Was bleibt eigentlich übrig von einem Menschen, wenn er nicht mehr da ist? Wer denkt an ihn? Wer vermisst ihn? Denkt überhaupt jemand an ihn? Vermisst ihn überhaupt jemand? Das sind Fragen, die sich im dritten der insgesamt fünf aktuellen Angebote stellen, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 21.05. 21 – Freitag, 28.05. 21) zu haben sind. „Im Schloss zu Mecklenburg und anderswo“ erzählt Walter Kaufmann Storys von gestern und heute“. Darunter auch die von jenem „Menetekel“ und dem einsamen Tod eines Seemannes.

In „Ein blindes Pferd darf man nicht belügen“ erzählt Katharina Schubert von Hubert und einem kleinen Dorf in der Eifel fernab des Weltgeschehens, jedenfalls scheinbar fernab des Weltgeschehens.

Um die Verantwortung von Wissenschaft und Wissenschaftlern geht es in dem bei aller Utopie sehr gegenwärtigen SF-Roman „Mimikry“ von Alexander Kröger.

Wie kommt man zu Geld? Zu viel Geld? Eine sozialistische Möglichkeit dazu wird in dem sehr spannenden Krimi „Der Sog – ein tödliches Ultimatum“ von Jan Flieger beschrieben.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Wieder steht ein Blick zurück auf dem literarischen Programm. Der heutige Beitrag kann wiederum als ein Hohelied auf den mutigen Widerstand gegen den Faschismus verstanden werden – und als ein aus eigener Erfahrung des Autors schöpfender Bericht darüber, wie schwierig sich dieser Kampf mitunter gestaltete:

Erstmals 1962 veröffentlichte Hasso Grabner seine Erzählung „Der Mann mit der gelben Tasche“ im Deutschen Militärverlag Berlin: Dem deutschen Kommunisten Karl kann man zwar die Sabotage in dem Rüstungsbetrieb nicht nachweisen, aber er wird verdächtig und deshalb 1944 an die Front geschickt. Im Partisanenkrieg in Griechenland kommt er in Gewissenskonflikte, weil er nicht zum Mörder am griechischen Volk werden will. Wichtige Dokumente der Partisanen will er diesen übergeben, was an mangelnden Sprachkenntnissen und fehlendem Vertrauen scheitert. Als die Partisanenführung zwei Partisanen losschickt, um Karl und die Papiere zu suchen, wird es lebensgefährlich für die zwei. Auch Karl ist nicht allein im Erschießungskommando. Hier ein spannender Auszug auf dem Buch, in dem Karl in doppelte Schwierigkeiten kommt:

„Karl war die taktische Wendung, die das Gefecht anzunehmen schien, nicht gleichgültig. Dort drüben hatten sich die Partisanen auf Wurfnähe an die Deutschen herangearbeitet. Es gab gewiss Tote und Verwundete. Seine Sympathien waren bei den Partisanen. Sie sollten siegen. Gleichzeitig aber konnte sein Herz nicht wünschen, dass deutsche Landsleute starben. Das war ein schreckliches Dilemma, aus dem es keinen Ausweg gab, keinen geben konnte. Je näher die Reihen aufeinandertrafen, desto mehr wurde er sich der Ausweglosigkeit seiner moralischen Lage bewusst. Er kannte nicht viele der deutschen Soldaten, die da drüben lagen, war er doch erst kurze Zeit bei der Truppe, aber mit einigen hatte er schon ein wenig Fühlung gehabt. Gutmütige und Grobiane waren darunter, Dummköpfe und Nachdenkliche, aber alle hatten sie auf ihre Art vom Krieg die Schnauze voll. Wem hätte er mit gutem Recht den Tod wünschen dürfen? In den ersten vierzehn Tagen hatte Karl oft davon geträumt, mit vielen, ja möglichst mit allen Kameraden überzulaufen. Dann hatte er erstaunt einsehen müssen, dass ihm das noch nicht einmal allein so ohne weiteres möglich war. Gleich nachdem er in Saloniki zur Kompanie Dürrstein gekommen war, waren sie aufgebrochen und Tag für Tag von Ort zu Ort gezogen. An irgendeine Verbindung zur griechischen Bevölkerung war gar nicht zu denken, geschweige denn zu Partisanen. Von solchen hatte er seine Kameraden nur immer reden hören, und das noch in sehr widerspruchsvoller Weise. Er selbst hatte noch keine gesehen, so sehr er auch wünschte, es möge recht viele geben, schon, um so schnell wie möglich überlaufen zu können. Bis jetzt jedenfalls konnte er das Vorhandensein von Partisanen nur schlussfolgern. So wäre man zum Beispiel von Saloniki aus nicht in nordwestlicher Richtung marschiert, der fernen Stadt Skoplje entgegen, weil schon starke jugoslawisch-griechisch-bulgarische Partisanenverbände den Raum bis zum Prespasee beherrschten, wussten die Kameraden zu erklären. Jetzt schien auch der nordöstliche Weg unsicher geworden zu sein. Hatte doch die Truppe einen auffälligen Bogen um die Stadt Drama gemacht, den Boz Dag umgangen und schlich nun auf Saumpfaden die Ausläufer der südlichen Rhodopen hinauf. Lechleitner, der mit seinen guten Informationen gern prahlte, sprach von der Absicht der Deutschen, die Straße Xanthi–Plovdiv zu erreichen. Der mehrtägige Aufenthalt in diesem Bergdörfchen sollte wohl dazu dienen, jenen vielleicht letzten Verbindungsweg zum noch einigermaßen gesicherten deutschen Machtbereich freihalten zu helfen.

