Wie stehen die Europa-Abgeordneten in Brüssel und Straßburg, insbesondere die deutschen zu einigen Kernpunkten der gesellschaftspolitischen Debatte in Europa? Ein gutes Jahr vor den nächsten Wahlen zum EU-Parlament (26. Mai 2019) hilft eine genauere Auswertung der Abstimmungsergebnisse der Europa-Abgeordneten bei der Antwortfindung, so zum Beispiel die Abstimmung über die Entschließung des EU-Parlaments vom 1. März 2018 zur aktuellen Lage der Grundrechte in der Europäischen Union (2017/2125(INI)). Denn diese Abstimmung war dank zahlreicher Änderungsanträge mit namentlicher Stimmabgabe im Plenum ein umfangreicher Stimmungstest über die wirklichen Positionen nicht nur der deutschen Europa-Abgeordneten bei grundsätzlichen Fragen. Die Auswertungsmethode für alle ist unspektakulär: Man ordne schlicht dem zur Abstimmung gestellten Text die Ergebnisse der namentlichen Abstimmung zu. Beides ist auf den Webseiten des EU-Parlaments offiziell zugänglich. Ich will mich heute allerdings den deutschen Abgeordneten zuwenden. Deren Abstimmungsverhalten war übrigens symptomatisch für das aller Mitglieder des Hohen Hauses.

Zu beachten ist: Wenn das EU-Parlament zu einer Plenarsitzung zusammenkommt und über Entschließungsvorlagen aus den Fachausschüssen abstimmt, können alle Fraktionen noch einmal mit Änderungsanträgen oder Streichungsanträgen versuchen, zusätzliche Elemente in den Entschließungstext einzufügen oder herauszustreichen. Dabei handelt es sich nicht um „Schaufensteranträge“, die nur Aktivismus vortäuschen sollen, sondern um ganz alltägliches parlamentarisches Handwerk, mithin nichts Besonderes. Die Änderungs- und Streichungsanträge zur Grundrechte-Entschließung wurden hauptsächlich vom Abgeordneten Prof. Dr. Jörg Meuthen (AfD) im Namen der Fraktion „Freiheit und Direkte Demokratie“ (EFDD) eingereicht. Dafür muss man ihn nicht loben, und wir tun es hier auch nicht. Er hat nur seinen Job gemacht.

Die Änderungsanträge zur Grundrechte-Entschließung können in sechs große Kategorien eingeteilt werden: 1) Respekt der EU-Verträge und des Subsidiaritätsprinzips; 2) Migrationskrise; 3) Meinungs- und Gewissensfreiheit; 4)  Gender-Ideologie und Homo-Ehe im Zusammenhang mit den Zuständigkeiten der EU; 5) Abtreibung als Menschenrecht; 6) Schutz christlicher Minderheiten. Die Ergebnisse nun sind bemerkenswert, um nicht zu sagen spektakulär:

1) Respekt der EU-Verträge. Die fünf Änderungsanträge (Nr. 31-34 und 48) sollten vor allem den Respekt des Subsidiaritätsprinzips und des geltenden EU-Rechts in die Entschließung einschreiben. Bei der Umsetzung der Politik der Grundrechte ist den Zuständigkeiten der EU, ihrer Einrichtungen und der Mitgliedsstaaten Rechnung zu tragen (48). Änderungsantrag 31 unterstrich noch einmal das „ordre public Prinzip“, welches die grundlegenden inländischen Wertvorstellungen der Mitgliedsstaaten vor der Manipulation nicht nur, aber auch durch die EU schützt. In Änderungsantrag 33 wurde in Bezugnahme auf Artikel 67 des EU-Vertrags auf geltendes EU-Recht hingewiesen, nämlich die Achtung der verschiedenen Rechtsordnungen und ?Traditionen der Mitgliedstaaten. Ein weiterer Änderungsantrag zitierte den EU-Vertrag: die Union achtet die jeweilige nationale Identität der Mitgliedsstaaten, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt. Die Europa-Abgeordneten der im Bundestag vertretenen Parteien stimmten geschlossen gegen alle diese Anträge. Die Schlussfolgerung ist, dass sie weder das Subsidiaritätsprinzip noch die in Deutschland geltenden Rechtsordnungen und -traditionen achten (wie beispielsweise das Staatskirchenrecht oder das Rundfunkrecht). Das ist ein Freibrief für die EU-Institutionen zur weiteren „Vergemeinschaftung“ (Zentralisierung) ethisch wichtiger Aspekte des gesellschaftlichen Lebens.

