In „Leben. Nicht allein“ von Heinz Kruschel passiert einer jungen und erfolgreichen Journalistin, die allein mit ihrer Tochter Suse lebt, ein großes Unglück. Wie soll es danach weitergehen?
Episoden aus der Geschichte des wahrscheinlich bekanntesten Bauwerks der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern erzählt Renate Krüger in „Das Schloss im Feuerschein. Eine Geschichte um das Schweriner Schloss“, darunter auch von dem titelgebenden Ereignis, das Auswirkungen bis in die jüngste Gegenwart hat.
Noch ein Buch über die DDR und über die Wende hat Claus Göbel mit „Ein Leben in drei Deutschlands. Deutsch-deutsche Geschichte in persönlichen Erlebnissen und Geschichten“ vorgelegt – aus guten Gründen.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Mitunter lässt sich an einem Leben die Geschichte fast eines gesamten Jahrhunderts ablesen. Der Autor des heute vorgestellten Buches war ein solcher Jahrhundertzeuge und hat in seinem fast einhundertjährigen Erdendasein tatsächlich viel Schreckliches, aber auch viel Schönes erlebt. Und er war immer ein Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit, für Menschlichkeit und für eine bessere Welt. Was für ein Leben. Was für ein Überleben.
Erstmals 2004 erschien in ddp goldenbogen Dresden „Die Welt des Markus Epstein“ von Walter Kaufmann: Eine gute Gelegenheit, den Menschen, Reporter und Schriftsteller Walter Kaufmann näher kennenzulernen. In insgesamt 105 autobiografischen Geschichten lässt der Autor, damals 80 Jahre alt, sein abenteuerliches und mutiges, trauriges und schönes Leben Revue passieren. Sein Leben als Schriftsteller beginnt in Australien, wo der mit Glück aus Deutschland vor den Nazis zunächst nach England geflüchtete und dann nach Australien deportierte jüdische Junge in einem Arbeitsbataillon Dienst tut. An einem milden Sommersonntag, einem dienstfreien Tag, beginnt er im Camp im australischen Albury aufzuschreiben, was er während eintöniger Verladearbeiten am Bahnhof und im Munitionsdepot durchdacht hatte. Damals ahnte er noch nicht, dass diese Notizen einen begehrten Literaturpreis erringen und binnen eines Jahres in viele Sprachen übersetzt um die Welt gehen würden …
In seinen autobiografischen Geschichten erzählt Kaufmann von kleinen und großen Dingen seiner Kindheit und Jugend in Deutschland, in dem Juden das Leben immer unerträglicher gemacht wurde, von seiner Heimatstadt Duisburg, von Schule und erster Liebe und von den Schrecken und Schikanen dieser Zeit, von der Abreise aus Deutschland, bei der er das letzte Mal seine Mutter sehen kann, von dem Aufenthalt in England, wo er nicht mehr Deutsch sprechen darf, und von der Verbannung nach Australien, wo er in einem Lager eingesperrt wird und in einem Arbeitsbataillon Dienst tun muss – und wo er zu schreiben beginnt. Er erzählt aber auch über seine späteren Jahre in Australien und wie es ihm nach seiner Heimkehr nach Deutschland erging. Im Jahre 1955 war er nach siebzehn Jahren im Ausland zurückgekehrt. Berlin war ihm so fremd wie die Sprache und der Tonfall hier …
Und hier der Beginn dieser Autobiografie in Teilstücken:
„Teil 1
Er saß neben dem Armeezelt auf einer Kiste und schrieb mit Bleistift in ein Heft, das er seit jüngster Zeit unterm Strohsack seines Feldbettes aufhob, eine in schwarzes Wachspapier gebundene Kladde, die – zerfleddert zwar und mit losen Seiten – die Zeitläufte bis ins einundzwanzigste Jahrhundert überdauern sollte. Es war ein milder Sommersonntag im australischen Albury, ein dienstfreier Tag für die gesamte Truppe. Er hatte sich rasiert, geduscht und, in frischem Kakihemd, sauberer Kakihose, blanken Stiefeln, abgewartet, bis Stille lag über dem Rennplatz, der seit Kriegsbeginn für Arbeitsbataillone requiriert war, und er nutzte die Stille, um zu Papier zu bringen, was er während eintöniger Verladearbeiten am Bahnhof und im Munitionsdepot durchdacht hatte – und nicht träumen ließ er sich, dass, was er da schrieb, einen begehrten Literaturpreis gewinnen und binnen eines Jahres in etlichen Sprachen um die Welt gehen könnte …
Die einfachen Dinge
Georg ist noch immer mein Freund. Das mag seltsam klingen, denn Georg ist nirgends, wo ich ihm die Hand reichen könnte. Jahre und Welten trennen uns voneinander – vielleicht ist er tot, im Krieg gefallen. Er ist noch immer mein Freund – im symbolischen Sinn. Ich erinnere mich genau: elf Jahre war ich alt, und Georg wartete am Ende unserer Straße auf mich. Er wollte unser Haus nicht betreten. Hielt Stolz ihn zurück oder Befangenheit, die Scheu, sich einer fremden Umgebung stellen zu müssen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich immer nur draußen mit ihm traf und dies hinter mir ließ:
Unser Haus mit der gewundenen Treppe zur Eingangstür, an der Tür die Klingel, deren Läuten hell durch den Vorraum tönte und Käte herbeirief, die dann lautlos durch die mit Teppichen ausgelegten Flure lief; hinter ihr schwangen Glastüren zu, mit einem Geräusch, als würde Luft aus Schächten gesogen; Käte öffnete die Haustür und ließ die Besucher in die Stille des Hauses – führte sie in Vaters Arbeitszimmer oder die Bibliothek, die Vaters strengen Ordnungssinn erkennen ließ; wollte der Gast zur Mutter, wies Käte den Weg ins helle Biedermeierzimmer, wo Landschaftsaquarelle in schlichten Rahmen das Sonnenlicht zurückwarfen, das durch die Flügeltüren flutete, die zum Balkon überm Garten führten; in den Vitrinen glänzte Mutters Porzellansammlung, die Glasscheiben glitzerten und schwarz hob sich der Bechsteinflügel von den hellbraunen Möbeln ab, den vier zierlichen Stühlen und dem Tischchen.
