In Deutschland leiden 2,7 Millionen Menschen an chronischen Wunden, Tendenz steigend. Die Problematik der komplexen und schlecht heilenden Wunde steht im Fokus des 04. Nürnberger Wundkongresses. Von Kernthemen wie dem diabetischen Fuß bis hin zu speziellen Herausforderungen wie großflächigen Verbrennungswunden steht erneut eine große Themenvielfalt auf dem Programm. Einen ersten Einblick in Schwerpunkte, Highlights und neueste Forschungsergebnisse der hochkarätigen interprofessionellen Tagung gibt Kongresspräsident Prof. Dr. med. Martin Storck, Direktor der Klinik für Gefäß- und Thoraxchirurgie am Städtischen Klinikum Karlsruhe und Präsident des Deutschen Wundrates (DWR) e. V. 

Herr Professor Storck, als Kongresspräsident haben Sie dem 04. Nürnberger Wundkongresses das Motto „Wundversorgung zwischen Kompetenz und Wissenschaft“ gegeben. Ist das ein Zwiespalt? 

Das Motto dieses Kongresses soll darauf hinweisen, dass die Wundversorgung in einem Spektrum zwischen Evidenz und Erfahrung/ Kompetenz erfolgt. Das Besondere in der Wundbehandlung ist doch, dass die Evidenz, also das gesicherte auf wissenschaftlichen Studien basierende Wissen, nicht so ausgeprägt ist wie in anderen Bereichen der Medizin. Die Wunde ist eine komplexe Symptomatik, hinter welcher sich sehr viele verschiedene Erkrankungen verbergen Die Leitlinie gibt im Wesentlichen Empfehlungen zur lokalen Wundtherapie, nicht aber zur Kausaltherapie der zugrundeliegenden Erkrankungen.

Es gibt eine S3-Leitlinie, die allerdings fast zehn Jahre alt ist… 

… und die in den letzten Zügen der Überarbeitung steckt. Die S3-Leitlinie zur Lokaltherapie chronischer Wunden befindet sich derzeit in einem von der AMWF überwachten Überarbeitungsprozess, an dem ich auch selbst beteiligt bin. Sie wird von der Deutschen Gesellschaft für Wundheilung und Wundbehandlung e. V. in Kooperation mit anderen Fachgesellschaften nach systematischer Literaturanalyse aktualisiert, so wie das alle fünf Jahre gefordert wird. Dieser Prozess ist extrem aufwändig und war durch Corona besonders erschwert. Auf dem Kongress ist ein aktueller Vortrag darüber vorgesehen, was sich ändern wird. Die Leitlinie selbst wird vermutlich zum Zeitpunkt des Kongresses noch nicht verfügbar sein, in jedem Fall aber wird sie so manche Diskussion triggern. Neben der deutschen Leitlinie gibt es auch eine Leitlinie der European Wound Management Association (EWMA) und sehr viele Konsensus-Statement, zum Beispiel zum Exsudatmangement.

Ein Vortrag beim Kongress trägt den Titel: Wird uns die neue Leitlinie in der täglichen Praxis helfen? – Kann die Antwort anders lauten als Ja? Also: Wie? 

Es geht dabei nicht um Krankheiten, die zur Wunde führen, sondern ausschließlich um Lokaltherapie. Die neue Leitlinie wird uns mehr Sicherheit bei der Auswahl der Wundauflagen geben. Sie wird aber auch einfordern, dass eine bestimmte Ausbildung und Weiterbildung erforderlich sind, um alles richtig zu machen. Sie wird uns auch insofern helfen, als dass sie bestimmte Dinge anspricht, die man nicht mehr tun soll, zum Beispiel Wundspülungen mit Leitungswasser oder Wasserstofflösungen, aber auch nicht mit Zinkleimverbänden oder Farbstoffen. Die Leitlinie gibt eine wertvolle Orientierungs-hilfe für die Wundbehandlung und sollte vor allem gelesen und umgesetzt werden!

Zum vierten Mal wird der Nürnberger Wundkongress durchgeführt, um Wissen auf neuestem Stand zu teilen, das professionelle Zusammenspiel aller Akteure zu justieren und die tägliche Versorgung der Patienten zu verbessern. Was ist das Besondere? 