2) Migrationskrise. Die Abstimmungen zu den acht Änderungsanträgen wurden vor allem für die bayrische CSU zum Offenbarungseid. Die CSU-MdEP lehnten die Forderung nach zentralen Auffangzentren unter gemeinsamer Verwaltung der EU und des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen ab. Die Unterscheidung von politisch Verfolgten bzw. Kriegsflüchtlingen mit Asylanspruch und irregulären Wirtschaftsmigranten (ohne Asylanspruch) wurde ebenfalls abgelehnt. Die deutschen Europa-Abgeordneten sprachen sich sogar gegen raschere und effizientere Verfahren zur Rückführung abgelehnter Asylbewerber aus. Die Feststellung, es sei „ein herausragendes Merkmal staatlicher Souveränität aller EU-Mitgliedsstaaten, über Qualität und Quantität der Einwanderung selbst zu bestimmen“ wurde auch abgelehnt. Stattdessen stimmten sie geschlossen für sichere und legale Migrationswege für alle nach Europa (Änderungsantrag 27). CDU, Grüne, SPD und Kommunisten haben hier in Übereinstimmung mit ihren Positionen in Deutschland abgestimmt, Doch was soll man von einer CSU halten, die sich in Deutschland von Frau Merkels Willkommens-Politik der offenen Grenzen und der unkontrollierten Einwanderung abgrenzen will, jedoch in Brüssel für denselben rot-rot-grünen Politikstil stimmt ?

3) Meinungs- und Gewissensfreiheit. Die Europa-Abgeordneten lehnten die Feststellung ab, dass das Grundrecht auf Verweigerung aus Gewissensgründen in Artikel 10 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der EU verankert und dass die Praxis der Verweigerung aus Gewissensgründen in den Mitgliedstaaten der EU durch einen umfassenden rechtlichen und politischen Rahmen angemessen geregelt ist. Vor allem lehnten sie die Feststellung ab, „dass ein umfassender und klarer rechtlicher und politischer Rahmen für die Praxis der Verweigerung aus Gewissensgründen seitens der Gesundheitsdienste vorliegt, mit dem sichergestellt wird, dass die Interessen und Rechte Einzelner, die um legale medizinische Versorgung ersuchen, gewahrt, geschützt und erfüllt werden.“ Das aber ist Kernelement der Resolution 1763 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) vom 10. Oktober 2011 (McCafferty-Bericht), die damals maßgeblich von EVP-Politikern durchgeboxt wurde. Der Frauenausschuss des EU-Parlaments hat nun dazu bereits eine Studie beim wissenschaftlichen Dienst über die Regulierung von Gewissensfreiheit für medizinisches Personal (vor allem bei Abtreibung und Euthanasie) angefordert. Das kommt nicht aus heiterem Himmel, sondern dient als Vorbereitung für einen Initiativbericht, um die Resolution des Europarats zu überstimmen und so die Gewissensfreiheit von Ärzten und Krankenschwestern einzuschränken. Wären diese Änderungsanträge angenommen worden, wäre der zukünftigen Prozedur die Geschäftsgrundlage entzogen worden.

4) Gender-Ideologie und Homo-Ehe und die Zuständigkeiten der EU. Wer hier mit Widerstand der C-Parteien gerechnet hatte, wurde enttäuscht. Die deutschen Europa-Abgeordneten von CDU und CSU stimmten für die Homo-Ehe und für die verpflichtende gegenseitige Anerkennung der Homo-Ehe auch in Mitgliedsstaaten, in denen es dieses Rechtsinstrument gar nicht gibt, sie stimmten für „Lehrpläne der Toleranz“ und Gender-Unterricht an Schulen ohne elterliches Einverständnis. Der Hinweis in diesem Zusammenhang, dass die Hauptverantwortung für die Bildung eines Kindes in erster Linie bei seinen Eltern liege (Änderungsantrag 45),wurde von den Deutschen genauso abgelehnt wie die Forderung, dass im Bereich der Kinderrechte der Vorrang der von Mutter und Vater geteilten Vorbildfunktion für ihre Kinder und ihre einzigartige und privilegierte Position im Hinblick auf den Schutz des Kindeswohls in vollem Umfang berücksichtigt werden müssen, und dass der harmonischen und vollständigen Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes und dem Schutz seiner psychischen Gesundheit besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist (46). Die C-Parteien folgen den Parteien der rot-rot-grünen Koalition. Die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen beweisen es.