In der heutigen Nacht wurde Karl nun die Existenz massiver Partisanenverbände bewiesen. Was tun? Auf die Frage fand er trotz allen Grübelns keine Antwort. Gab es eine Möglichkeit, mehr zu tun, als nur in die Luft zu schießen? Jetzt überzulaufen wäre ganz unmöglich. Der Lechleitner hätte ihn nach fünf Metern mit der MPi durchlöchert. Vielleicht konnte man liegenbleiben, wenn das Gefecht zu Ende war? Unwahrscheinlich, sehr unwahrscheinlich, wenn er an Franz Czirwinskis beflissene Kameradschaft dachte. Seufzend gestand sich Karl ein, aus dieser Lage wohl nicht mehr als das gute Gewissen retten zu können, wenigstens auf keinen wirklichen Kameraden, auf keinen Partisanen geschossen zu haben.

Ein Kompaniemelder hastete heran. Befehl: Seitengewehre aufpflanzen. Lechleitner lachte.

Das ist doch ein Idiot, dieser Kompanieheini. Als ob einer seiner Männer nach monatelangem Rückzug zu Fuß noch solch eine Plempe hätte! Trotz dieser stillen Überlegung gab er den Befehl sofort mit lauter Stimme weiter. Jetzt war das Lachen bei den Männern. Eine despektierliche Haltung, die nicht geduldet werden durfte, denn nun kam der Befehl von ihm. Zum Glück fiel dem Unteroffizier ein, gestern noch bei dem Neuen ein solches Käsemesser gesehen zu haben. „Haltet das Maul, ihr Idioten, glaubt ihr, es gibt nur solche Schlumpschützen wie euch? Los, Neubauer, zeig’s ihnen, pflanz auf!“

Karl stieg ob dieses Lobes die Schamröte ins Gesicht. Die anderen mussten ihn für einen besonders strammen Preußen halten. Morgen spätestens würde er das Ding verlieren. Jetzt aber musste er es aufpflanzen, obwohl er sich mit dieser martialischen Bewaffnung noch lächerlicher vorkam.

Lechleitner war’s zufrieden und äußerte seinen Seelenzustand, indem er ein Magazin seiner MPi verschoss. Um dieses für ihn feuerwerkartige Vergnügen recht zu genießen, streute er seinen Kugelregen in weitem Bogen aus. Dabei geriet sein Blick halb nach rückwärts. Für eine Sekunde blieb ihm das Herz stehen. Partisanen! Den Steilhang mussten sie erstiegen haben, den er als zuverlässige Flankendeckung angesehen hatte. Sein Gefühl, dass der Rabatz am rechten Flügel nur ein Scheinangriff war, hatte ihn nicht betrogen. Das alles jagte ihm blitzartig durch den Kopf. „Feind von links“, brüllte er auf, riss ein neues Magazin aus dem Futteral und ballerte los. Tack, Tack, Tack – das Partisanenmaschinengewehr erhob seine Stimme. Die Kugeln prasselten in die Steine, zwischen denen die Lechleitner-Gruppe lag. Querschläger sirrten böse durch die Luft. Ein Mann sprang auf und brach nach zwei Schritten zusammen. Lechleitners Kaltblütigkeit rettete für Sekunden die Lage. Seine Salve zwang die in langen Sätzen anstürmenden Partisanen zu Boden. Ihre Absicht misslang, die Gruppe im Lauf durch Handgranaten zu vernichten. Nun mussten sie an den Boden gepresst ihre Eier werfen, wodurch die Treffsicherheit wesentlich gemindert wurde. Katzengleich hatten die Deutschen die Stellung gewechselt. Sie lagen, nun das Gesicht dem Gegner zugewandt, und eröffneten ein rasendes Feuer. Am reaktionsschnellsten war Franz Czirwinski. Er packte den vor Entsetzen fast bewegungsunfähigen Neubauer am Koppel und riss ihn mit brutaler Kraft herum.

„Schieß, Mensch, jetzt geht’s um den Arsch!“, brüllte er den Kameraden an.

Ein fürchterlicher Stich durchfuhr Karls Herz. Wie eine Hammermühle dröhnte sein Kopf. Jetzt brach zusammen, was er sich eben tröstend ausgemalt hatte. In der flammenzuckenden, rauen Wirklichkeit der ringsum detonierenden Handgranaten zerbrachen alle Illusionen. Ihm war so elend zumute, dass er den Kopf auf die Erde legte und sterben wollte. Ein Hagel von Handgranatensplittern prasselte auf seinen Stahlhelm. Die Hände fühlten glühend heiße Stiche. Der Lebenswille riss ihn hoch. Da stürmten die Partisanen an. Die Deutschen sprangen auf und schossen im Stehen in die anrollende Woge hinein. Auch Karl zielte jetzt auf einen der dunklen Schatten, drückte ab, zielte ein zweites Mal und schoss wieder.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Nesletters:

Erstmals 1997 erschien im tabu Verlag München der Roman „Ein blindes Pferd darf man nicht belügen“ von Katharina Schubert: Das Leben in der Eifel ist hart für die Bauern im frühen 20. Jahrhundert. Auch der Junge Hubert muss neben der Schule auf dem kleinen elterlichen Hof mithelfen, der die vielköpfige Familie nur knapp ernährt. Am liebsten fährt er mit Großvater Johann auf dem Hundewagen. Als sie für die tote Großmutter einen Baum pflanzen, kann Hubert sich nicht vorstellen, dass er selbst einmal ein alter Mann mit Enkeln sein wird. Doch wir können es nachlesen, Huberts Leben in dem Dorf Kambach, das keineswegs fernab des Weltgeschehens liegt und das Hubert während fast eines Jahrhunderts nur dreimal verlässt …

Hier der Anfang des Romans:

Kindheit

Bäume für die Toten

„Mach Platz, Hubertchen.“ Großvater Johann schob den Jungen zur Seite. Mit einem Spaten lockerte er den Boden um einen kleinen Baum, der dem Kind bis zur Nasenspitze reichte. Obwohl er noch keine Blätter hatte, wusste Hubert, dass es eine Buche war.