Alle Akteure sind versammelt – das sind bei unserem interprofessionellen Kongress Ärzte, Pflege-berufe, Wissenschaftler, Forscher sowie zertifizierte Wundtherapeuten. Wir freuen uns über die hohe Beteiligung der kooperierenden Fachgesellschaften! Die Interprofessionalität wird durch insgesamt 22 Fachgesellschaften und Verbände zum Ausdruck gebracht. Insgesamt erwarten wir rund 1.400 Teilnehmer sowie 150 Referenten.

Mit Ihnen wird der Kongress erstmalig von einem Gefäßmediziner geleitet. Welche Schwerpunkte haben Sie gesetzt? 

Wir werden das gesamte Spektrum abdecken, alle Bereiche wie Diabetes, AVK, dermatologische und arterielle sowie venöse Erkrankungen, aber auch Verbrennungswunden und posttraumatische sowie immunologisch bedingte Wunden. Bei diesem Fachkongress ist für alle Beteiligten etwas dabei im Bereich Dermatologie, Venerologie, Verbrennungsmedizin, plastische Chirurgie und Gefäßchirurgie. Als Gefäßmediziner habe ich in diesem Bereich einen Schwerpunkt mit einigen Akzenten im Programm gesetzt, vor allem in der Gefäßmedizinischen Diagnostik, aber auch in der Wundtherapie. In der Forschung haben wir einen Schwerpunkt in der translationalen Wundforschung. Unsere Vizepräsidenten Frau Professorin Ewa Klara Stürmer, die auch unseren Kongress im nächsten Jahr leiten wird, ist in diesem Bereich Expertin für die Basisforschung mit klinischem Bezug. Ein wichtiger Schwerpunkt ist auch die Round Table-Diskussion „Gesetzliche Grundlagen zum Wirkungsnachweis von innovativen Wundauflagen“ mit kurzen Statements der Experten und Einbindung des Publikums. Das hat gleichzeitig auch einen positiven informativen Aspekt.

Inwiefern ist diese Round Table-Diskussion ein hochaktuelles und brisantes Thema? 

Wir versuchen zu klären, was mit dieser Verordnung bewirkt werden soll, was umsetzbar ist und was das für die zukünftige Wundversorgung bedeuten könnte. Es soll die Problematik diskutiert werden, wie man den geforderten Wirkungsnachweis in randomisierten Studien in der kurzen verbliebenen Zeit überhaupt durchführen kann. Zur Expertendiskussion mit Fragen aus dem Publikum stehen neben Prof. Dr. Ewa Klara Stürmer, Hamburg, und mir unter anderem Prof. Dr. Matthias Augustin, Direktor des Instituts für Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei Pflegeberufen (IVPD) Hamburg, Prof. Dr. Joachim Dissemond, Essen, Frau Cornelia Erfurt-Berge, Erlangen, Frau Veronika Gerber, Spelle, Dr. Thomas Karl, Bad Friedrichshall, und Dr. Karl-Christian Münter, Hamburg, als Diskussionsteilnehmer zur Verfügung. Zu einer innovativen Wundversorgung gehören unter anderem auch maßgeschneiderte Wundauflagen aus biomedizinisch einsetzbaren Materialien, die denen der Haut ähneln. Bei der Problematik des Wirkungsnachweises spielt es zum Beispiel auch eine Rolle, wie biologisch verträglich, haltbar und abbaubar solche Wundauflagen zur Versorgung chronischer und komplexer Wunden sind.

Es gibt eine Vielzahl noch nicht etablierter Ansätze in der Wundbehandlung. Auch wenn für sogenannte Biologicals wie Fischhautmatrix, Spinnenseide und Anderes Vergleichsmöglichkeiten fehlen – zeichnen sich im fachübergreifenden Erfahrungsaustausch Tendenzen zur Wirksamkeit ab? Wofür liegen schon evidenzbasierte Studien vor?  

Zum Beispiel Fischhautmatrix, medizinisch aufbereitete Fischhaut vom Kabeljau, ist ein sogenanntes „Biological“, diese sind in den USA schon häufig bei schlecht heilenden Wunden die Therapie der ersten Wahl. In Deutschland dagegen wird die Behandlung von den gesetzlichen Krankenkassen noch nicht vollständig refinanziert. Aber auch wenn eine Fischhautmatrix gegenüber einem einfachen Wundpflaster das Vielfache kostet, ist die Frage, ob das im Endeffekt nicht doch preisgünstiger ist, weil die Wunde schneller abheilt und ansonsten die Folgekosten viel höher sind – abgesehen davon, dass der Patient weiter unter der Wunde zu leiden hat. Eine randomisierte klinische Studie hat in Europa bereits begonnen.

