Bislang gibt es keine Möglichkeit, unterbrochene Nervenfasern zu reparieren, Querschnittlähmung zu heilen. Nun testen Ärzte im Rahmen der europäischen, multizentrischen NISCI Studie erstmals ein Medikament, welches Nervenfasern regenerieren lässt. Erste Ergebnisse zur Wirksamkeit werden beim Jahreskongress der DMGP erwartet. Wie wirkt das Medikament?
Es handelt sich um einen monoklonalen Antikörper, der nach frischer Rückenmarkverletzung bestimmte Mechanismen im Körper hemmt, die eine naturgemäße Heilung verhindern. Das heißt, die Abläufe im Körper nach akuter Rückenmarkverletzung sollen etwas gebremst werden, damit bestimmte Bereiche im Rückenmark sich erholen können.
Warum verhindert der Körper gezielt seine Regeneration?
Der menschliche Körper repariert sich in vielen Bereichen selbst, etwa bei kleineren Verletzungen oder Wunden. Aber im Bereich des Zentralnervensystems eben nicht. Warum, das wissen wir im Grunde nicht. Der Schweizer Neurowissenschaftler Prof. Martin Schwab hat herausgefunden, dass es Proteine gibt, die eine axonale Aussprossung geschädigter Nervenfasern aktiv blockieren. Darin liegt ein Schlüssel. Diese sogenannten Nogo-Proteine lassen sich jedoch mithilfe eines Antikörpers außer Gefecht setzen.
Wie muss ich mir die Therapie vorstellen?
Behandelt werden im Rahmen der Studie Patienten mit frischer Halsmarkverletzung, die höchstens 28 Tage zurückliegt. Die Patienten erhalten das Medikament über eine Lumbalpunktion, das heißt per Injektion direkt in den Spinalkanal. Es wird insgesamt sechs Mal verabreicht. Danach kann man im Moment nur beobachtet werden, wie die Patienten sich hinsichtlich ihrer Funktionen entwickeln. Hier werden wir beim Kongress erste Ergebnisse sehen. Sollte sich in den nächsten Monaten erweisen, dass Patienten, die mit dem Antikörper behandelt wurden, sich besser erholen, wäre das sensationell. Wir hätten endlich ein Medikament zur Hand, das tatsächlich nach Rückenmarkverletzungen helfen kann.
Ein Medikament, welches nach einem Unfall eine erworbene Lähmung wieder rückgängig macht?
Das wäre dann eher ein biblisches Wunder. Daran glaube ich nicht. Im Tierversuch sah man allerdings eine Verbesserung auf sogenanntem segmentalem Niveau, dem Niveau der Verletzung. Wenn ein Patient beispielsweise den Arm nur beugen kann, erreichen wir durch das Medikament eventuell die Fähigkeit, den Arm zu strecken oder gewinnen eine Handfunktion dazu. Für einen halsmarkverletzten Menschen ein enormer Unterschied! Hier gibt es Anlass zur Hoffnung, dass eine Verbesserung erreicht werden kann.
Sie haben dem dreitägigen Programm das Motto „Zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ gegeben. In welchem Spannungsfeld steht die Versorgung Querschnittgelähmter?
Wir sind medizinisch und technisch in der Lage, wahnsinnig viel zu leisten. Denken Sie an Hilfsmittel, Rollstühle, Sportmöglichkeiten für Querschnittgelähmte, an neue Medikamente, an exoskeletale Therapien – ein Füllhorn wirklich guter Möglichkeiten, die wir hätten. Andererseits kämpfen wir jeden Tag mit Personalmangel, Kostendruck, komplizierten Genehmigungsverfahren für Hilfsmittel und Problemen, hochhalsmarkverletzte beatmete Querschnittgelähmte in Rehabilitationen zu verlegen.
Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern?
Einerseits, dass Kostenträger zunehmend unsere Argumente hören, wenn es etwa um höherwertige Hilfsmittel geht. Dabei geht es um Aktivrollstühle, um Sitzkissen oder Matratzenversorgung und ähnliche Dinge, die auch dazu beitragen, Folgekosten zu verhindern. Wenn wir einem für Druckstellen hochgefährdeten Patienten ein höherwertiges Sitzkissen verordnen, aber nur ein wenige Hundert Euro einsparendes Schaumprodukt genehmigt wird, resultiert daraus womöglich ein Krankenhausaufenthalt von mehreren Wochen, weil lappenplastisch ein Dekubitalulkus gedeckt werden muss. Ein solcher Aufenthalt kostet zigtausend Euro. Ich würde mir einen Dialog wünschen, in dem uns als erfahrenen Behandlern mehr vertraut wird, dass wir die notwendigen, zweckmäßigen und sinnvollen Hilfsmittel für unsere Patienten auch auswählen. Auf der anderen Seite würde ich mir wünschen, dass wir als Fachgesellschaft dafür Standards entwickeln, die wir mit den Kostenträgern vorab diskutieren.