Geschickt hob der Großvater das Bäumchen aus der Erde. „So, jetzt kannst du mit anfassen.“

Sie wollten es für die verstorbene Großmutter vor ihrem Haus einpflanzen. So war es Brauch.

Zusammen trugen sie die junge Buche zum Waldweg. Dort warteten Fritz und Bello, Großvaters Bernhardiner. Sie waren vor einen vierrädrigen Karren gespannt. Als sie Großvater und Enkel kommen sahen, begannen sie zu wedeln.

„Willst du zurückfahren?“, fragte der Großvater.

Was für eine Frage! Hubert strahlte.

Sie luden das Bäumchen auf. Dann setzte sich Hubert auf den Platz, auf dem Großvater sonst saß, und los ging die Fahrt. Es war ein schöner Frühlingstag im April des Jahres 1914.

Die Sonne hatte schon richtig Kraft. Bald würden die Bäume wieder in vollem Grün stehen.

Hubert schien es, als ob Eichen, Buchen und Tannen links und rechts des Weges nur so an ihnen vorbeifliegen würden.

Auch den Hunden machte es Spaß. Sie liefen von ganz allein. Er musste sie nicht antreiben.

„Brav, brav“, lobte er sie. Großvater Johann saß neben ihm und rauchte seine Pfeife. Hubert spürte, wie er ihn beobachtete. Aber er kannte sich aus mit Hunden, obwohl er erst sechs Jahre alt war. Das hatte er vom Großvater gelernt.

Solange Hubert denken konnte, fuhr der Großvater morgens mit seinem Hundekarren vom Hof. Er kaufte bei den Bauern in der Umgebung Eier, Butter, im Sommer auch Obst und Gemüse und verkaufte alles auf dem Markt in der Kreisstadt wieder. Oder er fuhr zu den Arbeitern, die die Eisenbahnstrecke bauten. Das waren vielleicht verrückte Kerle. Große, starke Männer mit dunklen Augen und vielen Tätowierungen auf ihren Armen, Viele kamen aus Kroatien, einem fernen Land. Sie vermissten ihre Familien und fühlten sich fremd in dieser Gegend. Wenn Hubert den Großvater begleitete, freuten sie sich. Sie zeigten ihm, wie man Schienen verlegte, und versprachen, dass auch hier bald eine Dampflok fahren würde.

Inzwischen fuhr die Dampflok auf den Schienen, aber Hubert konnte den Großvater nicht mehr auf seinen Touren begleiten. Seit Ostern ging er nämlich zur Schule. Doch daran wollte er im Augenblick nicht denken.

Vor ihnen lag Kambach. Als sie auf die holprige Dorfstraße bogen, nickte der Großvater dem Enkel augenzwinkernd zu.

Hubert steifte sich auf das Brett. „Schneller, schneller!“‘ Die Hunde legten sich ins Zeug. Aus allen Ecken des Dorfes kamen Kinder angerannt. Sie liefen neben dem Karren her und feuerten die Hunde an. An der alten Linde wurden Fritz und Bello langsamer. Dann bogen sie rechts ab. Beide kannten den Weg zum Hof genau.

Vor dem kleinen Haus mit seinem schiefen Dach, den winzigen Fenstern und der bröckelnden Lehmfassade stand Paula, Huberts jüngste Schwester, und popelte. „Es ist gemein, dass ich nicht mitdurfte", beklagte sie sich, ohne den Finger aus der Nase zu nehmen.

„Gib den Hunden Wasser“, lenkte Großvater Johann sie ab. Während er und Hubert die Hunde ausspannten, lief Paula zu einem Eimer, der vor dem Stall stand, und kippte Wasser in einen großen flachen Holznapf. Sofort rannten Fritz und Bello zu ihr und tranken. Paula konnte man kaum noch sehen. Sie war nicht viel größer als die beiden.

Im Stall muhten Frida und Erna, die beiden Kühe. Sie warteten darauf, gemolken zu werden.

Außerdem besaß die Familie Theisen noch drei Schweine, ein halbes Dutzend Hühner und Kaninchen sowie zwei Ochsen, aber die waren mit dem Vater unterwegs.

Im Winter schliefen die Bernhardiner im Kuhstall. Großvater Johann mochte das nicht. Hunde, die nach Kuhmist rochen! Aber da er sie nie festband, schafften sie es immer wieder, ihn zu überlisten.

Hubert ging zum Großvater, um ihm beim Einpflanzen der Buche zu helfen. Aber der war schon fertig und trat die Erde gerade fest.

„Buchen werden groß und alt. Man darf sie nicht zu dicht ans Haus pflanzen. Sonst nehmen sie einem später das Licht.“ Er lächelte. „Irgendwann wirst du mit deinen Enkelkindern unter dieser Buche spielen.“

Dieser kleine Baum sollte mal so groß werden wie die Buchen im Wald? Und Hubert ein Großvater mit Pfeife im Mund und Enkeln? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Er holte Wasser und goss das Bäumchen.

Großvater Johann stand, auf den Spaten gestützt, daneben. Seine Gedanken waren weit weg.

„Sei nicht traurig, Großvater. Bald wirst du die Großmutter wieder sehen. Der Herr Pastor hat es versprochen“, sagte Hubert und drückte seine Hand. Er erinnerte sich noch gut an jenen eisigen Februarabend. Großvater Johann, Huberts Vater und seine großen Brüder Wilhelm und Franz hatten am Küchentisch Karten gespielt. Seine Mutter und die älteren Schwestern versorgten das Vieh im Stall. Hubert und Paula saßen mit der Großmutter neben dem Ofen. Sie strickte Strümpfe und erzählte ihnen Geschichten.

Hubert liebte diese langen Winterabende in der engen, warmen Küche. Und ganz besonders liebte er Großmutters spannende Geistergeschichten, bei denen Paula sich immer gruselte.