Ich warf die Haustür hinter mir zu, dass es durch den Flur hallte, rannte die gewundene Steintreppe hinunter und dann die Straße entlang bis hin zur Ecke, wo ich atemlos auf Georg stieß. „Hallo! Gut, dass du da bist.”
„Ja“, sagte Georg. „Hab Kastanien dabei.“
Ein paar davon klaubte er aus der Hosentasche und warf sie von einer Hand in die andere.
„In Ordnung“, rief ich, „die werden wir rösten.“
„Machen wir.“
Wir zogen los. Georg ließ die Kastanien wieder in die Hosentasche gleiten, schob die Hand nach, damit sie unterwegs nicht rausfielen. Sein Haar war vom Wind zerzaust, das Hemd über der Brust offen. Seite an Seite rannten wir durch die Straßen zum Wald hin.
Wenn ich heute an Georg denke und mir jene fernen Tage ins Gedächtnis rufe, formt sich vor meinen inneren Augen aus vielen Bildern das Mosaik unserer Freundschaft, die mit den Jahren an Bedeutung gewinnt.
Wir hockten vor dem Feuer, das wir auf einer Lichtung im Wald entfacht hatten und sahen zu, wie die Kastanien sich in den Flammen verfärbten, hörten die Schalen in der Hitze knacken. Eine Weile lang schwiegen wir. Über den Wipfeln der Bäume rings um uns, Eichen und Ulmen und Birken, schimmerten Flecken klaren Himmels, Sonnenstrahlen stachen durch das sanft zitternde Laub. Georg schürte das Feuer, und ich wendete die Kastanien in der Glut.
Schließlich brach Georg das Schweigen. „Vater hat was gegen das Jungvolk – will nicht, dass ich mich da blicken lass.“
„Na und?“, sagte ich. „Du weißt doch, mich würden die nicht nehmen.“
„Dich nicht – klar. Schade, dass du Jude bist.“
„Wieso. Bin nicht scharf aufs Jungvolk.“
„Gilt auch für mich.“
„Also, was gibt’s da noch.“
Georg schwieg. Dann sagte er: „Die hacken auf einem rum, wenn du nicht dabei bist.“
„Wer ist die?“
„Verdammt, Mark, du kapierst nichts.“
Er spießte sich eine Kastanie aus dem Feuer, schälte sie und biss ein Stück ab. „Was ist eigentlich mit den Juden los“, fragte er plötzlich, als hätte er die ganze Zeit darüber nachgedacht. „Erkläre mal, warum die Nazis Wut auf die Juden haben.“
Das traf mich. Mich verwirrte, dass ich es nicht wusste.
„Keine Ahnung”, sagte ich. „Kann ich nicht sagen.”
Einen Augenblick lang sah mich Georg prüfend an. Dann schob er mir eine Kastanie zu und sagte: „Brauchst du auch nicht – so oder so, wir bleiben Freunde.“ Er wartete, und weil ich schwieg, fügte er mit Nachdruck hinzu: „Oder etwa nicht?”
Jetzt, da ich dies niederschreibe, liegen die Jahre zwischen mir und Georg und dem vom Krieg zerrütteten Deutschland. Ist es nicht längst zu spät, so zu schreiben? Ich weiß es nicht. Oder sage ich nicht gerade zur rechten Zeit: Georg ist noch immer mein Freund, und seine Leute sind mir nah.
Es gibt Dinge, die man früh lernt und die in einem bleiben und mit den Jahren wachsen. Und stets sind es die einfachen Dinge. Sie wiederholen sich, sie verbinden sich zu einer Kette, die von der Kindheit bis in die Mannesjahre reicht.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.
Erstmals 1990 veröffentlichte Joachim Lindner im Verlag der Nation Berlin „Die Frucht der bitteren Jahre. Erzählung über den Kammergerichtsrat und Dichter E. T. A. Hoffmann“: Wer war E.T.A Hofmann? Wo und vor allem wie hat er gelebt? Auf ungewöhnliche Weise nähert sich Joachim Lindner in diesem Buch dem Menschen und Künstler, seinem Leben und seiner Kunst. Im Frühjahr 1882 wird ein Berliner Student, der mit Hoffmann verwandt ist, gebeten, Briefe seines Vetters wortgetreu abzuschreiben.
Auf diese Weise gelingt es dem Autor, die Lebensstationen Hoffmanns zwischen Königsberg und Berlin, seine politischen und künstlerischen Auffassungen, aber auch seinen persönlichen Mut, sich für Recht und Gerechtigkeit einzusetzen, auf literarische Weise dazustellen.