Wenn im Festvortrag auch „Dreams“ zur Sprache kommen: Wovon träumt die Wissenschaft?
Aus Sicht der Wissenschaft ist es natürlich ein großer Traum, dabei zu sein, wenn ein Medikament, das entwickelt wurde, sich in der Anwendung bewährt, wenn wir in einigen Jahren oder Monaten tatsächlich ans Bett treten und sagen können: Ja, Sie haben eine Rückenmarkverletzung erlitten, aber wir haben ein Medikament, das Ihre Chance auf eine funktionelle Verbesserung sehr deutlich erhöht.
Sie sprachen exoskeletale Therapien an, welche Hoffnungen sind mit den roboterhaften Geh-Orthesen verknüpft? Taugen sie je als Alltagsanzug?
Wir haben inzwischen tatsächlich Exoskelette, die rein technisch autonom gehen können, sie können nur nicht mit dem Körper, der drinsteckt, kommunizieren. Das zu kombinieren ist extrem schwierig.
Beim Rollstuhl ist Ihnen das in Bochum gelungen: Steuerung allein durch die Kraft der Gedanken…
Einen Rollstuhl über Hirnströme zu steuern, bedarf vergleichsweise wenig Aufwand, da man sich nur auf wenige „gedankliche Befehle“ konzentrieren muss: Der Rollstuhl fährt geradeaus, nach rechts oder links, stoppt. Laufen hingegen, auf unterschiedlichem Untergrund, mit Schrägen und Bordsteinen und was sonst sich in natürlicher Umgebung unter dem Fuß befindet, ist so unglaublich komplex. Das Problem ist: Eigentlich kombinieren wir hier zwei evolutionär unterschiedliche Entwicklungen. Alle Wirbeltiere, also auch wir Menschen, haben ein Endoskelett, unsere Muskeln liegen außen. Insekten haben ein Exoskelett. Es gibt viel Halt von außen – aber es passt nicht zu unserer Art von Bewegung. Darum gibt es inzwischen Forschung in Richtung sogenannter Soft-Exoskelette, bei denen man versucht, eher über Textilien zu arbeiten. Wenn sich das dann kombinieren ließe mit unserem Gehirn … Aber auch das ist Zukunftsmusik! Wovon unsere Patienten träumen, das sind dagegen ganz einfache Dinge.
Laufen gehört nicht dazu?
Natürlich träumen alle vom Laufen. Oder, sofern die Hände von der Lähmung betroffen sind, davon, sie nutzen zu können. Aber viel mehr sind es ganz basale Angelegenheiten, wie die Blasen- oder Darmentleerung, vom Katheterisieren und Abführmaßnahmen wegzukommen. Mit einem guten Rollstuhl sind Sie inzwischen in Mitteleuropa extrem mobil, Busse und Bahnen sind zugänglich, Sie kommen in jedes moderne Museum, Theater oder Fußballstadion. Aber überall haben Sie das Problem, wann Sie das nächste Mal eine Toilette benötigen werden.
Gibt es ein Kongressthema, auf das Sie besonders gespannt sind?
Am meisten gespannt bin ich auf das Thema Livestyle und Kinderwunsch. Das ist ein Bereich, der in unserer eigentlichen Rehabilitation bislang ein bisschen kurz kommt. Wir machen die Patienten fit für ihr Leben, aber irgendwann tauchen Fragen auf wie: Wohin kann ich in den Urlaub fahren? Was brauche ich? Hat jemand Erfahrung, wo ich am besten ins Wasser komme? Wo Paragliding oder Tauchen für Rollstuhlfahrer möglich ist? Welche Kliniken helfen querschnittgelähmten Männern mit Kinderwunsch? Welche entbinden querschnittgelähmte Frauen? Für solche Fragen müssen wir uns besser vernetzen, unseren Patienten und deren Angehörigen mehr Wissen an die Hand geben.
Herzlichen Dank für das Interview!
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