Vom 28. Februar bis zum 2. März findet in Nairobi (Kenia) die fünfte Tagung der Umweltversammlung der Vereinten Nationen (UNEA 5.2) statt. Aufgrund einer Initiative des International Panel on Chemical Pollution (IPCP) und eines Resolutionsentwurfs mehrerer Länder soll dort auch die Einrichtung eines globalen wissenschaftlich-politischen Gremiums für Chemikalien, Abfälle und Verschmutzung diskutiert werden. Etwa 50 namhafte Wissenschaftler:innen aus Europa, Nord- und Südamerika, Asien, Afrika und Australien unterstützen diese Pläne in einem gemeinsamen Statement. In einem in der Fachzeitschrift Environmental Sciences Europe veröffentlichten Artikel benennen sie wichtige Aufgaben, denen sich ein solches Gremium widmen sollte. Dazu gehören (1) die Verbesserung der Datengrundlage im Hinblick auf die Chemikalienbelastung der Umwelt, insbesondere in den datenarmen Regionen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, (2) die Fokussierung auf das gesamte Spektrum gefährlicher Stoffe und ihrer Gemische und nicht wie bisher auf einige wenige Einzelsubstanzen, (3) die Einnahme einer "One Health" Perspektive, die die Belastung von Mensch und Ökosystem im Zusammenhang sieht und (4) die Arbeit an Lösungsansätzen für das Gesamtsystem, statt der isolierten Bearbeitung einzelner Probleme, die oft nur zu deren Verlagerung auf andere Regionen oder Chemikalien führt. Prof. Werner Brack, Umweltchemiker am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) und Professor an der Goethe-Universität Frankfurt hat diese unterstützende Initiative koordiniert. Im folgenden Interview erläutert er die Hintergründe.

Prof. Brack, wie ordnen Sie die Gefahren der weltweiten Verschmutzung durch Chemikalien ein?

Sehr hoch! Wie beim Klima und der Biodiversität hat die weltweite Chemikalien- und Abfallbelastung einen Punkt erreicht, wo teils Grenzen der Belastbarkeit irreversibel überschritten sind. Es besteht dringender Handlungsbedarf, umso mehr, weil die Probleme bisher weder von der globalen noch von der nationalen Politik ausreichend angegangen wurden. Vorrangig haben wir es mit zwei Problembereichen zu tun: Langlebigen Chemikalien wie Polychlorierten Biphenylen (PCB), die größtenteils vor langer Zeit, also vor allem zwischen den 1960er und den 1980er-Jahren in die Umwelt eingebracht wurden und nur in sehr langen Zeiträumen wieder verschwinden. Leider gehören dazu auch Stoffe wie Polybromierte Flammschutzmittel oder Perfluorierte Chemikalien, die bis in die jüngste Vergangenheit in großen Mengen eingesetzt wurden bzw. noch immer eingesetzt werden. Dazu kommen viele andere Stoffe wie moderne Pestizide und Pharmazeutika, die zwar etwas weniger langlebig sind, uns aber durch kontinuierlichen Austrag und hohe Wirksamkeit vor enorme Herausforderungen und Probleme stellen. 

Eine Initiative fordert die Etablierung eines globalen wissenschaftlich-politischen Gremiums für Chemikalien und Abfälle analog dem Weltklimarat und dem Weltbiodiversitätsrat. Sie unterstützen mit Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt die These, dass die Grenze der Belastbarkeit des Planeten mit chemischer Verschmutzung bereits überschritten ist. Woran machen Sie das fest?

Zuerst einmal hat das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) einen ersten zusammenfassenden Bericht veröffentlicht, in dem es die Verschmutzung durch Chemikalien und Abfälle zusammen mit dem Klimawandel und dem Verlust der biologischen Vielfalt als die drei vorrangigsten globalen Probleme benennt.