Plötzlich stöhnte die Großmutter. Die Stricknadeln fielen ihr aus der Hand. Sie schnappte nach Luft und stürzte zu Boden. Mit offenen Augen lag sie da und starrte gegen die Decke. Ein dünner Blutfaden rann aus ihrem Mund. Paula schrie so laut, dass Mutter und Schwestern sofort aus dem Stall gelaufen kamen. Als sie die Großmutter sahen, fingen sie zu weinen an.

Großvater saß wie gebannt auf seinem Stuhl. Plötzlich legte er seine Pfeife auf den Tisch, stand auf und kniete sich ruhig neben die Großmutter. Er schloss ihre Augen, streichelte ihr Gesicht und küsste ihre Stirn. „Du warst mir eine gute Frau, Therese. Ich danke dir.“

Dann begann er zu beten.

Die Großmutter war tot.

Immer, wenn einer der Alten gestorben war, wurde ein Baum für ihn gepflanzt. Weil etwas bleiben sollte von ihm. Meist nahmen die Menschen eine Buche oder Eiche, weil die so groß und alt wurden. Großvater Johann hatte das schon von seinem Großvater gelernt.

Im Laufe der Jahre war so ein Eichen- und Buchengürtel um das Dorf herumgewachsen, der die Häuser im Winter vor den eisigen Stürmen schützte. Die Früchte wurden an das Vieh verfüttert. Wenn das Brennholz im Winter nicht reichte, wurde auch mal ein Baum gefällt. Doch immer wieder wurden neue gepflanzt. Nur wenige pflanzten die Bäume in ihre Gärten, weil sie dort zu viel Platz wegnahmen. Der aber wurde gebraucht, um Gemüse anzubauen. Denn im Dorf lebten alle von dem, was sie für sich und ihre Tiere anbauten und ernteten. Fehlte ihnen etwas, tauschten sie beim Krämer Blume im Nachbarort Gieberg: Eier gegen Salz, Butter gegen Hosenknöpfe, Kartoffeln gegen Petroleum.

Huberts Vater wollte deshalb nicht, dass die Buche in den Garten kam und stritt darüber mit Großvater Johann. Der ließ sich nicht beirren. „Solange ich lebe, will ich bei jedem Blick aus dem Fenster an meine Therese denken. Die Buche kommt in den Garten, sobald der Frost aus dem Boden ist.“

Der Vater murrte, wagte aber nicht, sich gegen den Großvater durchzusetzen.

Hubert freute sich heimlich jedes Mal, wenn sein Vater dem Großvater gehorchen musste. Seine Geschwister und er mussten immer das tun, was ihr Vater sagte. Gehorchten sie nicht, gab es Schläge.

„Genug Wasser, Hubertchen“, sagte Großvater Johann. Der Enkel sah von der kleinen Buche in den Himmel und stellte sich vor, wie die Großmutter ihm von oben zusah. Er war ganz sicher, dass sie stolz auf ihn war.“

Erstmals 1996 erschien im Krögervertrieb Cottbus der Science Fiction-Roman „Mimikry“ von Alexander Kröger. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2010 im Projekte-Verlag Cornelius Halle herausgekommen war: Die Geningenieurin Ursula Brest erfindet eine Apparatur, mit deren Hilfe Zellstrukturen und Zellwachstum nachhaltig beeinflusst werden können. Als zwielichtige, profitorientierte, einflussreiche Leute die im Grunde segensreiche, aber auch missbräuchlich anwendbare Erfindung an sich reißen wollen, flieht sie. Ihre angenommene Identität wird aufgedeckt, sie gerät in Lebensgefahr. Auf sehr ungewöhnliche Weise kann sie sich der Verfolgung, nicht aber der Bedrohung entziehen. Schutz findet sie in der Liaison mit Erwin. „Mimikry“ ist ein gegenwärtig spielender Science Fiction-Krimi, der hintergründig, eingebettet in eine spannende Geschichte, den Leser zum Nachdenken über Gegenwärtiges und insbesondere, dem Genre geschuldet, über die Verantwortung der Wissenschaftler anregt. Hier zur Einstimmung das dritte Kapitel:

„Nach wenigen Tagen Aufenthalt in einem Hotel bezog Ursula, vermittelt von ihrem neuen Arbeitgeber, eine geräumige, praktisch möblierte Zweizimmerwohnung im zweiten Stock eines Altbaumietshauses in der Kantstraße, unweit von ihrer Wirkungsstätte, die sie gut zu Fuß erreichen konnte. Eine so genannte Abstellkammer bot Platz genug, um für ihre Privat-Forschung den Laptop, einen kleinen Maskenfräser und einige Labor-Hilfsutensilien, Ständer und Halterungen unterzubringen. Der Raum war auch bestens geeignet, ihr heimliches Tun zu verbergen, falls sich unverhoffter Besuch einstellte.

Obwohl sie ab und an die schmerzliche Erinnerung an O-shima und die verunglückten Kollegen heimsuchte, waren die neuen Eindrücke, das reibungslose Fußfassen, insbesondere aber der kontinuierliche Übergang in eine ihr sehr geläufige Tätigkeit, in der sie sich Dank ihrer Vorkenntnisse durchaus als Primus inter Pares fühlte, Wundpflaster, die linderten und ablenkten.

Schon nach vier Wochen fühlte sich Ursula Brest auch einigermaßen in die Obliegenheiten der BERGER-FORSCHUNGS-GmbH eingearbeitet. Man forschte in der Tat in der gleichen Richtung, war aber, was den erreichten Stand betraf, so schätzte Ursula, mehrere Jahre hinter dem auf O-shima Erreichten zurück.

