Als man Karl Böhm in Wien sagte, man hätte die weltbeste Zerbinetta am Haus, aber es kenne sie keiner, hat er sie wenigstens noch angehört. Und danach engagiert. Und mit der Premiere »Ariadne auf Naxos« an der Wiener Staatsoper im Oktober 1976 ist eine Weltkarriere gestartet.

Als ich so Anfang 2002 Edita zum ersten Mal persönlich traf, um mit ihr im Kempinski in Berlin eine »Ariadne«-Aufführung in Barcelona zu besprechen, raunzte sie nur: Ich habe die Zerbinetta-Arie noch nie mit männlichen Statisten gemacht und habe das auch nicht vor. Ich setze entgegen: Liebe Frau Gruberova, ich habe ihre Zerbinetta in Bonn und in Zürich bestimmt zehnmal gehört, manchmal bin ich nur zu ihrer Arie ins Opernhaus gegangen, und was in meinem Herzen und in meinem Kopf geschah, als ich Sie erlebt habe, habe ich in Brüssel mit Elzbieta Szmytka und Tony Pappano inszeniert. Wenn ich dieses einmal im Leben mit Ihnen zusammenbringen könnte, wäre es mein höchstes Glück. Sie überlegte kurz, schob ihre große Brille auf der Nase zurecht und sagte dann: Na gut, versuchen wir es.

Als es dann zur ersten Probe in Barcelona kam, fragte sie: Wo ist das Double? Das war natürlich aus Ehrfurcht vor ihr weggeschafft worden. Also wurde das Double herbeigeschafft, Grubi sah sich das an, was mit zwölf Strandboys erarbeitet wurde, sie sollte um jeden girren, dann wurden Reihen gebildet, dann gab es eine komplizierte Tanzchoreographie, am Ende wurde sie in die Luft geworfen und wie Marika Rökk zum Tanzfinale gebeten. Sie sah sich das einmal an und sagte: Gut, ich mach das. Dann machte sie es, ohne Fehler, ohne Irritation. Aber Frau Gruberova, wie können Sie das? – Ich gucke mir nie was an, ich mache es immer im Geiste direkt, war ihre Antwort. Sie lebte alles, auch wenn sie es nur ansah.

In Barcelona war die siebenjährige Laura ihre größte Verehrerin. Sie hatte dutzende Male das »Hänsel und Gretel«-Video geguckt, mit Edita als Gretel. Du bist doch die Gretel, hat Laura sie begrüßt. Und die große Gruberova hat geantwortet, ja, ich bin die Gretel und Du auch, wir sind die Gretel. Und wann immer sie sich wiedergesehen haben, haben sie sich begrüßt mit: meine Gretel.

In Köln haben wir dann Arienabende gemacht, und ich konnte sie zu zwei konzertanten »Norma«-Aufführungen überreden. Mit Will Humburg und der in Köln leider dann schlecht behandelten Regina Richter als Adalgisa. Gruberova wurde an der Pforte nicht erkannt und ins Schauspiel von Karin Beier geschickt. Da irrte sie umher und ging in eine Garderobe, in der ein nackter Schauspieler stand. Sie stürzte aus der Garderobe und fand irgendwie den Weg zurück in die Oper, ich wartete schon ungeduldig auf sie, sie schrie nur: Ich trete heute nicht auf, was muten Sie mir zu, nackte Schauspieler, keiner kennt mich, was soll ich hier, zeigen Sie mir den Weg, wie ich aus diesem Irrenhaus wieder rauskomme, ich will hier nicht sein, ich will nur nach Hause. – Aber Frau Gruberova, alle warten auf Sie, wir sind doch nur Ihretwegen hier. – Na gut, dann lassen Sie mich etwas beruhigen, und dann sehen wir weiter… Sie sang vielleicht die zwei besten »Norma«-Vorstellungen ihres Lebens. Das Adrenalin stimmte …

Dann nochmal »Norma« in Wiesbaden. Erst ein Telefonat. Diese Inszenierung wollen Sie mir nicht im Ernst zumuten, das ist ein Verbrechen an »Norma«, das mache ich nicht. Dann meine Beschwichtigungen, alle Vorstellungen sind ausverkauft, alle kommen nur Ihretwegen, wollen Sie nicht doch …? – Na gut, ich komme, aber nur in meinem konzertanten Kleid, ich spiele diese Inszenierung nicht, ich mache das konzertant. Na gut, Nassauer Hof gebucht, konzertant. Zur ersten Aufführung dieselbe aufgebrachte Gruberova, hier, hier, hier, das Programmheft auf den Tisch werfend, was ist das für ein Bild? Es war Erika Sunnegårdh, die Premierenbesetzung, wir hatten das Programmheft nicht neu drucken lassen. Mit diesem Programmheft singe ich hier nicht. Wieder Beschwichtigung: Aber alle warten auf Sie, ausverkauft, wollen Sie wirklich? Na gut, dann natürlich, ich trete auf.

Sie hatte nach jeder Vorstellung einen Rück- und Hinflug nach und von Zürich. Dann rief sie mich an: Kann ich in Wiesbaden bleiben? Ich wusste gar nicht, wie schön die Stadt ist, ich würde gerne die ganzen Tage im Nassauer Hof verbringen und durch den Kurpark spazieren. Und übrigens finde ich die Inszenierung von dieser Claudia Rech, oder wie heißt die, Gabi? jedenfalls ist das gar nicht so schlecht. Ich lasse mir jetzt mal auf meine Kosten ein passendes modernes Kostüm schneidern, und dann spiele ich das auch. Und so geschah es. Sie spielte und sang es und erlebte in Wiesbaden dreizehn glückliche Tage.

Wir waren frohgemut, dass wir noch etwas zusammen machen müssen, aber das kam nicht mehr zustande. Nach der letzten »Norma«-Vorstellung in Wiesbaden hat sie sich 33-mal verbeugt, die letzten Male vor dem runtergelassenen eisernen Vorhang, durch eine sehr schmale Seitentür. Wirklich nochmal? Ja, nochmal.

Marcus war in der Pause gegangen. Er hatte den Glauben an die Stimme der Gruberova verloren. Er glaubte, das sei nicht mehr ihre Stimme. Aber ein Mensch hat seine Stimme bis zuletzt. Ein Mensch ist seine Stimme. Am Ende hat sie in Wiesbaden 40 Minuten Standing Ovations bekommen.

Sie hatte eine Stimme, die niemals verloren gehen wird.

Dahinter war ein Mensch, der niemals verloren geht.

Mit ihr sind Erinnerungen, die niemals verloren gehen.

Aber was zählt, ist der Augenblick, der Moment, in dem ein Ton erklingt und vergeht und eine lange Pause entsteht. Und dann fängt die Ewigkeit an, oder es kommt nichts mehr, oder Edita singt doch weiter… In unserer Erinnerung.

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