Gottlieb, so der Vorname des Berliner Studenten, lernt wie der Leser E.T.A. Hoffmann sehr viel genauer und ganz anders kennen als es das häufig in der Öffentlichkeit herumschwirrende Zerrbild vom ewig betrunkenen Gespensterdichter vorgibt – eine Einladung, dem wirklichen Hoffmann näher zu kommen.
Bemerkenswert ist ein Vorspruch des Autors zu seinem Buch: „Die Personen sind bis auf eine, die einer Erzählung Hoffmanns entlehnt wurde, historisch verbürgt. Ähnlichkeiten sind nicht zufällig, sondern, soweit es im Vermögen des Verfassers stand, angestrebt.“ Begeben wir uns also in das Frühjahr des Jahres 1822 in die Berliner Friedrichstraße:
„1. Kapitel
In keiner als in dieser düstern
verhängnisvollen Zeit,
wo man seine Existenz von Tage zu Tage
fristet und ihrer froh wird,
hat mich das Schreiben so angesprochen —
es ist, als schlösse ich mir
ein wunderbares Reich auf,
das, aus meinem Innern hervorgehend
und sich gestaltend,
mich dem Drange des Äußern entrückte.
[*] T. A. Hoffmann am 19. August 1813 vor der Schlacht bei Dresden an seinen Verleger C. F. Kunz
An einem Märzmorgen des Jahres 1822, einem der ersten frühlingshaften Tage jenes Jahres, verließ ein junger Mann sein Quartier in der Berliner Friedrichstraße, um seinen Vetter, den Kammergerichtsrat Hoffmann, zu besuchen. Sein Weg führte durch jenes Stadtviertel, das, in wenigen Stunden zerstört und in vier Jahrzehnten wieder aufgebaut, heute nahezu so aussieht wie zu des Kammergerichtsrats Tagen — ein Wunder, das ihn kaum in Erstaunen versetzt hätte, da er in seinen Erzählungen die guten und nützlichen, mehr noch die schlimmen, unheilvollen Seiten moderner Entwicklung erahnt und vorweggenommen hat.
Aber niemand, selbst sein leiblicher Vetter nicht, glaubte ihn ernst nehmen zu müssen, sodass dann die spätere Wirklichkeit die Fantasie des Dichters weit übertraf. Was er schrieb, meinte der junge Mann, mochte gut und ergötzlich sein, jedenfalls lasen es die Leute gern; ihm indessen, dem Studenten der Rechte an der Berliner Universität, lag mehr an der Unterhaltung des geistreichen und witzigen Mannes, so bissig und spöttisch er mitunter auch sein konnte.
Eben deswegen war er an jenem sonnigen Märzmorgen unterwegs zum Gendarmenmarkt, einem der schönsten Plätze Altberlins, mit Schinkels Theater in der Mitte, flankiert von den Türmen der deutschen und französischen Kirche. Dort, an der Ecke Tauben- und Charlottenstraße, im Hause des Geheimen Obersteuerrats von Alten, wohnte sein Vetter, der Kammergerichtsrat und Dichter E. T. A. Hoffmann. Als gewandter Zeichner und Karikaturist hatte er das belebte Viertel sehr anschaulich auf einer Skizze festgehalten und sie dem jungen Mann gezeigt, den er wie den Studenten aus dem Goldnen Topf Anselmus nannte, obwohl er Gottlieb hieß und mit jener merkwürdigen Figur nichts gemein haben wollte, die sich teils in der wirklichen, teils in einer imaginären Welt aufhielt. — Zugutezuhalten war es Hoffmann, dass es sich um ein Märchen handelte, wenn auch aus neuer Zeit; und nicht die märchenhaften Züge irritierten Gottlieb, sondern wie Hoffmann mit der Wirklichkeit umsprang. Warum machte er sich über so brave und biedere Leute wie den Konrektor Paulmann oder den Registrator Heerbrand lustig und zog ihnen den geheimen Archivarius Lindhorst vor, den er doch selbst einen wunderlichen, merkwürdigen Mann nannte?
Wie mit dieser und manch anderer Erzählung konnte sich Gottlieb auch mit des Vetters Skizze vom Gendarmenmarkt bei allem Respekt vor dessen Zeichenkünsten nicht recht befreunden, denn auch dort schienen ihm Wirklichkeit und Erfindung, Reales und Fantastisches auf eine nicht geheure Art gemischt. Dass sich auf den Straßen rings um den Platz, wie Hoffmann ihn dargestellt hatte, dessen Freunde und Bekannte aufhielten, fand er ganz amüsant: Da näherte sich in flotter Fahrt der Baron Fouqué in seiner hochherrschaftlichen Kutsche den Ständen der Gemüseweiber vor der deutschen Kirche; dort, in der Markgrafenstraße, begegnete Ludwig Tieck, gefolgt von Clemens Brentano, seinem Schwager Bernhardi. Der Vetter selbst fehlte nicht, am Fenster seines Arbeitszimmers stehend, unterhielt er sich mit dem aus dem Nachbarfenster blickenden Schauspieler Ludwig Devrient, seinem Freund und Zechbruder, wie man ihn wohl nennen musste. Doch was sollte es, dass er gleichzeitig im Schlafkabinett neben seiner Ehefrau Mischa lag?