Ursula arbeitete in einer Dreiergruppe gemeinsam mit dem hochgewachsenen, hageren Christof Küppeling, einem Elektroniker aus Ostfriesland, und Tamara Koltschenova aus Russland. Christof gab sich freundlich, nordisch-klischeehaft wortkarg, fachlich sehr versiert und von einer hervorragenden Auffassungsgabe. Tamara, eine rundliche, redselige Blondine, die sich an ihrem holprigen Deutsch mit hartem Akzent nicht im Geringsten störte. Sie verstand es hervorragend und absolut zuverlässig, die langweiligsten, weil oft endlosen Versuchsreihen auszuwerten und zu interpretieren.

Ursula hätte nicht zu sagen vermocht, warum – aber sie gab ihr mitgebrachtes Material nur zögernd, in kleinen Schritten preis, keineswegs dieser Kollegen wegen. Sie empfand diese als ausnehmend kooperativ, zuvorkommend und vertrauenswürdig. Schon zwei Mal in der kurzen Zeit, in der sie in Ahrensbach weilte, war sie mit ihnen nach der Arbeit in der „Destille“ und es wurden vergnügliche Abende. Nein, Berger, seine Art, wie er sie ausfragte, gleichsam belauerte, ihr auch schmeichelte, wenn sie das eine oder andere aus ihrem Wissensvorsprung einbrachte, machte sie misstrauisch.

Sie bauten an einem komplizierten Haltegestell, gedacht für die Aufnahme der Hohlmasken, die einem lebenden Körper angepasst und in welche die stimulierte Zellsubstanz hineinwachsen würde. Vorgesehen für den Versuch war ein halbwüchsiges Schwein, dessen Hinterkeulen auf diese Weise an Masse um das Doppelte zunehmen sollten – im Zeitraum von drei Wochen. Insgeheim fühlte sich Ursula erheitert, denn ähnliche Versuche hatte sie vor zwei Jahren bereits erfolgreich durchgeführt. Die Masken bildeten mit ihrer inliegenden Elektronik und den feinmotorischen Infiltriermechanismen den neuralgischen Punkt des Manipulators. Und hier konnte Ursula, schon um ihr im Einstellungsgespräch Versprochenes einzulösen und damit glaubwürdig zu bleiben, aus den mitgebrachten Unterlagen Ergebnisse beeinflussen, die den Fortgang der Arbeit wesentlich beschleunigten. Den Impulsgeber aber hielt sie zurück. Seine Integration in die Geräteanordnung hätte die Dauer des Versuchs von Wochen auf Stunden reduziert.

Ursula verbrachte Tage in der gut ausgestatteten Werkstatt, um Teile ihre Software den Feinmaschinen anzupassen oder neue mechanische Elemente gemeinsam mit Bergers Leuten nach Plänen zu entwickeln, die sie in O-shima im Nachlass vorgefunden hatte.

Für sich, geschickt und in ganz kleinen Schritten – strikt darauf achtend, dass es bei den Mechanikern unbemerkt blieb – knüpfte sie auch an den Stand der Arbeiten an, den sie bei Akira erreicht hatten. Zupass kam ihr, dass ihr Berger, wie den Kollegen auch, großzügig vom Anfang an ein separates, geräumiges Arbeitszimmer zugewiesen hatte, dessen eine Hälfte sie alsbald für ein kleines Elektronik-Labor nutzte. Bewusst gestaltete sie dieses so unübersichtlich, leicht chaotisch, dass ihre Nebenbei-Machenschaften selbst ihren Kollegen verborgen blieben, die übrigens – üblich in dem Hause – die Individualsphären gegenseitig respektierten.“

Erstmals 1997 erschien in der edition reiher im Dietz Verlag Berlin „Im Schloss zu Mecklenburg und anderswo. Storys von gestern und heute“ von Walter Kaufmann. Dazu schrieb der Autor Folgendes: Jene Bildpostkarte aus Sydney war die erste von vielen, die ich über die Jahre an Barbara, der Ruth in diesem Buch, geschickt hatte und die ich alle noch bei ihr aufbewahrt fand – sorgsam in einen Schuhkarton geschichtet. Sie riefen die Zeit zurück, zu fernen Küsten, und enthielten sie selten mehr als nur Grüße, lösten sie doch Erinnerungen aus, die sich zu Storys formen ließen, zu einem Buch, das mit ‚Regen in Rio‘ seinen vorläufigen Abschluss fand. Danach, in den späten neunziger Jahren, waren es nicht länger die Postkarten, die mich anregten, sondern in einem Notizbuch festgehaltene Stichworte: über einen Grafen im Schloss, einen Berliner in Bulgarien, einen kanadischen Flieger auf Fidschi, und den Tod eines V-Manns. Dazwischen fanden sich auch die Zeilen über einen für immer abgemusterten und seitdem sehr gealterten Seemann, dessen Braut zeitlebens die See gewesen war, die See verlassen zu müssen, hatte ihn auf sich selbst zurückgeworfen und ihm seine Einsamkeit bewusst gemacht: ‚Menetekel’, und wohl nicht nur ‚Menetekel’ in dieser Prosasammlung, ist eine anrührende kleine Geschichte geworden. Hier ist eben diese anrührende kleine Geschichte und dazu noch eine zweite:

Menetekel

Sydney, Australien
Dezember 1995

Was war in ihn gefahren? An diesem Morgen blieben Long Jim’s kritische, oft humorvolle, nicht selten auch sarkastische Kommentare beim Lesen der Morgenzeitung aus. Er wirkte abwesend, geradezu bedrückt, und sagte auch nach dem Frühstück kein Wort. Ich räumte ab und trug das Geschirr zur Spüle.

„Hast du nichts Besseres zu tun“, mischte er sich plötzlich ein. „Lass das Zeug stehen. Ich mach das schon.“

Es war deutlich, er wollte mit sich und seinen Gedanken allein sein. Ich fragte nichts, ließ ihm seine Launen – Launen? Hatte ich ihn denn je launisch erlebt? Eigentlich kannte ich keinen, der ausgeglichener war als er. Und in den drei Tagen, die ich bei ihm wohnte, hatte er sich nie anders gezeigt.

