Damit sich eine neue Art bilden kann, müssen nach gängiger Lesart meist mehrere Bestände existierender Arten vorhanden sein, die voneinander getrennte Fortpflanzungsgemeinschaften bilden. Deren Isolation ermöglicht ein langsames Auseinanderentwickeln der Genome und dadurch die Bildung neuer Arten. Ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) und der Universität Haifa hat nun einen Fall der Artbildung innerhalb eines gemeinsamen Genpools rekonstruiert: Die fünf in Israel lebenden Nagetierarten der Gattung Spalax entstanden aufgrund klimatischer Veränderungen der letzten eineinhalb Millionen Jahren in unterschiedlichen Regionen des Landes sowie durch kleinräumige Anpassungen an spezifische Gesteinsverhältnisse in ihrem Gebiet. Eine solche Form der Artenbildung wird „sympatrische“ Artbildung genannt und wurde mit der Veröffentlichung des Teams in den „Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America“ nun erstmals bei einem unterirdisch lebenden Säugetier nachgewiesen.

Auch gut 160 Jahre nach dem Erscheinen von Charles Darwins „Über die Entstehung der Arten“ ist die Entstehung neuer Arten noch immer nicht vollständig geklärt. So wird noch immer diskutiert, ob die sympatrische Artbildung – also die Bildung einer neuen Art aus einer Population heraus, in der keine Bestände voneinander getrennt sind – die Ausnahme oder ein Regelfall der Evolution darstellt.

Um die Wirkungsweisen der Artbildung mit und ohne räumliche Trennung der Bestände genauer zu verstehen, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Haifa gemeinsam mit internationalen Kollegen die fünf in Israel lebenden Arten der „Blindmäuse“ (Spalacidae) genetisch analysiert. Vier der fünf Spezies können entlang einer Nord-Süd-Abfolge getrennten Verbreitungsgebieten zugeordnet werden. Diese räumliche Verteilung deckt sich zudem mit pleistozänen Klimazyklen. Vermutlich erfolgte während der Erwärmung des regionalen Klimas die Differenzierung der Chromosomenanzahlen der vier Arten. Diese in räumlich getrennten Verbreitungsgebieten erfolgende Artbildung durch evolutionäre Anpassung an Umweltbedingungen wird „peripatrische“ Artbildung genannt. Im Falle der vier Spalax-Arten sind die Verbreitungsgebiete nicht hermetisch getrennt, da es kleinere Überlappungszonen gab und gibt, die relative reproduktive Isolation unterstützte hier also die Artbildung. Die Verbreitungsgebiete lagen nur geringfügig isoliert in der Peripherie der angestammten Art und nicht in einer geografisch vom Vorfahren entfernten Region, ein Mechanismus, der „allopatrische“ Artbildung genannt wird. Nichtsdestotrotz entwickelte die neue, peripatrisch entstandene Art eine reproduktive Isolation, was die Artbildung unterstützte. Im Detail entwickelten die Spalax-Arten verschiedene Kommunikationsdialekte und unterschiedliche Vibrationen, die als „seismische“ oder „vibrierende“ Kommunikation bezeichnet werden, beide Verhaltensweisen werden als "reproduktive Isolation vor der Paarung" angesehen. Zusätzlich entwickelten sie auch chromosomale Inkompatibilitäten, die als „reproduktive Isolation nach der Paarung“ bezeichnet werden, wodurch gute neue biologische Arten entstanden, trotz enger Hybridzonen, die die vier Arten voneinander trennen.

Im äußersten Norden Israels konnte das Team zwei Spezies genauer charakterisieren, die sich ein Verbreitungsgebiet teilen: Spalax galili besteht aus zwei unterschiedlichen Arten, die sich im selben Gebiet an kleinräumige Unterschiede in den Bodenverhältnissen angepasst haben. „Spalax galili chalk und Spalax galili basalt unterscheiden sich signifikant in den Methylierungsmustern“, erklärt Dr. Alexandra Weyrich vom Leibniz-IZW, die in dem Team für die Analysen des sogenannten Epigenoms zuständig war. Beim Epigenom handelt es sich quasi um eine „Gebrauchsanweisung für die Gene“, die bestimmt, welche Gene des Erbguts aktiviert werden und damit, wie sich die Zellen und Organe entwickeln und welche Eigenschaften sie haben. „Wie die Namen der beiden Arten bereits andeuten, stehen diese epigenetischen Unterschiede im Zusammenhang mit den lokalen Gesteinen, Karst oder Basalt, in dem die Tiere leben. Wir konnten Gene mit unterschiedlich methylierten, also abgeschalteten, Abschnitten (differenziell methylierte Regionen, DMR) bei den beiden Arten identifizieren, die unter anderem für die Wärmeregulation oder den Sauerstoffhaushalt relevant sind“, so Weyrich. Dies deutet darauf hin, dass innerhalb eines Verbreitungsgebietes eine Spezialisierung auf die Bedingungen bestimmter Mikrostandorte stattfand und dadurch die reproduktive Isolation beider Gruppen vorangetrieben wurde. Durch die Analyse des Genoms und des Epigenoms der israelischen Blindmäuse wurde damit erstmalig Artentstehung ohne Unterbrechung des Genflusses bei einem unterirdisch lebenden Säugetier nachgewiesen.

„Eines der Hauptziele unserer Arbeit war es, eindeutig zu zeigen, dass selbst bei Spalax, wo die Artbildung im Regelfall chromosomal abläuft, eine sympatrische Speziation zwischen den Vorfahren aus der Kreide und den neuen Arten auf dem Basalt in Obergaliläa auf dem Evolutionsplateau stattfand. Alle fünf Spalax-Arten können durch Einzel-Nukleotid-Polymorphismen (SNPS), Koexistenz von copy number variations (CNVs), Repeatom und Methylom identifiziert werden“, erklärt Prof. Eviatar Nevo von der Universität Haifa. „Dies ist deshalb so wichtig, weil auch rund 160 Jahre nach Darwins Hypothese die Häufigkeit der sympatrischen Artbildung in der Natur noch immer Gegenstand einer anhaltenden Debatte in der Evolutionsbiologie ist. Die meisten Biologen glauben, dass sie in der Natur selten ist, während alle unsere Speziationsstudien am Evolution Canyon- und Evolution Plateau-Modell das Gegenteil zeigen: Das sympatrische Speziationsmodell könnte durchaus ein häufiges Modell der Artbildung sein, weil Millionen von Orten mit diesen Eigenschaften auf unserem Planeten existieren, basierend auf Mikrostandorten mit divergierender Ökologie – geologisch, bodenmäßig, klimatisch, abiotisch und biotisch, in Schluchten oder auf Plateaus und Hang-Topographien. Daher muss die sympatrische Artbildung ein allgemeines Modell in der Natur sein, quer durch alle Lebewesen, von Viren und Bakterien über Pilze bis hin zu Pflanzen und Tieren.“

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