| APD |   Bereits im April 2020 prognostizierten Leitartikel und kleine Pilotstudien in der weltweiten medizinischen Literatur eine Flut von rückfälligen und neu auftretenden Essstörungen. Das sei eine erwartete Folge der durch die COVID-19-Pandemie ausgelöste Quarantäne, so Dr. Melissa Pereau, die medizinische Direktorin im Fachbereich Verhaltensgesundheit an der Loma-Linda-Universität (LLU) in Kalifornien/USA. Sie geht der Frage nach, warum so viele Menschen in der Pandemie die Kontrolle über ihre Beziehung zum Essen verlieren.

Essstörungen als Folge der Pandemie
Der Deutsche Verein für Gesundheitspflege e.V. (DVG) bezeichnet als Essstörung eine Verhaltensstörung mit meist ernsthaften und langfristigen Gesundheitsschäden. Zentral sei die ständige gedankliche und emotionale Beschäftigung mit dem Thema „Essen“.  Bei allen chronisch gewordenen Essstörungen seien lebensgefährliche körperliche Schäden möglich.  

Dr. Pereau von der LLU ist Psychiaterin und hat sich auf die Behandlung von Patienten mit Essstörungen spezialisiert. Sie erlebe, wie Patienten, die sich vor vielen Jahren aus einer Essstörung herausgekämpft hatten, allmählich in die Krankheit zurückfielen. Berufstätige, Mütter und Studenten, die sie jahrelang behandelt habe, begannen, von zunehmend gestörten Gedanken rund um Essen und Gewicht zu berichten, die sich in der Isolation noch verstärkten. Das Patientenvolumen im Klinikprogramm sei in den ersten beiden Monaten der Pandemie um fast 50 % gewachsen und dieses Volumen sei beibehalten worden.

Überall auf der Welt berichteten Menschen, die an Essstörungen wie Magersucht, Bulimie und Binge-Eating-Störung (Heißhungerattacken) leiden, auf der einen Seite von einem verstärkten Drang, die Nahrungsaufnahme einzuschränken und auf der anderen Seite von dem Bedürfnis, Essen als Mittel zur emotionalen Beruhigung einzusetzen. Andere, bei denen noch nie eine Essstörung diagnostiziert wurde, berichteten von Essstörungen bei dem Versuch, die während der Quarantäne   erfolgte Gewichtszunahme wieder loszuwerden.

Kontrollverlust und Verwundbarkeit
Menschen mit einer Essstörung und Fachleuten, die sie behandeln, sei es bekannt, so Dr, Pereau, dass sich diese Störungen nur zum Teil um das Essen drehten. Oftmals sei das gestörte Essverhalten ein Mittel, um ein Gefühl der Kontrolle über äußeren Stress und inneren emotionalen Kummer zu haben. Darüber hinaus spielten genetische und andere biologische Faktoren eine Rolle, um in der verzerrten Gedankenwelt Mahlzeiten einzuschränken, sich zu überessen und zu entleeren.

Während der Pandemie habe sich das kollektive Gefühl der Verwundbarkeit und des Kontrollverlusts in unzähligen Artikeln widergespiegelt. Ebenso sei ein Anstieg der psychischen Gesundheitsprobleme dokumentiert. Weltweit sei ein Anstieg von Depressionen, Angstzuständen, Alkohol- und Substanzkonsumstörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) verzeichnet worden. Laut einer Studie, die in der medizinischen Fachzeitschrift „International Journal of Eating Disorders“ veröffentlicht wurde, berichteten 30 % der Patienten mit Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und über 60 % der Patienten mit Anorexie (Appetitlosigkeit) über eine Verschlechterung der Symptome während der Pandemie.

Zu den Faktoren, die zu einem Anstieg der Patienten mit Essstörungen während der Pandemie beitrugen, gehörten hoher Stress, Einsamkeit, negative emotionale Einstellung, vermehrte Nutzung sozialer Medien, Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und Bedenken hinsichtlich der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln. Für diejenigen mit einer Tendenz zum Überessen und Binge-Eating kann ein Mangel an anderen lohnenden Aktivitäten im Leben die mit dem Essen verbundene Belohnung erhöhen.

Mehr als alles andere nähmen Essstörungen in der Isolation zu, da Ängste unkontrolliert bleiben könnten. Angetrieben von der Angst, die Kontrolle zu verlieren, würden sich Menschen mit Essstörungen oft bereitwillig einem Zustand unterwerfen, der ihnen schließlich die gesamte Kontrolle entziehe.

