von seinem Hemd, zieht die Turnhose hoch, und seine braunen, mageren Beine setzen sich in Bewegung. Sie laufen den Hügel hinab, überspringen einen Eisenträger, der noch vor wenigen Monaten das Dach einer Schrebergartenlaube stützte, bis die Planierraupen kamen und die Kleingartenanlage „Heimatfrieden“ wegschoben.

Der Junge stolpert über eine sperrige Kiste, die er nicht bemerkt hat, weil er seinem Ziel so nahe ist, den blauen Helm fast in der Hand hält. Wie kann er in diesem Augenblick auf eine halbverfaulte Kiste achten. Doch der Junge ist gelenkig und fällt nicht hin.

Mit einem Sprung ist er am Bauwagen, streckt die Hände aus nach dem begehrten Helm – und zögert.

Auch aus dieser Nähe kann der Junge keinen Kratzer auf der Farbhaut des Helmes entdecken. Ob Charlie täglich seinen Helm so blank reibt?

Wenn er jetzt den Helm nimmt?

Und was wird Charlie machen? Der Mann wird bald zurückkommen und den Verlust entdecken. Er braucht doch den Helm, alle tragen Helme, das muss bei dieser Arbeit sein.

Bald wird wieder aus dem dreibeinigen Bohrbock die Stahlhülse niedersausen, in die Erde hinein, Schlamm herausholen, und das Bohrloch wird tiefer und tiefer. Der Junge hat das in den letzten Tagen genau beobachtet. Noch klingen ihm Charlies Kommandos in den Ohren: „Nun los, Männer. Und jetzt. Nicht müde werden, Leute, nicht müde werden.“

Die Männer schwitzten und schimpften. Und sie lachten auch.

Einmal trieb die Neugier den Jungen sehr nahe zur Baustelle heran, er wollte alles genau sehen.“

Erstmals 1981 erschien ebenfalls im Kinderbuchverlag Berlin „Das Mädchen und der Junge“ von Günter Görlich: Du hast einen Freund?, fragt die Lehrerin. Ja. Und das macht dir zu schaffen? Nein, sagt Katrin entschieden, das macht mir überhaupt nicht zu schaffen. Es ist neu für dich, sagt Frau Rumke. Alles ist anders geworden, sagt das Mädchen leise. Ja, das kennt man. Überrascht blickt Katrin die Frau an, die zum Fenster hinaussieht. Die Lehrerin sagt: Eine Freundschaft oder Liebe kann Ansporn sein. Aber in der Liebe darf man sich nicht selbst aufgeben! Ich geb mich doch nicht auf, protestiert Katrin. Das merkst du vielleicht gar nicht, erwidert Frau Rumke. Als ich studierte, ging es mir ebenso. Ich kannte mich selbst nicht mehr. Es ging vorüber. So kann man nur reden, wenn man alt ist, denkt Katrin. Vorüber? Alles fängt ja erst an …

Und dieses Buch fängt mit einem Unfall an:

1.

Sie wird nach ihrem Namen gefragt und nach der Adresse.

„Katrin Schumann“, sagt sie, „Schumann ohne h, Simon- Dach-Straße, im vierten Stock. An der Warschauer Brücke, wissen Sie.“

„Weiß ich“, sagt die Frau, die das aufschreibt, unwirsch.

Die Frau scheint in Eile zu sein, will vielleicht zum Mittagessen, es ist kurz vor zwölf.

„Wie alt?“, fragt sie.

„Vierzehn“, sagt Katrin Schumann, „aber bald fünfzehn.“

Die Frau hinter dem Schreibtisch schaut sie zweifelnd an. „Vierzehn? Zwei Jahre älter würde ich sagen. Wie du aussiehst.“

Was hat die bloß, denkt Katrin, hab ihr doch nichts getan. Schließlich ist das ihre Arbeit, ich bin ja nicht zum Spaß hier. – Wie die ihre Fingernägel angemalt hat, lila. So was hab ich noch nicht gesehen.

Katrin ist unsagbar müde und kann sich nicht aufregen. Unter anderen Umständen wäre sie der Frau eine Antwort nicht schuldig geblieben.

Das Mädchen hat eine Spritze bekommen, die zu wirken beginnt. Zwei hat man ihr gegeben, eine gegen Wundstarrkrampf und eine zur Beruhigung, damit die Schmerzen nachlassen, wie der Arzt sagte.

Der hatte sich ganz anders verhalten als die Frau hier, sehr behutsam den Verband gelöst und gesagt: „Gleich haben wir’s, noch ein kurzer Ruck. Das ist aber eine Wunde. Wie ist das passiert?“

„Ein Schlittschuh, die Kufe“, erklärte Katrin gepresst, denn es tat verdammt weh. Aber gestöhnt hatte sie nicht. Es ist nicht die Art der Katrin Schumann, gleich zu jammern, wenn mal was passiert.