Die Zeitung hatte er zu Boden gleiten lassen. Sie lag, wo er saß, und ehe ich in mein Zimmer ging, borgte ich sie mir aus.

„Klar, nimm sie mit“, sagte er.

Keine zehn Minuten später wusste ich, was in ihn bedrückte. Es konnte nur der Bericht über diesen einstigen Seemann Cecil Burns sein, der – schier unglaublich! – zwei Jahre tot in seinem Vorstadthäuschen gelegen hatte, ohne dass man darauf gekommen war. Rein zufällig dann hatte ein Glaser geläutet, der sich wegen einer zerbrochenen Fensterscheibe einen Auftrag versprach. Als jede Antwort ausblieb, hatte er an der Tür gerüttelt, sie unverschlossen gefunden, und war eingetreten. Und vor dem, was sich seinen Augen bot, gleich wieder zurückgewichen.

Der Journalist hatte seinem Bericht den Titel TOD EINES NIEMANDS gegeben, und tatsächlich, kein Mensch war aufzuspüren gewesen, der Cecil Burns in all der Zeit vermisst hatte – seine Schwestern nicht, die auf dem Lande wohnten und von seinem Ruhestand nichts gewusst haben wollten, die Nachbarn nicht, die lange Abwesenheiten von ihm gewöhnt waren, keiner seiner einstigen Schiffsgefährten. Nicht einmal der Sozialarbeiter, der ihm bei Sparverträgen und Abzahlungen von Einkäufen behilflich gewesen war, hatte sich gefragt, warum er nicht mehr gebraucht wurde.

Von der Zeitung aufblickend, sah ich Long Jim im Zimmer stehen – ich hatte ihn weder die Tür öffnen noch eintreten hören. Er wirkte jetzt weniger abwesend, doch noch immer bedrückt. Ich konnte es ihm nachfühlen – auch er war ein Leben lang zur See gefahren und lebte seit dem Ruhestand allein in dieser Wohnung.

„Hast es gelesen?“

Ich nickte.

„Schlimm, was.“

„Traurig, traurig.“

„Ich kannte Cecil, war mit ihm auf See“, sagte Long Jim. „Ein guter Kerl, und alles andere als ein Niemand. Man sollte an die Zeitung schreiben, dass er kein Niemand war.“ Er wiegte den Kopf. „Tot zwei Jahre, und keinem fällt’s auf.“

Er schwieg, wir schwiegen beide, und wie er dort am Türrahmen lehnte, wirkte er verloren, einsam, und irgendwie längst nicht so hochgewachsen wie er wirklich war.

„Ein verpfuschtes Leben“, hörte ich ihn sagen: „Wie will man das wissen.“

„Ich rede nicht von seinem, sondern meinem Leben, fünfundsechzig und allein. Keine Frau, keine Kinder, keine Enkel. Vorzuweisen nichts als ein paar Ehen auf Zeit mit den Schiffen, auf denen ich gefahren bin. Großartig!“

Das verlangte keine Antwort.

„Ratten“, sagte er. „Nur was die von ihm übrig ließen, wurde noch gefunden. Und im Kasten ein paar Briefe – hauptsächlich Rechnungen.“

Er lachte bitter wie ich ihn nie hatte lachen hören.

Der lange Schatten

Wismar, Mecklenburg
Juni 1996

„Zweiundzwanzig Jahre“, sagte er, „die Hälfte meines Lebens.“

Ich hatte ihn für weit jünger gehalten – ein sportlich wirkender Mann, die wenigen grauen Strähnen im blonden Haar machten ihn kaum älter, der Schnurrbart, dicht und gut gestutzt wie sein Haar, war blond geblieben, seine klaren, blauen Augen blickten forsch, er sprach genau, wusste sich auszudrücken, doch formlos und privat gab er sich erst unter vier Augen und das nur, weil ich ihm versichert hatte, seinen Namen und Beruf geheim zu halten.

„Nicht zu fassen“, fuhr er fort, „dass sich das vom vierundsiebziger Jahr bis heute hinziehen konnte – und war doch bloß ein Studentenstreich, nichts weiter. Aber die Folgen!“

Er und ein Freund, erzählte er, beide Studenten damals, waren am Vorabend des Ersten Mai von Kneipe zu Kneipe gezogen, und in ihrem volltrunkenen Übermut hatten sie sich auf dem Heimweg zweier Fahnen bemächtigt, einer roten und einer mit dem Emblem und in den Farben der DDR, die auf der Tribüne am Marktplatz Vorboten, sozusagen, des nächsten Tages gewesen waren. Und unter Absingen revolutionärer Lieder waren sie durch die mitternächtlichen Gassen des Städtchens getorkelt. Allmählich aber war ihnen ihre Last lästig geworden, und sie hatten sich der Fahnen kurzerhand entledigt, sie mit der Spitze in einen Mülleimer gestoßen. Und das war es!

Alles wäre ihnen womöglich nachgesehen worden, die Trunkenheit, der Fahnendiebstahl, das Grölen der Lieder, doch niemals, wie sie dann mit den Fahnen umgegangen waren. Das wog schwer: Vier Tage Stasihaft, vom Studium relegiert, ab in die Produktion.

„Also ertappt“, sagte ich leichthin, „auf nicht allzu frischer Tat ertappt.“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich war längst im Bett, und gegen vier Uhr morgens schrillte es an der Wohnungstür. Sie mögen es glauben oder nicht, ich wusste von nichts mehr. Nur, dass mir der Kopf dröhnte. Und vielleicht hätten sie mir das sogar abgenommen, wenn sie meinen Freund nicht längst verhört hätten – der hatte alles gestanden und mich nicht ausgelassen. Feiner Freund! Abstreiten war nicht, und dass wir nach zwei Jahren dann doch noch unser Studium beenden durften, ich später sogar im Roten Jemen tätig war, zeugt von – wie soll ich es nennen: Nachsicht, oder Weitsicht der Oberen? Ich war ja nicht schlecht im Studium und im Jemen gut zu gebrauchen. Einer, der sich bewähren muss, ist meist gut zu gebrauchen. Das war vor zehn Jahren, 1986 also, und acht Jahre später schmeißt mich all das aus der Bahn.“

„Das Studium und der Rote Jemen?“

Er nickte. „Und dass mich damals die Stasi nur ganze vier Tage behalten hat.“

Ich sah ihn fragend an.

