Hunderttausende Rosenblätter wirbeln durch die Luft und bedecken die Piazza wie ein überdimensionaler Teppich. Tausende Frauen und Männer in sardischer Tracht säumen den Platz und die Altstadtstraßen der sardischen Hauptstadt, geben der verehrten Statue des Santo Efisio Geleit. Mit Musik und gesungenen Rosenkränzen. Mit Reiterparaden und von Ochsen gezogenen Karren. In einer feierlichen Prozession wird die Heiligenstatue aus der Kirche im Stadtviertel Stampace ins 65 Kilometer entfernte Nora getragen. In dem kleinen Küstenort war Ephysius von Cagliari, der Überlieferung zufolge ein Soldat der Leibwache des römischen Kaisers Diokletian, im Jahr 305 als Christ den Märtyrertod gestorben. Um Beistand flehten die Gläubigen den als Heiligen verehrten schon in mancher Notlage an. Im 17. Jahrhundert, davon sind Gläubige überzeugt, hat Ephysius seine Stadt vor der Pest bewahrt.
Seither, fast 400 Jahre nun schon, feiern die Menschen in Cagliari in den ersten Maitagen ein großes Fest zu Ehren des Heiligen. Der Auszug der Sant’Efisio-Statue aus der Kirche am 1. Mai bildet den Auftakt der Feierlichkeiten. Anschließend folgen Tausende Gläubige der Prozession auf dem Küstenweg nach Nora, wo dem heiliggesprochenen Märtyrer eine Kirche geweiht ist, und retour. Zwei Tage dauert der Hin-, zwei Tage der Rückweg. Am Nachmittag des 4. Mai kehrt die Statue begleitet vom Jubel der Menge an ihren angestammten Platz in der Kirche zurück. Pandemiebedingt wurden die Feierlichkeiten von Geistlichen in 2020 und 2021 in aller Stille unter Ausschluss der Öffentlichkeit begangen. In diesem Jahr aber dürfen die Menschen das Bildnis des Heiligen wieder umarmen, küssen und zu Zehntausenden auf ihrem großen Ausflug begleiten.
Ein fröhliches Volksfest gehört immer dazu
Dass es nicht nur andächtig zugeht, dass nicht nur is goccius, die sakralen Gesänge der Sarden ertönen werden, dass es ein fröhliches Treiben gibt, sobald die Heiligenstatue die Stadt verlassen, ist eine fest in der sardischen Kultur verankerte Tradition. „Religiöse Feste auf unserer Insel gehen oft mit einem großen bunten Volksfest einher“, sagt Ottavio Nieddu, Experte und Förderer der sardischen Volkskultur. Und so erklingen in Cagliari zu Sant’Efisio 2022 auch wieder die launeddas. Die Blasinstrumente aus Schilfrohr begleiteten die Prozessionen und Tänze der Sarden schon seit drei Jahrtausenden.
Wer in den ersten Maitagen in Cagliari weilt, wird auch die canti a tenore hören, die uralten Hirtengesänge, bei denen meist vier Männerstimmen ein A-Capella-Orchester bilden. Und auch die canti a chitarra, die sich unter spanischer Herrschaft auf der Insel entwickelt haben, bereichern die sardische Kultur im Allgemeinen und das Ephysius-Fest im Speziellen.
Sassaris Marien-Prozession ist UNESCO-Kulturerbe
Authentische Atmosphäre und Lebensfreude pur kann man aber auch bei den vielen anderen religiösen Festen auf Sardinien erleben. In allen Teilen der Insel und zu jeder Jahreszeit wird irgendwo zwischen dem Capo Spartivento im äußersten Süden und La Maddalena, der nördlichen Inselspitze, ein Heiliger oder eine Heilige mit Eifer und Enthusiasmus, mit Musik und Gesängen – und natürlich mit kulinarischen Spezialitäten – gefeiert. Am 15. Mai lohnt es, in Olbia vorbeizuschauen, wenn die Stadt San Semplicio ehrt. Am 13. Juni dreht sich in Sorso in der Provinz Sassari alles um den Heiligen Antonius von Padua. Am 23. Juni gibt man sich im kleinen Ort Aggius, ebenfalls in der Provinz Sassari, zu Ehren San Giovannis ein Stelldichein. Am 29. Juni feiern die Bewohner des malerischen Hafenstädtchens Carloforte auf einer vorgelagerten Insel an der sardischen Südwestküste ihren Schutzpatron San Pietro. Das Fest für La Nostra Signora delle Mercede bietet Anfang August (1. bis 7.8.2022) einen Grund mehr, Alghero, Sardiniens „katalanische Stadt“, kennenzulernen.
Impressionen und Emotionen in Hülle und Fülle bieten sich auch, wenn in Sassari Mitte August La Faradda di li Candareri, die große Marien-Prozession, begangen wird. Riesige Holzkerzen, geschmückt von den Handwerksgilden, werden durch die Straßen manövriert. Seit 500 Jahren zelebriert man in Sassari das Marienfest in nahezu unveränderter Weise. Heute zählt es zum Welterbe der UNESCO. Im September bietet Stintino in der Provinz Sassari Gelegenheit, sich von dem Kult rund um die Santissima Maria Immacolata bezaubern lassen. Mit dem Fest der Heiligen Madonna des Sklaven am 15. November, zu dem auch wieder die Hafenstadt Carloforte lädt, neigt sich der Kalender der größten und schönsten religiösen Feste seinem Ende zu. Aber schon im Januar beginnt mit kleineren, jedoch nicht minder suggestiven Ephysius-Festen in Cagliari und im nahegelegenen Pula der Jahresreigen aufs Neue.
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