Buchrezension
Peter R. Neumann:
Die neue Weltunordnung.
Wie sich der Westen selbst zerstört
Rowohlt Verlag Berlin; 2. Edition (13. September 2022)
336 Seiten
Gebundene Ausgabe: 24,00 €
Kindle: 19,99 €
ISBN-10: 3737101418
ISBN-13: 978-3737101417
Die Ordnung der Welt ist ins Wanken geraten. Statt einer liberalen Weltordnung ist eine neue Weltunordnung zu beobachten. Das schreibt der in London lehrende Politikwissenschaftler Peter R. Neumann in seinem jüngsten Buch. Neumanns These: Die Vorherrschaft des Westens und damit der liberalen Moderne ist in den letzten 30 Jahren durch dessen Selbstüberschätzung und Naivität verloren gegangen. Klimakrise, Populismus und der Aufstieg Chinas beschleunigen diesen Prozess. Die liberal-optimistischen Werte, die zum Fall des Kommunismus beitrugen, wenden sich nun gegen den Westen selbst und offenbaren Schwächen im Finanzsystem und in der Verteidigungsstrategie. Er plädiert für eine Moderne, die ehrlicher, pragmatischer und inklusiver auftritt und auf den doktrinären und aufdringlichen Export von Freiheitsvorstellungen vorerst verzichtet.
Zum Buch
Das Buch umfasst über 330 Seiten und enthält neben einer Einleitung einen Anhang mit Register. In vier Teilen wird das Zeitgeschehen chronologisch dargestellt. Der erste Teil trägt den Titel „Optimismus“ und kommentiert die Zeit zwischen 1990 und 2000 mit dem „ewigen Frieden“, dem Technooptimismus und dem neuen Terrorismus. Der zweite Teil trägt den Titel „Hybris“ und stellt die Zeit von 2002 bis 2010 dar. 9/11 als Weckruf, der gute Krieg im Osten und die Exzesse der Märkte stehen im Mittelpunkt. Im dritten Teil von 2011 bis 2015 folgt die Ernüchterung. Der arabische Frühling kühlt schnell ab, Frankreich versandet in Libyen, in Syrien zeichnet sich eine Katastrophe ab und die „ostpolitischen Tagträume“ der Deutschen müssen der Realität weichen. Der vierte Teil zeichnet ein Bild der Krise von 2016 bis heute. Europa erlebt die Euro- und die Flüchtlingskrise, Großbritannien steigt aus, in den USA regiert ein Populist und China erschafft eine autoritäre Moderne. Ganz zu schweigen vom sich immer weiter verschärfenden Klimanotstand.
Es ist kein rein außenpolitisch orientiertes Buch, sondern eine Mischung aus Innen- und Außenpolitik, denn beides ist für Neumann untrennbar miteinander verbunden. Und Neumann räumt mit der Illusion einer „Wiedergeburt der Freiheit“ in der östlichen Hemisphäre auf. Es gebe keinen objektiven Anlass, die „naiven, oft völlig unrealistischen Ideen westlicher Politikeliten“ (S. 272) weiter zu befeuern und die Überlegenheit des eigenen Systems zu beschwören, sondern es sei höchste Zeit, die antiliberalen Kräfte zu erkennen und ernst zu nehmen. Es sei an der Zeit, weltpolitisch ehrlicher, pragmatischer und inklusiver zu handeln und sich die eigene Eigennützigkeit einzugestehen. Eine „turbokapitalistische Schocktherapie“ (S. 278) helfe anderen Ländern ebenso wenig wie halbherziges entwicklungspolitisches Engagement. Trotz allem hält der Professor aus London die liberale Moderne für die attraktivste Ideologie (S. 280).
Zum Punkt
Das Buch erkennt im Westen mit seiner Ideologie den Hauptakteur im Weltgeschehen und sieht dementsprechend die Verantwortung für viele weltpolitische Fehlentwicklungen etwas einseitig verteilt. Andere Staaten werden eher als „Reakteure“ auf die westliche Dominanz gesehen. Dabei stellt Neumann klar: Der Westen ist keine Himmelsrichtung, sondern eine Idee. Und diese Idee ist richtig, aber falsch beworben. In der Analyse der Fakten ist Neumann eindeutig als politischer Realist zu erkennen. Realisten in der internationalen Politik sind interessengeleitet und lehnen Idealismus ab. Seine Schlussfolgerungen sprechen aber dagegen, sich in Zukunft von westlichen Idealen zu verabschieden. Vielmehr geht es Neumann um die Reflexion der eigenen Rolle und um die Nachhaltigkeit politischer Entscheidungen in der Realpolitik. Das klingt zunächst aufgeklärt und soweit einleuchtend.
Die Analyse des Buches ist selbstkritisch, schonungslos und stimmt nachdenklich: Der unumkehrbare Prozess der Befreiung von politischer Unfreiheit und Unterdrückung durch aufgeklärtes, liberal-demokratisches Denken und Handeln, der den internationalen Aufschwung erst ermöglichte, scheint sich nun gegen den Westen selbst zu wenden und ihn zu zerstören. Es scheint paradox: Die liberale Moderne wird vom Autor als totalitär und absolut in ihrer Selbstbewertung wahrgenommen. Neumanns Lösung einer neuen liberalen Identitätsfindung, einschließlich einer inklusiven Neuinterpretation westlicher Werte, klingt zwar folgerichtig, aber doch etwas zu idealistisch, um realpolitisch wirklich tragfähig zu sein. Vielleicht ist der pragmatische Weg, den der Politikwissenschaftler Carlo Masala in seinem ähnlich klingenden Buch Weltunordnung (6. Aufl. 2022, Beck Verlag) vorschlägt, weltpolitisch eher gangbar: nämlich mehr Realismus statt reflektiertem Idealismus.
Claudia Mohr
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