„Auch wenn es noch kein offizielles Wahlergebnis in der Türkei gibt, ist jetzt schon klar, dass dem politischen Wandel und einer Öffnung des Landes in Richtung der Europäischen Union eine überraschend klare Absage erteilt wurde. Die AKP, die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdogan, erzielt bei den Parlamentswahlen so unerwartet gute Ergebnisse, dass selbst wenn der Präsidentschaftskandidat des Oppositionsbündnisses Kemal Kılıçdaroğlu sich in einer Stichwahl durchsetzen könnte, ihm die Hände weitestgehend gebunden wären. Verfassungsänderungen und damit grundlegende Reformen sind nur mithilfe des Parlamentes möglich. Im ungünstigsten Fall wäre Kılıçdaroğlu ein Präsident, der über die Mehrheitsverhältnisse im Parlament hinweg regieren müsste. Durch die Erfolge der rechtsnationalen Kräfte im Parlament ist sogar eine radikalere Koalition der Regierungsparteien als bisher realistisch.
Für die Europäische Union dürften die vorläufigen Ergebnisse bereits eine große Enttäuschung darstellen. Die politischen Beziehungen mit der Türkei waren zuletzt auf einem Tiefpunkt, und es ist nicht davon auszugehen, dass dies in den kommenden Jahren einfacher wird. Der EU fehlte bisher eine Agenda, wie mit der Türkei verfahren werden kann, und diese Ungewissheit wird voraussichtlich bestehen bleiben.
Dabei hat die EU großes Interesse an einer wirtschaftlichen Stabilisierung des Landes und würde eine weitere Annäherung der Türkei an Russland und China gerne verhindern. Dafür bräuchte es jedoch eine stärkere politische Kooperation. Die aktuelle Zusammensetzung des neuen Parlamentes deutet auf eine Stärkung der konservativen Kräfte hin, so dass sich die Reformen im Land nicht unbedingt nach EU-Vorstellungen entwickeln werden.
Die kommenden zwei Wochen bis zur Stichwahl werden von extremer Unsicherheit geprägt sein und die türkische Wirtschaft weiter unter Druck setzen. Höchstwahrscheinlich nur ein Vorgeschmack auf die kommenden fünf Jahre.“
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