Immerhin konnte man es gelten lassen, und vielleicht auch, dass er, als Komponist, Kapellmeister und Theaterenthusiast mit den Vorgängen im Schauspielhaus eng vertraut, wie durch die Mauern hindurch in das Innere des Musentempels zu blicken vermochte und genau wusste, was sich zur Mittagszeit, wie die Theateruhr anzeigte, dort zutrug. Im Direktionszimmer empfing eben der Intendant Graf Brühl drei Dichterlinge, die ihm devot ihre Manuskripte darboten, während sich vor dem leeren Parkett mehrere Damen und Herren mit weit aufgerissenen Mündern im Chorgesang übten und im Theaterrestaurant der schwergewichtige Kapellmeister Anselm Weber ein volles Tablett in beiden Händen vor sich hertrug. Doch wer war das schmächtige Männchen, das ihn gelassen und mit verschränkten Armen erwartete? Kein anderer als der Kapellmeister Kreisler aus Hoffmanns Erzählungen, der ihm überdies zum Verwechseln ähnelte. Und schaute man genauer hin, dann wimmelte es auf den Straßen von Figuren aus dem Reich der Dichtung. Abgesehen davon, dass nicht einzusehen war, was ein Löwe und ein Vogel Strauß zur Mittagsstunde auf dem Gendarmenmarkt zu suchen hatten nebst einem auf dem Giebel des Schauspielhauses herumturnenden Affen — war es merkwürdig, ja absonderlich, dass sich Erasmus Spikher aus den Abenteuern der Silvester-Nacht, der Doktor Dapertutto mit der Kurtisane Guilietta Arm in Arm auf der Straße bewegten, als gehörten sie ebenso dorthin wie die gestikulierenden Juden, der mit geschultertem Gewehr zur Wachablösung marschierende Soldat oder der Anonymus, der in der Nähe des Kammergerichts seine Notdurft verrichtete. Kein Wunder, dass auch der Student Anselmus, die lange Pfeife schmauchend, am Bildrand erschien und dicht neben dem großen Klecks Chamissos Peter Schlemihl, wie immer ohne Schatten.
Der Vetter war ein Schelm und trieb ein verwirrendes Spiel mit dem braven Bürger, auf der Skizze genauso wie in seinen Erzählungen. Auch ihn, den Studenten Gottlieb, verspottete er gern und oft so lange, bis ihm das Blut zu Kopf stieg. Dennoch zog es ihn immer wieder zu dem seltsamen Mann, dem an seinen Besuchen gelegen zu sein schien, besonders, seitdem er krank war und die Wohnung nicht mehr verlassen konnte. Die Beine versagten ihm den Dienst, sodass der sonst so lebhafte und bewegliche Vetter an den Lehnstuhl gefesselt war. Das ertrug er mit großer Fassung und litt mehr unter einem geistigen Versagen, das damit verbunden war. Er vermochte nämlich nicht mehr seine wie eh und je wie aus einem Quell sprudelnden Gedanken und Einfälle zu Papier zu bringen, und zwar nicht, weil ihm die Finger den Gehorsam versagten, sondern weil die Gedanken, sobald er sie schriftlich fixieren wollte, wie Rauch im Wind zerstoben.
So hatte ihm sein Hang zum Schreiben keinen Segen gebracht, sondern im Gegenteil schwarzes Unheil über ihn heraufbeschworen. Auch seine körperliche Hinfälligkeit nahm zu; die Lähmung erfasste, von den Füßen aufsteigend, allmählich den ganzen Körper. Gottlieb hatte ihn lange nicht mehr gesehen. Immer wenn er ihn besuchen wollte, öffnete ein grämlicher Invalide die Tür und erklärte ihm, er sei der Pfleger des Herrn Kammergerichtsrats, der so krank sei, dass er niemanden empfangen könne.
Daher wagte er an jenem Märzmorgen, vor dem Hause des Geheimen Obersteuerrats von Alten angelangt, kaum, den Blick zum Fenster zu heben, aus dem Hoffmann sonst das bunte Gewimmel auf dem Gendarmenmarkt beobachtete. Doch leuchtete dort nicht die rote Mütze, die der Vetter gern zu tragen pflegte? Kein Zweifel, er saß wie in guten Tagen, in seinen Warschauer Schlafrock gehüllt, am Fenster. Gottlieb zog sein Taschentuch und winkte — der Vetter winkte zurück und nickte, er durfte also kommen. Kurz darauf stand er, noch atemlos vom raschen Treppensteigen, vor der Tür, die der Invalide diesmal bereitwillig öffnete.
Der junge Mann war nicht wenig erstaunt, als er einige Wochen später alle Einzelheiten seines Besuchs in Symanskis Zuschauer gedruckt las, in einer Folge von sechs Fortsetzungen. Von einer zur anderen wurde er immer gespannter, denn was würde der Vetter wohl über ihn ausplaudern, oder verwandelte er ihn gar in eine seiner Fantasiegestalten?“
Erstmals 1982 erschien im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig „Leben. Nicht allein“ von Heinz Kruschel: Renate Jago ist eine erfolgreiche junge Frau: Sie hat ihr Journalistikstudium abgeschlossen, in der Redaktion bieten sich ihr alle Aufstiegschancen, die sie unbekümmert nutzt. Sie lebt mit der kleinen Tochter Suse allein — nicht mit Suses Vater, dem verheirateten Riska, nicht mit dem Bildhauer Friedrich Perr, den sie einmal liebte.