5) Abtreibung als Menschenrecht. Der Grundrechte-Bericht des christdemokratischen Berichterstatters Frank Engel (Luxemburg) stellt Abtreibung als Menschenrecht dar, und die Abwesenheit von Abtreibungsmöglichkeiten als Folter. Das erinnert an die langwierigen Verhandlungen über das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Rom. Dort wurde bereits erfolglos versucht, fehlende Abtreibungsmöglichkeiten mit Folter gleichzustellen (aufgrund der erzwungenen Mutterschaft). Der kollektive Aufschrei der Christdemokraten blieb jedoch aus. Lediglich Elmar Brok stimmte mit Jörg Meuthen dagegen, Frau Hohlmeier (CSU) und Hermann Winkler (CDU) enthielten sich bei diesem Streichungsantrag. Stattdessen hätte Änderungsantrag 47 ein klares Bekenntnis zum Recht auf Leben mit dieser Formulierung ermöglicht: „Das EU-Parlament fordert die Mitgliedstaaten auf, mit gezielten Maßnahmen sicherzustellen, dass Frauen gerechten Zugang zu den Systemen der öffentlichen Gesundheit – insbesondere grundlegender medizinischer Versorgung wie Schutz von schwangeren, gebärenden oder stillenden Müttern und ihren Kindern vor und nach der Geburt – sowie zur gynäkologischen und geburtshilflichen Versorgung im Sinne der Definition der Weltgesundheitsorganisation haben“. Hier hätten eigentlich alle Europa-Abgeordneten dafür stimmen müssen. Mit Meuthen stimmte nur der Berliner CDU-Abgeordnete Zeller sowie die Grünen Frau Harms und Frau Trüpel. Das Bekenntnis zum Recht des ungeborenen Lebens ist also nur ein Lippenbekenntnis, diese Abstimmung beweist es. Ist sie auch ein böses Omen für die Haltung des Bundestages, insbesondere der C-Parteien, beim Thema Werbeverbot für Abtreibung?

6) Schutz christlicher Minderheiten. Die C-Parteien lehnen die Aufforderung an die Kommission und die Mitgliedsstaaten ab, sich entschlossen für die Bekämpfung von religiöser Intoleranz und Gewalt gegen Christen einzusetzen und Fälle von Diskriminierung und Gewalt gegen christliche Flüchtlinge ausführlicher zu dokumentieren. So kurz vor Ostern war auch dies ein erstaunliches Ergebnis. Wen will man damit schonen: Erdogan, den IS,  Boko Haram?

Schlussabstimmung: Die Entschließung wurde ohne Änderungen angenommen. Dagegen stimmten nur Jörg Meuthen (AfD) und Norbert Neuser (SPD). Es enthielten sich die LINKE-Abgeordneten Eck und Schirdewan sowie Frau Lösing, Frau Michels und Frau Zimmer. Die Änderungsanträge zum Grundrechte-Bericht wurden alle abgelehnt. Aber damit weiß man nun dank der namentlichen Abstimmungen, wie sich die Europa-Abgeordneten der im Bundestag vertretenen Parteien bei Abstimmungen zu Grundrechten verhalten. Und wenn die Ablehnung nur erfolgte, um sich von dem AfD-Mann Meuthen abzugrenzen, dann muss man wohl konstatieren, daß die Parteitaktik einen höheren Stellenwert hat als ganz fundamentale Rechte und Prinzipien. Damit hat sich das EU-Parlament auch gegen Teile der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte gestellt, wie auch die NGO European Dignity Watch konstatierte. Über Verdrossenheit mit der Politik und den Vorwurf der Doppelzüngigkeit mancher Parteien braucht sich da keiner mehr zu wundern.

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