Diese Feststellung basiert auf dramatischen Entwicklungen: Denn es gibt ein ganz enormes Wachstum bei den Produktionsmengen und der Vielfalt der Chemikalien. Die Mengen an weltweit eingesetzten Pestiziden haben sich beispielsweise seit 1970 versiebenfacht. Die Steigerungsrate der Produktion und des Einsatzes chemischer Stoffe ist alarmierend und übertrifft die der meisten anderen Indikatoren wie Bevölkerungswachstum, Kohlendioxidemission und landwirtschaftliche Nutzung.

Ein Indikator für die "Überschreitung" von Grenzen der Belastbarkeit ist beispielsweise, dass langlebige organische Schadstoffe weltweit nachgewiesen wurden – beim Menschen und in seiner Nahrung, in aquatischen Organismen, selbst an den entlegensten Orten wie Polarregionen, in Hochgebirgsseen, Küstengewässern und Tiefseegräben.  Das ist ein unumkehrbarer Prozess mit möglicherweise gravierenden Auswirkungen.

Zudem werden neue Stoffe in Mengen und einer Vielfalt in die Umwelt abgegeben, die die Möglichkeiten der Bewertung und Überwachung geschweige denn der Beseitigung all dieser in die Umwelt ausgetragenen chemischen Stoffe bei weitem übersteigen. Bekanntestes Beispiel ist sicherlich das Plastik in den Weltmeeren, welches niemand mehr zurückholen kann.

Ein weiteres Beispiel: Über die Hälfte der weltweiten Schwertwal-Populationen ist akut bedroht, weil die im Gewebe der Tiere gefundenen Konzentrationen an Polychloriertem Biphenylen Fortpflanzung und Immunsystem der Tiere beeinflussen. Diese langlebigen Stoffe sind seit 2001 weltweit verboten, wurden aber in langen Zeiträumen in den Nahrungsketten angereichert mit besonders hohen Konzentrationen an deren Enden. Und hier stehen eben langlebige Meeressäuger wie der Schwertwal. Auch regional sind Grenzen überschritten: Chemikalienbelastung ist in Europa zu etwa einem Drittel für den fast flächendeckend unzureichenden ökologischen Zustand der Gewässer verantwortlich. 

Deshalb plädieren wir für ein systematisches Monitoring von Trends und die Einrichtung von Frühwarnmechanismen zu Risiken durch Chemikalien und Abfälle. Sofortige Maßnahmen zur Verringerung der globalen chemischen Verschmutzung sind unerlässlich und müssen sich auf solide wissenschaftliche Erkenntnisse und Daten stützen, die von einem übergreifenden Gremium aus Wissenschaft und Politik zusammengestellt und kritisch bewertet werden. 

Wo liegt der größte Bedarf an internationaler Forschung. Wie ist der Stand der Forschung national, in Europa und weltweit?

Der Bedarf ist enorm und betrifft alle Regionen der Welt. Für den Großteil der Chemikalien, die wir in der Umwelt finden, fehlen verlässliche Daten zu deren Wirkung.

Ein weiteres gravierendes Problem sind Chemikalienmischungen. Bewertungen werden für Einzelchemikalien vorgenommen. Wir wissen aber, dass die Stoffe in der Mischung oft additiv wirken. Ihre Wirkung in den hochkomplexen Mischungen aus tausenden von Stoffen in Mensch und Umwelt ist aber weitgehend unbekannt. Dazu kommen andere Faktoren im Zusammenhang mit dem globalen Wandel von Temperaturerhöhung bis zur Ausbreitung von Krankheitserregern, die die Wirkung verstärken können. Da wissen wir vieles nicht! 

Chemikalienbelastung in der Landwirtschaft vor allem in Form von Pestiziden und Dünger ist für den Rückgang der Biodiversität verantwortlich. Sie trägt zum Insektensterben und zum Artenrückgang bei. Sie führt zu einem drastischen und besorgniserregenden Schwund der Biomasse von Fluginsekten, was wiederum die Bestäubung vieler Pflanzenarten in der Natur sowie die Nahrungsmittelproduktion, den Nährstoffkreislauf und die Nahrungsquellen anderer Arten wie etwa von Vögeln bedroht. In Weltregionen wie Asien, Afrika oder Südamerika ist die Belastung durch Pestizide oft noch deutlich höher, aber es gibt nur wenige verlässlichen Daten. 