„Der lange Schatten“, sagte er und begann zu erklären, dass er vor zwei Jahren, eben weil er so kurzfristig von der Stasi freigekommen war und sich später im Roten Jemen bewähren durfte, einen guten Posten bei der mecklenburgischen Tochter einer westdeutschen Firma abgeben musste. „Weil ich doch von der Stasi umgedreht worden sein musste – also raus mit dem!“

Ich schwieg – was gab es da zu erwidern.

„Und der mich rausgeschmissen hat“, sagte er zum Abschluss, „war ein Siebzigjähriger aus Hannover – mit ’ner hohen Rente, Spitzenhonorar, Buschzulage, und dazu noch einen Sondervertrag bei einer Hamburger Zulieferfirma – zwanzigtausend monatlich todsicher! Oder sogar mehr.“

„Muss man drüber schreiben.“

„Bloß anonym“, warnte er mich wie schon zu Anfang. „Sonst verliere ich meinen jetzigen Posten auch noch.“

Der Sog – ein tödliches Ultimatum“ – dieser Text von Jan Flieger erschien erstmals 1985 unter dem Titel „Der Sog“ im Mitteldeutschen Verlag Halle/Leipzig und 1989 unter dem Titel „Ein tödliches Ultimatum“ im Fischer-Taschenbuch-Verlag Frankfurt am Main. Dem E-Book liegt die überarbeitete, 2015 im fhl Verlag Leipzig erschienene Auflage zugrunde: Nie gehörte Karl Bennewitz zu den Erfolgreichen, denen irgendetwas in den Schoß fällt. Bis er eines Tages seinen alten Freund Röbel wieder trifft und der ihm einen Job als Abteilungsleiter in „seinem“ Maschinenbaubetrieb verschafft, wo noch ein „zuverlässiger“ Mann fehle. Was Röbel damit meinte, begreift Bennewitz bald. Die staatlichen Subventionen für Rationalisierungsprogramme, in der DDR „Neuererwesen“ genannt, erweisen sich als unerschöpfliche Quelle für den privaten Wohlstand einiger Betriebsangehöriger. Lange Zeit läuft alles gut, doch dann lernt Bennewitz die junge Karin März kennen und will sich von seiner Frau trennen. Franziska denkt nicht daran, ihn aufzugeben – und mit ihm das angenehme Leben im Wohlstand. Sie stellt ihm ein Ultimatum: Entweder du bleibst bei mir – oder ich lasse dich „hochgehen“. In Bennewitz reift ein verzweifelter Mordplan … Das Buch wurde als Folge 124 in der Reihe „Der Staatsanwalt hat das Wort“ unter dem Titel „Alles umsonst“ verfilmt. Hier eine Schlüsselszene aus dem Krimi, in dessen Verfilmung Karl Bennewitz übrigens von Jaecki Schwarz gespielt wurde – und Franziska von Angelika Waller:

Kapitel IV

Das Telefon surrt.

„Ja?“, sagt Bennewitz.

„Ich, Karl.“

Es ist Pittwein.

„Komm doch mal zu mir, Karl.“

Bennewitz legt den Hörer auf und erhebt sich, geht über den Hof und die Treppe hinauf in den ersten Stock.

„Setz dich“, sagt Pittwein. Er wirkt ruhig, jovial.

„Das mit dem Aussteigen, Karl, das bereden wir wohl noch?“

Bennewitz schweigt.

„Ich möchte dir raten, Karl, überschlafe erst mal alles. Ich glaube nicht, dass du so kurzsichtig bist. Jeder hat mal ein Tief. Jeder hat auch mal Angst. Aber wir brauchen keine Angst zu haben, solange wir zusammenhalten.“

„Röbel hat mir gedroht“, sagt Bennewitz leise, „mir ein Ultimatum gestellt. Ein Unfall …“

„Ach, der Röbel, Karl. Der sagt leicht etwas, das er hinterher bereut. Vergiss die Worte. Er war erregt. Ich wär es wohl auch, wenn du wirklich aussteigen wolltest.“

„Ich will …“, stammelt Bennewitz.

Pittwein hebt beide Hände.

„Mein Lieber, du brauchst jetzt nichts zu sagen. In drei Tagen sieht die Welt anders aus. Ganz anders. Da bist du wieder auf unserer Seite. Was du brauchst, ist Ruhe. Ruhe, Ruhe, Ruhe. Mach einfach drei Tage Urlaub. Fahr mit Franziska weg. Gleich morgen. Irgendwohin, wo du abschalten kannst. Füll deinen Urlaubsschein aus. Er ist schon genehmigt.“

Das Telefon klingelt.

„Immer das verfluchte Telefon“, sagt er dann, „wenn man es nicht braucht.“

Er hebt den Hörer ab.

„Pittwein … Ach, Kollege Meusel. Wie ging die Sache aus?“

Pittwein und Röbel, denkt Bennewitz. Schläue und Härte …

Sie saßen in Pittweins Zimmer, sie waren zu dritt. Pittwein blätterte in einem blauen Hefter, ohne einmal hochzusehen.

Röbel befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze, wie er es gewöhnlich tat, wenn er zu einer langen Rede ansetzte, und sprach von den wachsenden Produktionsaufgaben, von der Streichung geplanter Investitionen und von der notwendigen Modernisierung der vorhandenen Maschinen und Anlagen. Der Plan Wissenschaft und Technik sei voll bis zum Rand. Ohne Investitionen sehe es ganz schön alt aus, das Werk, sie alle würden, wie man so schön sagt, in die Röhre blicken, wenn ihnen nicht etwas einfiele.