Der Arzt behandelte die Wunde und legte einen neuen Verband an. Er tröstete das Mädchen: „Wenn Sie Hosen tragen, fällt es gar nicht auf. Sie werden ein bisschen humpeln, der Schmerz vergeht nach ein paar Tagen. Es ist eine tiefe Fleischwunde. Hätte schlimmer kommen können. Eine Kufe kann den Knochen zerschmettern. Kommen Sie in drei Tagen wieder. Ich verschreibe Ihnen ein paar Tabletten. Sie hätten ruhig ein bisschen weinen können, das hilft manchmal.“

So der Arzt. Und die Frau hier? Die fährt fort im Verhör. „Vater, Mutter, Vornamen. Arbeitsstellen?“

„Dieter Schumann, mein Vater. Arbeitet im Reichsbahnausbesserungswerk an der Warschauer. Meine Mutter heißt Marianne. Arbeitet in der Glühlampe. Am Band. Leuchtstoffröhren. Wie die überm Waschbecken.“

„Und die Glühlampe ist auch an der Warschauer, wie?“

„Ja, auf der anderen Seite.“

„Nun wissen wir ja Bescheid, alles an der Warschauer“, sagt die Frau. Erneut spürt Katrin den gereizten Ton und möchte nun doch fragen, warum die Frau so mit ihr spricht.

Die sagt jetzt gleichgültig: „Bring das nächste Mal den Versicherungsausweis mit. Den hat man möglichst immer in der Tasche.“

Die Frau ist aufgestanden, stellt sich vor den Spiegel, lässt die Leuchtstoffröhre aufflammen und geht mit ihrem Gesicht dicht an das Spiegelglas heran, sie muss kurzsichtig sein.

Katrin steht auf, und die Schmerzen lassen sie zusammenzucken. Sie humpelt zur Tür und weiß wieder einmal, dass es solche und solche Leute gibt.

Wenn draußen vor dem Arztzimmer nicht einer auf sie warten würde, könnte sie sehen, wie sie nach Hause kommt. Hoffentlich hat der keine Mücke gemacht.

Im langen Flur wartet der Junge. Er hat sie hergebracht, und er ist es auch, dem sie die Wunde verdankt. Aber schuld war er nicht, nein, wirklich nicht. Er zog seine Bogen und Schleifen auf dem Eis, und Katrin war beeindruckt davon. Doch weil eine Katrin Schumann träumte, passierte der Zusammenstoß.

Dieser Junge also wartet vor der Tür und springt auf, als das Mädchen herauskommt. „Mann, siehst du blass aus“, sagt er.

Sieht aber nicht weniger blass aus, der Junge.

„Geht schon“, sagt Katrin, „bloß die Hose ist hin. Ist wohl nicht mehr zu flicken.“

„Wir kaufen eine neue“, sagt der Junge, „natürlich. Wozu haben meine Eltern eine Versicherung.“

Sie stehen sich gegenüber und werden auf einmal verlegen. Sie kennen sich vielleicht eine Stunde. Länger ist der Zusammenstoß auf dem Eis nicht her. Katrin schlug hin und spürte zunächst nichts, dann durchfuhr sie ein schneidender Schmerz.

Der Junge trug sie an den Rand der Eisfläche. Mit einer Mullbinde verband er recht und schlecht die Wunde, holte sein Moped und fuhr sie hierher in die Poliklinik.

„Ich bring dich nach Hause“, sagt der Junge.

Er trägt eine graugrüne Kutte und verwaschene Jeans. Seine blonden Haare sind nicht zu lang. Und im Augenblick erscheinen seine Augen ganz groß. „Wo musst du hin?“, fragt er.

„Simon-Dach-Straße. Du musst bis zur Allee und dann bis Ostkreuz. Ich sag dir Bescheid.“

„Ich hole lieber eine Taxe. Das Moped ist nicht gut gefedert. Jedenfalls nicht für jemand, der eine Wunde am Bein hat.“

„Taxe? Viel zu teuer.“

„Unsinn. Nach Hause musst du.“

„Ich halt das aus. Die Spritze wirkt schon. Ich hab keine Schmerzen mehr.“

„Wenn’s so ist“, sagt der Junge zögernd, „fahren wir also.“

Beim Auftreten hat sie doch Schmerzen, und der Junge, der sie besorgt beobachtet, fasst sie unter, und sie ist ihm dankbar dafür.“

So beginnt vielleicht eine Liebesgeschichte. Und wir Leserinnen und Leser dürfen sehr gespannt sein, wie es mit der Geschichte von dem Mädchen und dem Jungen weitergeht, die auf eher unglückliche Weise begonnen hat. Wird es vielleicht tatsächlich eine Liebesgeschichte? Wie fast immer in seinen vielen Kinder- und Jugendbüchern, die zum Vergnügen und zum Nachdenken geschrieben sind, interessiert sich Görlich auch in „Das Mädchen und der Junge“ für die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. Und diese Qualität hängt wesentlich von zwei Faktoren ab – von den jeweiligen Menschen selber, aber zu einem nicht weniger schwerwiegenden Teil von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie leben, arbeiten und eben lieben – dürfen oder manchmal auch müssen.

Viel Vergnügen beim Auswählen und Kaufen, vor allem aber beim Lesen der heutigen Sonderangebote dieses Newsletters, weiter einen schönen Sommer und schöne Ferien und schönen Urlaub  – mit oder ohne 9-Euro-Ticket – und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

Und eine Frage bleibt noch: Wie war eigentlich Günter Görlich immer wieder auf den Judo-Sport gekommen, den zumindest zwei seiner (allerdings männlichen) Helden betreiben?

Übrigens, auch der nächste Newsletter, der am kommenden Freitag, dem 15. Juli 2022, erscheint, ist ein kompletter Günter-Görlich-Newsletter. Und sein unmittelbarer Nachfolger, der für den darauffolgenden Freitag, dem 22. Juli 2022, angekündigt ist, ist auch nicht anders. Aber warum auch?

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital war vor 27 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.200 Titel. E-Books sind barrierefrei und Bücher werden klimaneutral gedruckt.

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