Auch wenn die 39. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für NeuroIntensiv- und Notfallmedizin (DGNI) und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) nicht wie geplant in Ludwigsburg stattfinden konnte, sondern digital durchgeführt wurde, gelang auf der ANIM 2022 wieder ein überaus vielfältiger und anregender wissenschaftlicher Austausch der neuromedizinischen Fachrichtungen sowie dem Pflege- und Therapiebereich. Die Beiträge des DGNI-Vorstandes und mehrerer Referenten wurden live aus dem Conventus-Studio in Jena übertragen. Insgesamt erlebten 929 Teilnehmer über 70 Vortrags- und Postersitzungen, mit insgesamt 260 Vorträgen und 56 ePostern, übertragen in jeweils bis zu sechs parallelen Streams. Ärzte, Wissenschaftler, Therapeuten und Pflegefachkräfte diskutierten vom 20. bis 22. Januar 2022 interdisziplinär und berufsgruppenübergreifend zwischen Forschung und Praxis der Neurologischen und Neurochirurgischen Intensivmedizin. 

„Alle hier Beteiligten sind wieder mit exzellenten Ideen an den Start gegangen, um gemeinsam die relevanten Fragen für uns zu stellen und zu klären, voneinander zu lernen und kritisch zu diskutieren. Streiten wollen wir vor allem für die Zukunft der NeuroIntensivmedizin im Dienste unserer Patienten!“ eröffnete Tagungspräsident Prof. Dr. Oliver W. Sakowitz, Ludwigsburg die Veranstaltung. DGNI-Präsident Prof. Dr. Julian Bösel, Kassel, betonte bei der Kongresseröffnung, COVID-19 habe auch das Potenzial, andere wichtige Themen zu verdrängen und davon abzulenken. „Dazu gehört auch unsere ganz besondere Patientenklientel, der Patient mit schwersten Hirnschäden“. Umso mehr freue es ihn, dass bei der ANIM 2022 die „vielen Themen zu den ganz wichtigen und drängenden Themen der NeuroIntensivmedizin“ präsentiert werden. 

Personal auf der NeuroIntensivstation 

Von besonderer Bedeutung war die Organisation und Struktur der NeuroIntensivmedizin, für die DGNI einer der vier wichtigen Eckpfeiler in der Behandlung Schwersterkrankter. An welchen Stellen   die gesamtdeutsche neurointensivmedizinische Versorgungsstruktur immer noch ausbaufähig ist, wurde unter Vorsitz von Prof. Dr. Georg Gahn, Karlsruhe, und PD Dr. Patrick Czorlich, Hamburg, interdisziplinär beleuchtet.  

Dr. Oliver Kumpf, Berlin, gab einen Überblick über die aktuelle Forschungslage zu den Fragen: Gibt es eine wissenschaftliche Evidenz zur Personalbemessung im Bereich der Intensivpflege? Was sind die Möglichkeiten von Evidenztools? Problematisch sei vor allem die Methodik. Wichtige Endpunkte bei der Personalbemessung – das Entscheidende, so Kumpf – sind: zufriedene Mitarbeiter, zufriedene Patienten und Angehörige, die Kosteneffizienz sowie patientenbezogene Outcomes. 

Hoffnungsvolles Fazit von Dr. Peter Nydahl, Kiel, aus der Sicht der Pflegenden auf der Intensivstation: Mit Hilfe von Whiteboards und Checklisten werde die Kommunikation verbessert, Fehlerraten und Wartezeiten verringert. Zusammen mit den Nachwuchsorganisationen der DGN und der DGNC, den „Jungen Neurologen“ und den „Jungen Neurochirurgen“, wird weiter an Konzepten zur Unterstützung der Weiterbildung in der NeuroIntensivmedizin gearbeitet.  