Sie will auf eigenen Füßen stehen, sie will ihre Ziele erreichen, ohne kräftezehrende Bindungen. Da geschieht etwas, das ihr ganzes bisheriges Leben verändert, alle Zukunftspläne in Frage stellt: Suse verunglückt tödlich. Wie soll Renate nun weiterleben? Wie sollen sich die anderen gegenüber dem maßlosen Leid verhalten? Taugt Arbeit als Therapie? Oder wäre ein Kind von Riska eine Lösung?
Heinz Kruschel erzählt vom schwierigen Weg Renates aus der Isolation hin zu einem Leben — nicht allein. Und so beginnt der spannende Roman. Wir treffen zum ersten Mal auf Renate Jago:
„Teil 1
Die wahre Tapferkeit besteht darin, dass man ohne Zeugen tut, was man vor den Augen der ganzen Welt zu tun imstande wäre
La Rochefoucauld
1.
Vera Severin erschrak doch, als die junge Frau den Sekretär nicht weiterreden ließ. Denn nach dem Programm, das durchgesprochen und beschlossen worden war, hätte er weiterreden müssen.
Aber Renate Jago sprach, unter dem beifälligen Gemurmel der Erwachsenen, selber weiter, und zwar frei. Es war so, als habe sie diesen Sekretär, ihren Vorgesetzten doch, schon abgelöst von seiner Funktion, als habe sie über ihn das Urteil gesprochen: Du bist fehl auf deinem Platze.
An dem Tage lernte Vera Severin, Journalistin und verantwortlich für die Unterhaltungsbeilage der Tageszeitung dieser Gegend zwischen dem Mittelgebirgsrand und den Flüssen, die der Elbe zuflossen, Renate Jago kennen. Die Jago war eine Frau von zwanzig Jahren. Schwarze Haare, offen auf schmalen Schultern liegend, von fester, kleiner Gestalt. Sie rauchte stark und sprach schnell. Für Vera war sie irgendeine Mitarbeiterin in irgendeinem Bereich der Leitung des Jugendverbandes.
Renate Jago stand hinter dem Sekretär, einem dicken jungen Mann, der eine rote Mappe unter dem Arm hielt und sehr aufgeregt war.
Klasse um Klasse marschierte auf. Wimpel und Fahnen flatterten in dem frischen Wind, der von der Elbe her über die Wiesen wehte. Die Kinder waren aufgeregt. Sie hatten das Aufmarschieren geübt, den Ablauf des Appells, sie hatten sich die Kommandos eingeprägt. Alles war oft geprobt worden, und dennoch waren sie neugierig geblieben. Neugierig auf die Ehrengäste. Zum Beispiel auf die alte Frau, die mit dem Manne zusammengelebt hatte, dessen Namen ihre Schule tragen sollte. Neugierig auf den roten Sergeanten, der den Mann einmal befreit hatte, vor vierzig Jahren.
Der Gedenkstein noch verhüllt, auch die Schrift an der Stirnseite der Schule. Trommeln und Lautsprecher übertönten das Hundegebell im Dorf. Die Musiklehrerin dirigierte mit ausholenden Armbewegungen einen kleinen Chor. Aber das Lied flog schnell hinweg in den Wind. Es war viel zu dünn, um den weiten Platz zu füllen.
Vera Severin sah die Gesichter der Kinder: so erwartungsvoll. Diese großen Augen, so ernst. Diese schönen, offenen Gesichter, hoffentlich werden sie nicht enttäuscht.
Für die Kleinen aus den ersten und zweiten Klassen hatte man Bänke hingestellt. Vera wusste, dass sie sich erst dagegen gewehrt hatten. Sie wollten wie die Großen stehen, auch wenn es Stunden und Stunden dauern sollte. Nun saßen sie aufgereiht, die Knie aneinandergepresst. Das Lied konnten sie nicht verstehen, dennoch blieb in ihnen die Vorfreude wie eine Brücke in Unbekanntes.
Vera Severin stand in der zweiten Reihe, hinter der alten Frau, die ihren hellen Mantel offen trug, und hörte, wie sie den Direktor leise fragte: „Können denn nicht alle Kinder gemeinsam ein Lied singen? Früher, da …“ Mehr konnte sie nicht verstehen, weil aus den Lautsprechern Lieder und Märsche dröhnten. Die alte Frau schüttelte den Kopf. Ihr dünnes, weißes Haar bewegte sich im Wind wie zartes Geseide.
Oder die Hymne, dachte Vera Severin, seit Jahren singen wir unsere Hymne nicht mehr, weil der Text nicht mehr zeitgemäß ist, weil zwei Staaten mit ganz unterschiedlichen Systemen auf deutschem Boden existieren, weil der Staat des Gestern das Deutschland-einig-Vaterland deuten würde zu seinen Gunsten, ummünzen zu seinen Forderungen, dienlich machen seinen Zielen, die Geschichte zurückzudrehen. Aber unser Land, dachte Vera, hat doch seine Dichter, es hätte einen neuen Text geben können, eine Hymne muss man singen, so aber stehen unsere Sportler als Sieger stumm auf den Podesten, wenn AUFERSTANDEN AUS RUINEN UND DER ZUKUNFT ZUGEWANDT ertönt, und halten die Lippen geschlossen.