Wie wichtig die globale Chemikalienforschung ist, zeigt ein Beispiel aus den USA: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der University of Washington haben herausgefunden, dass der Abrieb von Reifengummi an der nordwestlichen Pazifikküste zu massivem Lachssterben führt. Die Substanz 6PPD-Quinon als eine von 2 000 Substanzen im Reifenabrieb gelangt bei starkem Niederschlag mit dem Straßenabfluss über Gräben in Bäche und Flüsse, ist hochgiftig für die Lachse und führt dazu, dass sie ihre Laichplätze nicht mehr erreichen können. Beunruhigend ist, dass die Reifenzusammensetzung weltweit sehr ähnlich ist. 

Kurzum: Wir müssen dringend das vorhandene weltweite Fachwissen bündeln und mobilisieren, um auf die schwerwiegende Bedrohung der Menschheit durch die zunehmende Chemikalienbelastung zu reagieren. 

Welche Gruppen von Chemikalien bzw. welche Umweltbelastungen durch chemische Verbindungen werfen die gravierendsten Probleme auf?

Hormonell wirkende Verbindungen, Plastik und Plastik-Additive, Pestizide, perfluorierte und andere persistente Chemikalien, aber auch Pharmazeutika sind da zu nennen. Zu letzteren gehören beispielsweise Schmerzmittel, die seit Jahren zunehmend von den Menschen eingenommen und über das Abwasser wieder in die Umwelt gelangen. Oder durch die unsachgemäße Entsorgung von Altmedikamenten. Es ist bekannt, dass beispielsweise das Schmerzmittel "Diclofenac" vom menschlichen Körper nur etwa zur Hälfte genutzt wird und die ausgeschiedenen Reste Nierenschäden bei Fischen hervorrufen können. Die Anwendung von "Diclofenac" bei Kühen und Ochsen in Indien und Pakistan hat zum fast vollständigen Aussterben der Geier geführt, die deren Kadaver gefressen haben. Nach dem Verbot des Stoffs in der Tiermedizin sehen wir eine langsame Erholung der Populationen. 

Schätzungen gehen davon aus, dass im Jahr 2015 etwa 9 Millionen vorzeitige Todesfälle weltweit auf Krankheiten zurückzuführen sind, die von chemischen Verschmutzungen ausgehen. Um welche Krankheiten handelt es sich dabei?

Mehr als 50 Prozent der Todesfälle ergeben sich aus extremer Luftbelastung bzw. Smog – das Problem ist ja aus Städten wie Peking oder Neu-Delhi bekannt. Diese Belastungen verursachen beispielswiese Lungenkrebs und Herzkreislauferkrankungen, an denen Menschen dann sterben. Es gibt weitere dramatische Entwicklungen, die eine globale und schleichende Pandemie durch neurotoxische Stoffe darunter Metalle, persistente organische Schadstoffe und organische Lösungsmittel vermuten lassen. Führende US-Experten für Kindergesundheit und Umweltschadstoffe konnten in ihren Forschungsergebnissen zeigen, dass Schadstoffe dazu beitragen, dass Störungen der Gehirnentwicklung und Schädigungen des Nervensystems bei Kindern weltweit dramatisch zunehmen. Das reicht von klinisch diagnostiziertem Autismus über Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen und Lese-/Rechtschreibschwäche bis hin zu weniger klar definierten Beeinträchtigungen der Gehirnfunktion. Die Zahl dieser entwicklungsschädigenden neurotoxischen Stoffe hat sich in wenigen Jahren verdoppelt, aber niemand kennt das ganze Ausmaß.

Antibiotika sind ein weiteres Problem. Prognosen australischer Kolleginnen und Kollegen zufolge wird die Zahl der jährlichen Todesfälle, die auf antibiotikarestente Bakterien zurückzuführen sind, bis zum Jahr 2050 etwa 10 Millionen erreichen und damit die Zahl der Todesfälle durch Krebs, HIV und anderer Krankheiten noch übertreffen. 