Dr. Eileen Gülke, Hamburg, sprach sich für eine Flexibilisierung der neurologischen Weiterbildung aus. Für junge Neurochirurgen sei auch eine Stückelung der Intensivzeit von Vorteil, so Dorothea Nistor-Gallo, Erlangen: „Das Wissen würde hierbei immer wieder aufgefrischt und getestet.“ 

Prof. Dr. Gahn stellte zum Wunsch nach mehr interdisziplinärer Vernetzung in Aussicht, dass auf der nächsten ANIM 2023 Kooperationsprojekte zum Simulationstraining für Neuro-Notfälle live präsentiert werden sollen. 

Interprofessionelles Delir-Management auf der NeuroIntensivstation 

Dem Delir auf Intensivstationen, einem weiteren Schwerpunktthema der ANIM in diesem Jahr, widmeten sich gleich mehrere Symposien. Zu diesem Symptomkomplex stand im Symposium „Delir – Bedeutung und Assessment“ vor allem die Bedeutung des Delirs im Vordergrund, das durch Verwirrtheit, Aufmerksamkeits-, Orientierungs- und Bewusstseinsstörungen gekennzeichnet ist. Prof. Dr. Julian Bösel, Kassel, veranschaulichte in seinem Vortrag, wie folgenreich die Problematik des Delirs im Rahmen des Post-ICU Syndroms sein kann. Das Post-Intensive-Care-Syndrom (PICS) umfasst körperliche, kognitive und psychische Symptome, insbesondere verminderte Belastbarkeit, Muskelschwäche, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Die Bezeichnung „Durchgangssyndrom“ suggeriere eine passagere Erkrankung, so Prof. Bösel. Das Delir gehe jedoch mit einer erhöhten Letalität, einem längeren Krankenhausaufenthalt und einem schlechteren Behandlungsergebnis einher. „Die Differenzierung von Hirnschäden und Intensiv-Effekten bei Patienten der NeuroIntensivmedizin ist schwierig. Viele der Krankheiten, die wir auf der Neurointensivstation finden, bringen für sich schon 30 bis 40 Prozent kognitiven Abbau mit sich. Daher ist es schwierig zu differenzieren, was die Intensivmedizin dazu noch beiträgt.“ 

Da speziell Patienten im Delir ein höheres Sterberisiko aufweisen und gerade Pflegekräfte gute Chancen haben, erste Symptome mitzubekommen, kommt der Prävention eine besondere Bedeutung zu. Das stellt die Neurointensivstationen vor weitere Herausforderungen. Für eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Delir in der klinischen Praxis plädierte PD Dr. Joji B. Kuramatsu, Erlangen. In seiner Präsentation im Symposium zum interprofessionellen Delir-Management wies er darauf hin, dass akute Kognitionsstörungen oftmals noch als unvermeidliche Folgen der Schwere der Grunderkrankung angesehen werden oder als Auswirkungen der diversen auslösenden Faktoren der Umgebung auf der Intensivstation erscheinen. „Häufig gibt es noch eine diagnostische Unschärfe“, so Dr. Kuramatsu. In Summe gehe es um eine hohe Komplexität prädisponierender und präzipitierender Faktoren.  

Dr. Peter Nydahl, Kiel hob aus Sicht der NeuroIntensivpflege die interprofessionelle Herangehensweise im Delir-Management hervor: „Wer nach Medikamenten und Dosierungen fragt, hat Delir-Management immer noch nicht verstanden“, erklärte der Pflegewissenschaftler. „Die Zeit ist reif für interprofessionelles Training mit Ärzten, Therapeuten und Pflegenden.“ Mittels pflegerischer und medizinisch-therapeutischer Maßnahmen könne einem Delir effizient vorgebeugt werden. 