Warum holt Röbel so weit aus? dachte Bennewitz. Was will er nur? Aber er bemerkte Röbels Blick, der nochmals zu Pittwein glitt. Pittwein hob kurz die Augen, schien zu nicken und las dann weiter.

Jetzt, dachte Bennewitz, jetzt kommt er zum Kern, alles Bisherige war Vorrede.

„Wir machen einen kleinen Trick“, sagte Röbel.

Er lächelte Bennewitz an, es war sein Kumpellächeln, Bennewitz kannte es aus der Armeezeit.

„Wir schaffen uns einfach ein paar schöne Investitionen durch das Neuererwesen! Einen Vorschlag, wenn er gut ist, darf man nicht zurückweisen! Nimmt man ihn aber an, muss man ihn auch realisieren. Löst man ihn nicht in der Arbeitszeit, gibt es eine Neuerervereinbarung und somit bezahlte Arbeit in der Freizeit. Ist das klar?“

Bennewitz begriff noch immer nicht, worauf Röbel hinauswollte, aber er tat so, als habe er alles verstanden, er nickte und setzte ein zustimmendes Lächeln auf.

Röbels Zunge fuhr wieder über die Lippen.

„Nehmen wir ein Beispiel“, sagte er, „nehmen wir die neue Ringwasserleitung. Das Kombinat hätte sie nicht in diesem, nicht im nächsten, nicht im übernächsten Jahr genehmigt. Also, was tun?“

Bennewitz lächelte unsicher.

„Ich mache“, sagte Röbel, „einen Neuerervorschlag, und einer meiner Männer unterschreibt ihn, reicht ihn ein. Allen ist gedient: dem Kumpel, der unverhofft zu Geld kommt, und Pfaff, den die Vorgaben für das Neuererwesen quälen, weil ihm die Jahresendprämie gekürzt wird, wenn er diese Kennziffer nicht erfüllt.“

Bennewitz nickte, doch er ahnte, dass sie ihm nicht alles sagten, er sah ihre Blicke, und es war ihm, als schüttele Pittwein den Kopf, kaum merklich, den Bruchteil einer Sekunde lang, ehe Röbel weitersprach.

„Wie ist denn die Leistungserhöhung der Maschinen in der Halle D zustande gekommen? Der Umbau auf pneumatischen Antrieb? Wie war das mit der Modernisierung der Maschinen für die Halle E? Rekonstruktion mit eigenen Mitteln! Und außerhalb der normalen Arbeitszeit!“

Bennewitz begriff noch immer nicht, wieso es sich so sehr lohnen würde für alle, besonders für den einzelnen. Und was sollte das heißen, dass er, Bennewitz, voll einsteigen, alle Segel setzen könnte, wenn er erst einmal anfinge bei der Ringwasserleitung? Alles Weitere würde sich ergeben?

Das klang vielversprechend, blieb aber geheimnisvoll.

Bennewitz entschloss sich trotzdem, keine weiteren Fragen zu stellen. Er nickte wieder, murmelte ein „Ja“, erhob sich, sah Pittwein, der kurz hochschaute, lächeln, als habe er diese Antwort erwartet.

Bennewitz arbeitete nicht viel an diesem Projekt in den Monaten, die dem Gespräch folgten, half nur beim Vermessen, nahm teil an Ortsbegehungen, fertigte ein paar Zeichnungen an, aber es lag wohl auch daran, dass er den Garten der Schwiegermutter betreute und auch der Großvater Hilfe brauchte mit seinen wackligen Beinen und der Wohnung im vierten Stock.

Aber er erinnerte sich genau an diesen Donnerstag, der dem Montag folgte, an dem Pfaff die Ringwasserleitung eingeweiht hatte, mit stolzem Gesicht, denn der ‚General’ war aus der Hauptstadt gekommen.

Die Kollegin von der Kasse rief an, Bennewitz möge sein Geld holen, legte ihm eine Quittungsliste vor, die Namen enthielt und Summen, und als er auf die Zahl blickte, die hinter seinem Namen stand, begriff er nicht, er dachte an einen Irrtum, ein Versehen, aber die Kollegin drängte, er solle unterschreiben, sie habe wenig Zeit, die Buchhaltung müsse noch abrechnen.

Bennewitz schaute auf die Liste, las ein paar Namen, die er kannte, ein paar andere, die ihm fremd waren, die er nie gehört hatte im Werk, die Summen waren bei allen hoch.

Zögernd griff er nach den Scheinen – es waren Hundertmarkscheine, sie waren neu, knisterten in seinen Händen, und er schob sie als Bündel in seine Brieftasche.

„So viel für mich?“, fragte er Röbel im Speisesaal, als sie nebeneinander saßen.

Es sei für die Zeichnungen und das Vermessen, und er habe ihm noch ein paar Stunden gutgeschrieben für das Schachten, antwortete Röbel. Er zwinkerte Bennewitz mit dem rechten Auge zu.

Zu Hause legte Bennewitz die Scheine auf den runden Wohnzimmertisch, legte sie so, dass sie die Vase einrahmten, die immer von Franziska in die Mitte gestellt wurde, und erzählte ihr, wo und wie er sie erworben hatte. Ihre Augen glänzten.“

So konnte man also auf einmal Geld kommen, zu viel Geld sogar, ohne dass man dafür allzu viel tun musste. Zusammenhalten natürlich und – die Klappe halten. Und das tat Bennewitz denn auch. Aber wie geht es mit ihm und Franziska weiter? Viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen schönen Mai, bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter. Noch scheint nicht alles vorbei zu sein. Sowie Frohe Pfingsten natürlich. Und bis demnächst.

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