Ein weiteres Produkt, das in mehreren Phasen der Wundheilung und bei schlecht heilenden Wunden eingesetzt werden kann, ist eine nicht mehr ganz neue Substanzklasse, ein sogenanntes Enzym-Alginogel. Diese Substanz wirkt lokal bakterizid, baut Beläge ab und ist nur alle 2-3 Tage aufzubringen. Es gibt auch hier Probleme mit der Erstattungsfähigkeit im ambulanten Sektor.

Was sind für Sie die Highlights des diesjährigen Kongresses? Was liegt Ihnen besonders am Herzen?  

Was mir am Herzen liegt, sind die unter anderem vom Deutschen Wundrat veröffentlichten Empfehlungen zu den Kompetenzleveln, wann welche Wunde von wem behandelt werden soll. Wir haben einen breiten Konsens in einer großen Expertengruppe erarbeitet, einen Kompetenzlevel. Die Kompetenz ist zusammen mit der Evidenz das Entscheidende bei der Wundversorgung. Wichtig ist, dass man den Patienten rechtzeitig an die richtigen Experten weiterleitet. Denn keiner kann alles leisten – das ist unsere Message. Wir brauchen die Kompetenzen verschiedener Berufsgruppen und Fachrichtungen.

Ins Programm geschaut: Zwei aufeinanderfolgende Vorträge einer Session lauten: „Die Wunde gehört in die Hände der Pflege!“ Und: „Die Wunde gehört in die Hände des Arztes/ Gefäßchirurgen!“ Können Sie diese Debatte erklären? 

Diese Thematik ist sehr wichtig, weil hier die Meinungen stark auseinandergehen. In verschiedenen Gesundheitssystemen wird das auch durchaus unterschiedlich praktiziert. Es sind zwei polarisierende Standpunkte, das haben wir extra so formuliert. Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte. Die Ärzte sollten schon ein Auge darauf haben, was die Pflege macht und umgekehrt. Es sollte auf jeden Fall eine ärztliche Beteiligung garantiert sein, dies steht auch zurzeit noch im Sozialgesetzbuch. In der Pflege gibt es hervorragende Wundtherapeuten, aber vorgeschaltet und begleitend bleibt auch die medizinische Diagnostik.

Digitalisierung in der Wundtherapie – Vom Minimum zum Optimum: Was müsste ein elektronisches Wunddokumentationssystem leisten, um alle Beteiligten zufrieden zu stellen? Was wären die Vorteile? Und was braucht es, um ein solches auf den Weg zu bringen? 

In diesem Bereich findet eine rasante technische Weiterentwicklung statt. Man braucht nicht nur ein Foto der Wunde, sondern verschiedene Parameter wie Wundtiefe und zum Beispiel auch den pH-Wert. Es müssen die Basis-Standard-Daten des Patienten miterfasst werden, die Diagnostik der Wunde und routinemäßige Intervalle, bei der Aufnahme der gleiche Abstand und die gleiche Ausleuchtung. Dazu gibt es spezielle Kameras, die das einfach gut ausleuchten, mit dem Laserstrahl den Abstand erfassen, dann kann man die Größe ausmessen und muss nicht immer das Zentimeter-maß vorhalten. Die Minimalstandards nach den Prinzipien der Telematik sind festgehalten zum Beispiel in dem Papier der AG Telematik Baden-Württemberg, wo das Thema mit vielen Details ganz genau beschrieben wird. Es gibt tatsächlich kein einheitliches Dokumentationsystem in Deutschland. Stattdessen haben wir vier Krankenhaus-Dokumentationssysteme, die nicht kompatibel sind, was für die intersektorale Dokumentation eine schier unüberwindbare Hürde darstellt. Hier benötigen wir eine politische Vorgabe mit einheitlichen Regelungen, ähnlich wie bei den digitalen Abrechnungsmodalitäten mit den Krankenkassen. Das sollte auf jeden Fall technisch möglich sein.

Wir bedanken uns sehr herzlich für das Interview! 

Alle Informationen und das wissenschaftliche Programm mit Vorträgen, Sitzungen, Workshops und umfangreichem Industrieprogramm sind auf der Kongress-Homepage www.wuko2021.de abrufbar.

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