Präsidentensymposium mit spannenden Vorträgen 

Beim diesjährigen Präsidentensymposium erwartete die Tagungsteilnehmer eine Auswahl von drei hochaktuellen neuroIntensivmedizinischen Vorträgen. Prof. Dr. Norbert Weidner, Klinik für Paraplegiologie – Querschnittzentrum Universität Heidelberg, stellte den Stand der gegenwärtig laufenden NISCI-Studie „No-Go Inhibition in Spinal Cord Injury“ in Bezug auf traumatische Rückenmarkverletzungen vor. Untersucht wird, ob mithilfe einer Antikörpertherapie die Körperfunktionen sowie die Lebensqualität von querschnittgelähmten Patienten verbessert werden können. Dabei kommen spezielle Antikörper zum Einsatz, die Eiweiße blockieren, die wiederum das Nervenneuwachstum im Rückenmark behindern. Nach einer erfolgreichen Phase-I Studie, in der die Sicherheit des Wirkstoffs untersucht wurde, ist es das Anliegen der Phase-II-Studie zu belegen, inwieweit der Antikörper innerhalb von 28 Tagen nach Eintritt der Querschnittslähmung wirksam ist und sich eine Verbesserung motorischer Funktionen zeigt. „Bislang wurden 96 Patienten in die Studie aufgenommen. Wir hoffen, sie bis Ende des Jahres 2022 abschließen zu können“, gibt Prof. Weidner einen Ausblick. 

Im Anschluss hielt Prof. Dr. Jens Dreier, Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie an der Charité Berlin, seine Präsentation „Neues zu Streudepolarisationen nach SAB“ mit beeindruckenden Bildern und Videoaufnahmen zum Schlaganfallgeschehen nach Aneurysmablutungen. Aktuelle Daten der von ihm initiierten DISCHARGE-1, „Depolarizations in ISCHaemia after subARachnoid haemorrhaGE“, Studie stehen zur Veröffentlichung an. Diese legen nahe, dass dem Auftreten von Streudepolarisationenan der Gehirnoberfläche eine ernstzunehmende Warnwirkung für einen bevorstehende kritische Minderdurchblutung zukommt. 

„NeuroCOVID und seine Folgen in Europa“ war das Thema des dritten Redners PD Dr. Raimund Helbok von der Neurologischen Intensivmedizin und Neuroinfektiologie, Universitätsklinik für Neurologie Innsbruck. In einer länderübergreifenden Gesamtschau unterschiedlicher Untersuchungen gab er einen erhellenden Abriss erster Vermutungen, zum Teil kritisch zu beurteilender Veröffentlichungen und tatsächlicher Erkenntnisse mit dem abschließenden Appell, mit Blick auf die Pandemie wie gewohnt auf der Basis bewährter wissenschaftlicher Erkenntnisse zu agieren.  

Mit aktuellen Entwicklungen von COVID-19 in Bezug auf die NeuroIntensivmedizin beschäftigte sich auch die Präsentation von Prof. Dr. Julian Bösel, Kassel. Mit der Frage „Wo stehen wir, wo geht es hin?” gab er einen Überblick über internationale Untersuchungen der letzten zwei Jahre. Eine groß angelegte New Yorker Studie zeigte unter COVID-19-Patienten eine Häufigkeit von 13,5 Prozent mit neurologischen Manifestationen, assoziiert mit einer mehrfach erhöhten Krankenhausmortalität. Allerdings seien noch Case-Control-Studien erforderlich, um die Frequenz und Relevanz der Manifestationen zu belegen. 

Prognostication in Neurocritical Care – ein deutsch-amerikanisches Leitlinienprojekt  

Als einer der Höhepunkte der ANIM 2022 wurde erstmals das gemeinsame Leitlinienprojekt der DGNI mit der amerikanischen Neurocritical Care Society (NCS) vorgestellt. Das deutsch-amerikanische Projekt entsprang einer gemeinsamen Sitzung der DGNI und der NCS bei der ANIM 2018 zu Lücken bei der Prognostizierung von acht akuten neurologischen Krankheitsbildern. Unter dem Vorsitz von Dr. Katja Wartenberg, Leipzig, und ihrer amerikanischen Kollegin Prof. Dr.Susanne Mühlschlegel, Worcester, MA/ US, wurden die vorläufigen Ergebnisse der Leitlinie „Prognostication in Neurocritical Care“ präsentiert. Die Prognosefindung und -kommunikation ist als routinemäßiger Bestandteil der Versorgung für Patienten mit akuten neurologischen Erkrankungen immens wichtig. Ungeklärt ist die Frage nach den optimalen Prognosefaktoren und welche hierauf basierenden Modelle die Prognose am genauesten vorhersagen können. 