Die Begrüßung durch mehrere Redner. Auch die alte Frau sagte wenige Worte. Eine erste Amsel sang dazu im Gesträuch des gelben Ginsters. Die alte Frau sprach ohne einen Zettel in der Hand. Sie trat einen kleinen Schritt vor, sie sprach, stark berlinernd, erregt auch, stockend. Es war fast vierzig Jahre her, seit der Mann in einem fensterlosen, auszementierten Raum guillotiniert worden war. Sie hatte ihn als Vierzigjährigen in Erinnerung. Kann sie sich vorstellen, wie er heute aussähe, weißhaarig vielleicht, sich auf den Stock stützend. Er hatte immer volles, schwarzes Haar und war ein trainierter Sportler, kann sie sich vorstellen, wie er aussehen würde, lebte er noch?
Die alte Frau sprach nicht lange, aber eindringlich. „In mir lebt noch viel Schmerz. Er rührt sich heute wieder, und ich glaubte schon, er wäre für immer versteinert. Aber es ist gut, dass sich der Schmerz rührt, hier, bei euch. Diese Schule wird seinen Namen tragen. Ihr werdet erfahren, wie er lebte, wie er kämpfte und auch, wie er starb. Entschuldigt, dass ich euch das nicht selber erzähle, ich … Ich kann das nicht.“
Nicht jedes Wort konnte Vera verstehen, so laut sprach die kleine alte Frau nicht. Ein Mädchen weinte und ließ ihre Tränen laufen. Vera schluckte. Sie zwang sich, einen großen Jungen anzusehen, der die Fahne, die er trug, höher nahm, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Andere Jungen stießen sich untereinander an. Vielleicht dachten sie: Ausgerechnet der Lange, was ist in ihn gefahren, will er gesehen werden von der Alten oder vom Direktor?
Der Große sah so aus, als gehörte er zu denen, die abends mit ihren Mopeds die Dorfstraßen und den stillen Anger unsicher machten. Vera dachte: An dieser Stelle hätte mein kluger Frank gesagt, dass jedes Erlebnis, das ein Mensch hat, irgendwie dispositionsbildend wirken kann. So trocken kann der das sagen: Was dieser Junge tut, kann schon der Ansatz zu einer künftigen Haltung sein.
Ein anderer stieß den Großen von hinten in den Rücken. Ganz langsam senkte er die Fahne wieder.
Ruhe. Nur die Jago flüsterte mit dem Sekretär und strich das lange Haar aus ihrem Gesicht, sie hatte schönes, schwarzes Haar. Vera Severin verstand nicht, wie man nach solchen Worten flüstern konnte.
Die alte Frau verneigte sich vor dem noch immer verhüllten Gedenkstein und trat rasch in die Reihe zurück. Sie schwankte, wenig nur. Vera bemerkte es und legte ihre Hand auf die dünne Schulter der Frau, die sich nicht umdrehte, sondern mit ihren kühlen Greisenfingern Veras Hand suchte und die Finger verschränkte. Eine stumme Geste. Sie verstanden sich. So stehen, das kann stark machen und Kraft geben und das Gefühl, nicht allein zu sein.“
Erstmals 2006 veröffentlichte EDITION digital als Eigenproduktion als Online-Ausgabe „Das Schloss im Feuerschein. Eine Geschichte um das Schweriner Schloss“ von Renate Krüger: Die Autorin schildert anschaulich die Feierlichkeiten zur Einweihung des umgebauten Schweriner Schlosses am 26. Mai 1857, den 35. Geburtstag der Großherzogin Auguste an diesem Tag, die erste Filmvorführung im Goldenen Saal, Petermännchens Warnung und schließlich den verheerenden Schlossbrand im Dezember 1913. Hier eine Episode über die erste Filmvorführung im Schweriner Schloss und einen ziemlich schlechtgelaunten Kammerdiener mit dem treffenden Namen Mau:
„Kino im Goldenen Saal
Es ist viele Jahre später.
Mit finsterer Miene und voller Widerwillen führt der Kammerdiener Mau die Befehle des Hofmarschalls aus. Er soll im Goldenen Saal einen Tisch aufstellen. Der darf auf keinen Fall wackeln. Und dann noch Stühle im Halbkreis anordnen und im übrigen alles tun, was der Herr Ingenieur wünscht. Das passt dem Kammerdiener Mau gar nicht, und dafür hat er Gründe.
Was hat ein Ingenieur, der nicht einmal von Adel ist, im Goldenen Saal zu tun? Soll er mit seinem Teufelsapparat bleiben, wo der Pfeffer wächst! Aber leider will sich Seine Königliche Hoheit der Großherzog selbst den Apparat vorführen lassen, und das kann nur ein Ingenieur, nicht ein Kammerdiener, der schon Mühe hat, den Namen dieser Teufelsmaschine richtig auszusprechen.
Kinematographischer Edison-Sprechapparat. Dabei bricht man sich ja die Zunge ab!
Das Ungetüm wird herein getragen, der Ingenieur lässt es auf den Tisch stellen.
„Nun brauchen wir eine Leinwand“, sagt er, „und dann müssen wir den Apparat an die Elektrizitäts-Leitung anschließen.“
Es dauert lange, ehe sich der Kammerdiener dazu herablässt, ein großes weißes Tischtuch aus der Leinenkammer zu holen und über ein Bild an der Wand zu spannen.