Es gibt auch positive Beispiele für wirksame Gegenmaßnahmen: Die Verbannung von verbleitem Benzin hat in den USA den IQ bei Kindern um 2 bis 5 Prozent erhöht – der daraus resultierende wirtschaftliche Nutzen wird auf 200 Milliarden US-Dollar geschätzt. 

Vor welchen spezifischen Schwierigkeiten steht die Forschung zu Belastungsgrenzen von Chemikalien und Abfällen?

Es gibt mehr als 350.000 Industriechemikalien auf dem Markt und eine unendliche Zahl von Mischungen dieser Stoffe in der Umwelt. Dazu kommt eine enorme Vielzahl von Angriffspunkten und Wirkmechanismen im Organismus. Da sind zeitlich und räumlich hochkomplexe Prozesse im Gang. Das Entschlüsseln von Ursache-Wirkungsbeziehungen kann im Einzelnen sehr kompliziert und mit beträchtlichem Aufwand verbunden sein. Die großen Trends lassen sich aber gut erkennen. Unsicherheiten im Detail sollten also nicht dazu führen, nicht zu handeln, wie es Teile der chemischen Industrie propagieren. Dabei hat der Mangel an Daten oft mit dem Verhalten der Chemieindustrie selbst zu tun, die die in ihren Produkten und bei der Produktion eingesetzten Substanzen als Betriebsgeheimnisse der Öffentlichkeit nicht zugänglich macht. 

Inwieweit beeinflussen und überlagern sich die drei großen Herausforderungen Klimaschutz, Erhalt der biologischen Vielfalt und Verminderung der Chemikalienbelastung? 

Der Klimawandel bringt beispielsweise viele Altlasten in die Umwelt, weil hochbelastete Sedimente aus den 1970er- und 1980er-Jahren bei den zunehmenden Hochwasserereignissen durch Aufwirbelung wieder nach oben gelangen. Gleichzeitig werden durch das Abschmelzen von Gletschern dort gebundene Chemikalien freigesetzt. Organismen müssen sich mit steigenden Temperaturen, neuen Krankheitserregern und invasiven Arten auseinandersetzen und sind damit oft umso schlechter gegen die Chemikalienbelastung gerüstet. Alles steht also in engem Zusammenhang und sollte auch so betrachtet werden.

Publikation:
Werner Brack et.al: One Planet – one Health: A Call to Support the Initiative on a Global Science-Policy Body on Chemicals and Waste. Environmental Sciences Europe (in press) https://www.ufz.de/index.php?de=36336&comaapi_loadpage=1&comaapi=getfile_263056/directoutput

Deutsche Übersetzung:
One Planet – one Health: Die Initiative für ein globales wissenschaftlich-politisches Gremium für Chemikalien und Abfälle benötigt Unterstützung https://www.ufz.de/index.php?de=36336&comaapi_loadpage=1&comaapi=getfile_263055/directoutput

Weitere Informationen:
Tagung der Umweltversammlung der Vereinten Nationen UNEA 5.2: https://www.unep.org/environmentassembly/

Über Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH – UFZ

Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt und erarbeiten Lösungsoptionen. In sechs Themenbereichen befassen sie sich mit Wasserressourcen, Ökosystemen der Zukunft, Umwelt- und Biotechnologien, Chemikalien in der Umwelt, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg circa 1.100 Mitarbeitende. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.
www.ufz.de

Die Helmholtz-Gemeinschaft identifiziert und bearbeitet große und vor allem drängende Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft. Ihre Aufgabe ist es, langfristige Forschungsziele von Staat und Gesellschaft zu erreichen. Damit sollen die Lebensgrundlagen der Menschen erhalten und sogar verbessert werden. Helmholtz besteht aus 19 naturwissenschaftlich-technologischen und medizinisch-biologischen Forschungszentren.
www.helmholtz.de

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