Fort- und Weiterbildung wird großgeschrieben 

Neben dem bewährten Austausch mit verwandten Fachgesellschaften waren auch die Fort- und Weiterbildungskurse wie der neu gestaltete dreitägige NeuroIntensivmedizin-Kompaktkurs mit insgesamt acht thematisch-geordneten Modulen und der ENLS-Kurs wieder gut besucht. Letzterer wurde von NeuroIntensivmedizinern, Anästhesisten, Neurochirurgen, Notärzten, Pharmakologen und Pflegekräften der NCS entwickelt und wird an einzelnen Kliniken in den USA bereits als Grundlage für die klinische Weiterbildung in der Neurointensivmedizin gefordert. Unter Leitung der ENLS-Trainerin Dr. Katja Wartenberg, Leipzig, besuchten 33 digital zugeschaltete Teilnehmer aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Polen den Reanimationskurs, um die Behandlung von 14 neurologischen und neurochirurgischen Notfällen während der kritischen ersten Stunden zu lernen.  

Zum ersten Mal fand in diesem Jahr während der ANIM die „Stroke Winter School“ der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) für das interprofessionelle Team der Stroke Unit statt. Für Assistenzärzte, Pflegende und Therapeuten ging es in dem Ganztageskurs um interessante Themen wie „Versorgung in Deutschland und international – historische Entwicklung und aktueller Stand” und „Frühe Förderung auf der Stroke Unit – Pflegekonzepte in der Vernetzung” sowie die Erfassung von Schmerzen bei Einschränkungen der sprachlichen Kommunikationsfähigkeit. 

Auszeichnungen mit Forschungsförderungspreisen  

Im Rahmen des Kongresses wurden wieder junge Ärzte, Pflegekräfte, Therapeuten und Wissenschaftler für herausragende Arbeiten im Bereich der Intensiv- und Notfallmedizin ausgezeichnet. DGNI-Präsident Prof. Dr. Julian Bösel zum NeuroIntensiv-Preis der DGNI und der DGN an PD Dr. med. Hermann Neugebauer, Würzburg: „Es waren mehrere hochkarätige Bewerber im Rennen. Für das Preis-Kuratorium war es eine Freude, die Auswahl vorzunehmen. Wir haben uns für einen Preisträger entschieden, der sich verdient gemacht hat um das Thema der raumfordernden Hirninfarkte und der noch ein weiteres vielfältiges neurointensivmedizinisches Oeuvre vorgelegt hat.“  

Der DGNI-Nachwuchsförderungspreis für innovative Forschungsprojekte in der NeuroIntensivmedizin 2022 wurde an Dr. Sae-Yeon Won, Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie, Universitätsmedizin Rostock, verliehen. Prof. Dr. Thomas Westermaier, Dachau, zweiter Vizepräsident der DGNI, ermutigte den Wissenschaftler, seine sorgfältig geplante Studie über die Bedeutung der supratentoriellen und infratentoriellen intrakraniellen Druckmessung bei Patienten mit einer Pathologie in der hinteren Schädelgrube nun mit Hilfe des Förderpreises in die Tat umzusetzen. 

Beim DGNI Pflege- und Therapiepreis setzte sich Shiney Franz, Göttingen, mit ihrem überzeugenden Vortrag „Interprofessionelle Teamarbeit auf neurologischen Frührehabilitationsstationen” durch. Preisträger der Posterpreise waren Sarah Reitz, Frankfurt, (1. Preis), sowie Carolin Beuker, Verena Rass, Helena Stengl, Monika Lindner und Julia Isakeit.  

Ausblick: ANIM 2023 in Berlin 

Die nächste Arbeitstagung NeuroIntensivmedizin findet vom 19. bis 21. Januar 2023in Berlin statt. Es ist die 40. Jahrestagung DGNI. Kongresspräsident Prof. Dr. Hartmut Vatter, Bonn, setzt in den Schwerpunktthemen zur NeuroIntensivmedizin wieder auf Originalität, Aktualität und Qualität. Weitere Informationen gibt es auf der Kongress-Homepage www.anim.de.  

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