Der Ingenieur dreht am Rädchen und stellt Hebel. Aus dem Apparat beginnt es zu sprechen, eine heiser knarrende Stimme ertönt, verstehen kann man fast gar nichts. Über die Leinwand huschen Schatten, nein, das sind Bilder, das sind lebendig gewordene Bilder von lebendigen Menschen!
Dem Kammerdiener Mau läuft es kalt über den Rücken, aber er kann seinen Blick doch nicht von diesen Bildern losreißen. In den Türen des Goldenen Saales erscheinen Diener, Zimmermädchen, Küchenmamsellen, stoßen sich in die Seite und reißen Mund und Augen auf.
Wat dat all gifft!
Da erkennt man tatsächlich einen Reiter in Uniform. Er wird doch nicht etwa mitten in den Goldenen Saal hereintraben?
Der Kaiser! Das ist doch der Kaiser!
„Raus mit euch! An die Arbeit!“, ruft der Kammerdiener.
„Nun lassen Sie die Leute“, beschwichtigt der Ingenieur, „das ist doch mal etwas Neues!“
Ja, das ist wirklich neu, das hat es früher nicht gegeben. Da wurden im Goldenen Saal Feste mit Musik und bei Kerzenlicht gefeiert, aber nun ist alles elektrisch, und die Musik wird wohl auch bald aus unheimlichen Apparaten kommen.
Morgen Abend will Königliche Hoheit eine Gesellschaft geben und diese Neuheit hier vorführen.
Morgen, am 16.Dezember 1913.
Seit der Einweihung des Schlosses sind 56 Jahre vergangen. Vieles hat sich verändert. Onkel Willi, der Prinz von Preußen, war noch im hohen Alter deutscher Kaiser geworden, und nun ist natürlich auch sein Sohn deutscher Kaiser, er heißt gleichfalls Wilhelm. Mecklenburg ist kein ganz selbstständiger Staat mehr, sondern ein Teil des deutschen Kaiserreiches. Aber der Großherzog residiert noch immer in seinem prächtigen Residenzschloss, und er heißt noch immer Friedrich Franz, allerdings mit der Zahl IV hinter seinem Namen. Er lässt sich nur noch selten in der Hofkutsche fahren, sondern benutzt meist das Auto. Im Schloss gibt es Telefon, Zentralheizung und Wasserspülung auf den Toiletten.
Auch die Umgebung des Schlosses sieht anders aus. Neben dem alten Alexandrinenpalais erhebt sich ein prächtiges neues Theater, das alte war ein Raub der Flammen geworden. Und die Fundamente, die einst zu einem neuen Schloss errichtet wurden waren, tragen nun einen stattlichen Museumsbau mit großen Fenstern, langen Galerien und hohen weiten Sälen.
Durch die Büsche des Schlossgartens schimmert eine überlebensgroße Statue der alten Hoheit Alexandrine, der Urgroßmutter des heutigen Großherzogs, von der heute noch jedermann spricht.
Noch immer gibt es in Schwerin rauschende Feste bei Hofe. Die Schneider und Modistinnen haben Hochkonjunktur. Jeden Tag steht in der Zeitung, wo sich Seine Königliche Hoheit der Großherzog und Ihre Königliche Hoheit die Großherzogin gerade aufhalten, welche Gäste sie empfangen, welche Geburtstage sie feiern. Heute sind sie zur Jagd im Land des Vetters, des Großherzogs von Mecklenburg-Strelitz, aber sie werden bald zurückkommen, denn der Großherzog will sich, wie gesagt, selbst von der Wirkung des neuen kinematografischen Edison-Sprechapparates überzeugen, damit morgen auch alles klappt.
Als der Kammerdiener Mau ins obere Stockwerk steigt, um Stühle und Tischchen herunterholen zu lassen, hat sich sein Groll noch immer nicht gelegt, und nun kommt neuer dazu.
Wie sieht es hier oben aus! Der große Saal, zum Burgsee und zur Stadt hin gelegen, ist zum Abstellraum geworden. Hier werden nicht nur die Stühle, die man nur zu Festlichkeiten braucht, gelagert, sondern hier haben sich inzwischen auch alle ausrangierten Möbel zusammen gefunden: alte Sessel mit verblichenen Bezügen, die Troddeln abgerissen, die Armlehnen zerbrochen, alte Bettgestelle mit zerlöcherten Matratzen, aus denen die staubige Füllung dringt, ja sogar das Bettzeug liegt hier herum. Beim kleinsten Luftzug wirbeln die Federn. Schade um die schönen verschnörkelten Schränkchen mit den vielen Fächern, die nun hier oben unter einer dicken Staubschicht verschwinden, nur weil der Hofmarschall dem Großherzog dauernd einredet, er müsse neue Möbel anschaffen, auch in seinem Schloss soll es modern aussehen!
Und nun muss sich der Kammerdiener Mau auch noch selbst mit den Stühlen abschleppen, denn niemand vom Dienstpersonal ist zu sehen. Dieses Stockwerk liegt meist völlig verlassen da. Vorsichtig und verbissen balanciert der Kammerdiener die Stühle über die schwarze Marmortreppe hinunter in den Goldenen Saal, es ist nicht weit.
Soeben fährt das Auto des Großherzogs in den inneren Schlosshof ein. Der Chauffeur springt von seinem Sitz, reißt die Ledermütze vom Kopf und öffnet den Wagenschlag, damit die Königlichen Hoheiten aussteigen können.