10 Tipps um die Kontrolle zurückgewinnen
Dr. Pereau empfiehlt ihren Patienten im Kampf gegen Essstörungen eine Liste von 10 Hilfen während der Pandemie, um die Kontrolle zurückzugewinnen:

Online
1.
Halten Sie sich an Online-Gruppen, die speziell ein positives Köpergefühl vermitteln. Pausieren oder löschen sie Apps, die eine Kultur des Body Shaming (Diskriminierung, Beleidigung und Mobbing aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes) pflegen.
2. Wenn Sie an Videokonferenzen teilnehmen, kleben Sie eine Haftnotiz auf den Bildschirm, um Ihr eigenes Bild zu verdecken, damit Sie nicht dazu neigen, während des gesamten Meetings „Body Check“ durchzuführen (sich zwanghaft auf Merkmale Ihres eigenen Körpers zu konzentrieren).
3. Auf der Webseite anad-dialog.de (ANAD – Anorexia Nervosa and Associated Disorders) und unter der Telefonnummer 089 / 219973-99 finden Sie hier in Deutschland virtuelle Beratung und Aufklärung über Essstörungen.

Unterstützung
4.
Wenden Sie sich an Ihre Familie und bitten Sie darum, die Mahlzeiten gemeinsam zuzubereiten und zu essen, anstatt isoliert zu essen.
5. Planen Sie nach den Mahlzeiten und am Abend, wenn die Wahrscheinlichkeit von Essstörungen am größten ist, Aktivitäten mit anderen zur Ablenkung (Online-Spieleabend, ein kurzer Spaziergang mit der Familie).

Selbstfürsorge
6. Gehen Sie jeden Abend zu einer bestimmten Zeit ins Bett und schlafen Sie mindestens 7-8 Stunden.
7. Erstellen Sie einen Zeitplan mit gesunden Snacks und Mahlzeiten alle paar Stunden über den Tag verteilt, um das Risiko für Essanfälle zu verringern.

Reflektion
8.
Schreiben Sie eine Liste der Dinge auf, die Sie an Ihrem Körper mögen, und denken Sie dabei an funktionelle Aspekte („meine starken Arme, die mein Kind tragen" oder „meine flinken Finger auf den Gitarrensaiten").
9. Notieren Sie, was Sie stolz macht und nichts mit Ihrem Körper zu tun hat („Ich bin ein guter Freund" oder „meine Kunst").
10. Nehmen Sie kleine Zettel mit positiven Körpereigenschaften und kleben Sie diese an Orte, die am ehesten zur Körperkontrolle geeignet sind, z. B. an den Spiegel.

Loma-Linda-Universität
Die Loma-Linda-Universität (LLU) ist eine Universität mit gesundheitswissenschaftlichen Fakultäten in Loma Linda, Kalifornien/USA. In den sechs angeschlossenen Kliniken mit insgesamt 1.077 Betten arbeiten 16.838 Angestellte und 936 Ärzte. Jährlich werden etwa 53.500 Patienten stationär und 1.857.300 ambulant behandelt. Seit 2019 umfasst die Universität acht Fakultäten.  Die Graduiertenschule bietet über 100 akademische Grade und Abschlüsse. LLU bietet auch Fernunterricht an. Sie ist Teil des Bildungssystems der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten. Zur örtlichen Kirchengemeinde auf dem Campus gehören etwa 7.000 Kirchenmitglieder.

Deutscher Verein für Gesundheitspflege e.V. (DVG)
In Deutschland betreiben die Adventisten das „Gesundheitsnetzwerk Waldfriede“ in Berlin mit Akutkrankenhaus, Sozialstation, Gesundheitszentrum PrimaVita, Privatklinik Nikolassee, Desert-Flower-Center und Seniorenhaus Waldfriede. Der Deutsche Verein für Gesundheitspflege e.V. (DVG) mit Sitz in Ostfildern fördert seit 1899 als ältester Verein für die Volksgesundheit in Deutschland die Gesundheit auf Basis eines ganzheitlichen Menschenbildes in den Bereichen körperlicher und geistig-seelischer Gesundheit, soziale Beziehungen und spirituelles Leben.

Der Artikel auf der Webseite der Loma-Linda-Universität:
https://news.llu.edu/health-wellness/losing-control-eating-disorders-amid-covid-19-pandemic

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