Deutschland hat also am 1. Juli die Ratspräsidentschaft in der EU inne. Diese Brüsseler Dienstleistung erbringt turnusmäßig jeder Mitgliedsstaat sechs Monate lang. Im zweiten Halbjahr 2020 dient Deutschland nun als Moderator bei allen institutionellen Treffen der 27 Regierungen und ist der Vertreter des Rates gegenüber den anderen Institutionen. Das deutsche Leitmotiv für diese Dienstleistung klingt vage nach Donald Trump: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ Bekannte Framingvokabeln durchziehen das Great-Again-Programm: Stärke, Innovation, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Subsidiarität, Sicherheit, gemeinsame Werte. Doch Dreh- und Angelpunkte bleiben Covid-19 und damit verbunden jene Geldbeträge, welche die Mitgliedsstaaten nach Brüssel überweisen und die von dort aus wieder umverteilt werden, um die massiven wirtschaftlichen Folgen des staatlich verordneten Stillstands zu beheben. Ein anderes zentrales Thema ist die Schließung der Mittelmeerroute für illegale Migranten und die Verlagerung der Entscheidung über Asylanträge an die Außengrenzen der EU, was ja bereits von Innenminister Seehofer angekündigt wurde.

Die von den Mitgliedsstaaten bereitgestellte Finanzausstattung für den Covid-Wiederaufbaufonds gleicht einer Pokerpartie. Der Einsatz ist schwindelerregend hoch: 750 Milliarden Euro sollen als Zuschüsse (500 Mrd. Euro) und Kredite an die Mitgliedstaaten (250 Mrd. Euro) vergeben werden (siehe dazu den Brief aus Brüssel vom Mai auf der homepage: www.i-daf.org). Das Corona-Hilfsprogramm heißt „Nächste Generation EU“ und soll in den Mehrjährigen Finanzrahmen (2021-2027) haushaltstechnisch integriert werden. Es handelt sich also nicht um voneinander unabhängige Finanzierungsinstrumente (Haushalt auf der einen und Covid-Fonds auf der anderen Seite), sondern alles in einem. Dieser Ansatz soll die Verhandlungen erleichtern, denn nichts ist vereinbart, solange nicht alles vereinbart ist. Es geht, wie so oft in der EU, ums große Ganze. Kompromisse werden nicht ausbleiben. Wer wieviel gewinnt, und ob ihm das zusteht, sind absolut berechtigte Fragen. Nur, wer zahlt drauf? 

Man könnte auch auf die Idee kommen, daß man in der EU spart. Aber Kommission und Parlament finden das nicht und geben sich unersättlich. Doch die nationalen Regierungen müssen den Mehraufwand für Brüssel bei ihren Landsleuten rechtfertigen. Und deswegen sieht der Haushaltsentwurf des Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel (der die Runde der Staats- und Regierungschefs, die eigentlichen Entscheider in der EU, leitet), lobenswerter Weise auch signifikante Einsparungen vor. Was jeder Mitgliedsstaat für sich alleine besser machen kann, dafür soll Brüssel kein Geld umverteilen. Deswegen lässt die EU-Kommission nichts unversucht, um sich endlich eigene EU-Steuern anzueignen, beispielsweise für Plastikverbrauch und eine zusätzliche Digitalsteuer für große Unternehmen. Davon verspricht sich die Kommission finanzielle Unabhängigkeit von den Mitgliedsstaaten, weil sie – wie eine nationale Regierung – in den einzelnen Mitgliedsstaaten eigene „Brüssel-Steuern“ direkt erheben könnte. Das wiederum ist problematisch, denn unklar ist, nach welchen Kriterien diese Steuern erhoben werden sollen und ob es dann auch nur bei einer neuen Steuer bleibt ist auch ziemlich unwahrscheinlich. Es wäre der erste Schritt zur Steuerhoheit der Kommission in der EU – und damit zur weiteren Aushöhlung der Souveränität der Einzelstaaten.  

Die Bundesregierung darf nun diese Diskussion moderieren und nach sechs Monaten vermutlich die Moderation darüber weitergeben. Entschieden in ihrer Moderationszeit wird hingegen, wie der Verteilerschlüssel für den Covid-Fonds aussehen soll. Schon die Zweckbestimmung der Gelder ist eine Vorentscheidung. Es geht um die Bewältigung der besonderen Covid-Belastungen, nicht um ein verdecktes Investitionsprogramm für traditionell wirtschaftliche schwache Mitgliedsstaaten. Je ärmer ein Land und je höher die Arbeitslosenquote von 2015 bis 2019, desto mehr Geld soll es bekommen, so steht es im Vorschlag der EU-Kommission. Was hat das mit dem Virus zu tun? Die Kommission legt unverständlicherweise nicht auch den Pro-Kopf-Reichtum der Bevölkerung bei der Berechnung von arm und reich und von Geben und Nehmen zugrunde. Warum eigentlich nicht? Dabei stimmen alle offiziellen Statistiken in der Feststellung überein, dass Italiener, Spanier und Franzosen über ein höheres individuelles Privatvermögen verfügen als die Deutschen. Dennoch muss Deutschland alleine für ein Viertel des EU-Haushalts aufkommen. Das Programm sollte also heißen „Nächste Generation Europa – Danke Deutschland“. Hier werden die Regierungschefs gewiss noch an den Berechnungsmethoden feilen müssen, damit nicht die weniger vermögenden Deutschen für die Reicheren in Südeuropa zahlen müssen. Denn letztlich richtet sich das Gesamtvermögen der Staaten nicht nur nach der Arbeitsleistung, sondern auch nach den vorhandenen Vermögenswerten.  

In Brüssel bekam die deutsche Ratspräsidentschaft erst einmal zwei Spitznamen: Covid-Präsidentschaft und Schulden-Präsidentschaft. Der erste ist schicksalhaft, der zweite ambivalent: Denn die Merkel-Präsidentschaft hat nun die Aufgabe, in der EU als Dienstleister des Staatenbundes auch die eigenen Interessen Deutschlands im Sinne der Gerechtigkeit durchzusetzen. Das könnte für Merkel-Fans in Deutschland noch enttäuschend werden. Guter Rat ist teuer, sagt der Volksmund. Nach der Ratspräsidentschaft Deutschlands wird er vermutlich eine Steigerungsformel finden müssen.

Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.

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