Es ist schon dunkel. Der Nieselregen hat aufgehört, und die Wellen des großen Sees kräuseln sich im zunehmenden Nordostwind.
„Wir wollen alle Fensterladen schließen lassen, denn heute Nacht wird es tüchtig wehen“, sagt der Großherzog und geht in sein Schlafzimmer, um sich zu erfrischen und bequeme Hauskleidung anzulegen.
Kurze Zeit drauf begibt er sich in den Goldenen Saal, lässt sich die neue Technik vorführen und nickt befriedigt, worauf sich der Ingenieur tief verbeugt. Der Kammerdiener Mau trägt dem Großherzog mit unbewegtem Gesicht den Aschenbecher nach, damit der die Zigarrenasche abstreifen kann.
Dann geht der Großherzog in seine Wohnung zurück und lässt das Abendessen servieren.
Kino im Goldenen Saal – das wird eine Überraschung!“
Erstmals 2017 veröffentlichte EDITION digital „Ein Leben in drei Deutschlands. Deutsch-deutsche Geschichte in persönlichen Erlebnissen und Geschichten“ von Claus Göbel – und zwar sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book: Schon wieder ein Buch über die DDR und die Wende? Was soll das? Es ist doch schon alles gesagt!
Warum also noch dieses Buch?
Claus Göbel, 1938 in einem sächsischen Dorf geboren und aufgewachsen, ist ein Kind dreier Deutschlands. Er hat sieben Jahre im Nationalsozialismus des Deutschen Reiches, 40 Jahre in der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik und 27 Jahre in der kapitalistischen Bundesrepublik Deutschland gelebt. Als Zeitzeuge dieser unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen erzählt er lustige und weniger lustige Geschichten und Anekdoten über persönliche Erlebnisse und Erfahrungen, die nahezu alle einen politischen Hintergrund aufweisen; gewissermaßen deutsch-deutsche Geschichte in Geschichten.
Den jungen Lesern, welche diese Zeiten selbst nicht erlebt haben, bringt er die vergangenen 70 Jahre aus einem ganz persönlichen Blickwinkel näher und trägt damit zu einem tieferen Verständnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge in den drei Deutschlands bei.
Ältere Zeitgenossen hingegen werden sich durch seine Geschichten verstanden fühlen oder ganz andere Erfahrungen gesammelt haben. Wie auch immer: Wenn die Lektüre dieses Buches ältere Leser zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den erzählten Geschichten und zum Nachdenken über ihr eigenes Leben in diesen Zeiten anregen kann, wäre das wichtigste Ziel dieses Buches erreicht, so fasst der Autor im Sommer 2017 in Dresden seine Absicht zusammen, warum er dieses Buch geschrieben habe. Und so beginnen die deutsch-deutsch-deutschen Geschichten von Claus Göbel:
„Mein erstes Deutschland: Das Deutsche Reich (DR)
Die Gnade der späten Geburt
Im Jahr 1938 im Dorf Groß-Cotta südlich von Pirna geboren, bin ich ein Kind des Zweiten Weltkrieges, dem grauenvollsten Krieg, den unser Erdball je gesehen hat. Zu meinem großen Glück war ich zu jung, um direkt in diesen Krieg hineingezogen zu werden. Einige Jahre älter, wäre ich sicher in den Fängen der Hitler-Jugend gelandet, und wäre ich noch älter, hätte ich vielleicht an der Ostfront kämpfen müssen. Ob ich dann diesen Krieg überlebt hätte, steht in den Sternen. Genauso wenig weiß ich, ob ich eventuell nicht doch dem Gift des Nationalsozialismus erlegen gewesen und mit den Nazis mitmarschiert wäre. Insofern bin ich außerordentlich dankbar für die Gnade der späten Geburt. Dieses Wort, das mir von Ex–Bundeskanzler Helmut Kohl bekannt ist, drückt die Zufälligkeit aus, mit der wir ohne eigenes Zutun ins Leben geworfen werden.
Ich setze diese Zeilen bewusst an den Anfang dieses Buches, weil ich in meinem Leben viele großartige Menschen kennengelernt habe, denen diese Gnade nicht vergönnt war. Auch sie wollten als junge Menschen lernen und studieren, eine Familie gründen und friedlich leben. Sie waren aber zu früh geboren und mussten in diesen verfluchten Krieg ziehen, weil eine Kriegsdienst-Verweigerung lebensgefährlich war. Insofern habe ich auch größte Hochachtung vor den Menschen, die sich als Widerstandskämpfer tapfer gegen den Faschismus gestellt und dabei oft ihr Leben riskiert haben.
Das Dorf Cotta
Das Dorf Cotta, wo ich meine Kindheit und Schulzeit verbrachte, ist kein gewöhnliches Dorf. Cotta ist ein berühmtes sächsisches Dorf. Unterhalb des 391 m hohen Basalt-Bergs „Cottaer Spitzberg“ gelegen, wurde dieser Ort vor allem durch seine Sandsteinbrüche im Lohmgrund bekannt. In diesen Steinbrüchen wird seit Jahrzehnten der feinkörnige, hellgelbe, relativ weiche und deshalb als Bildhauer-Sandstein besonders geeignete Cottaer Sandstein gebrochen. Viele Skulpturen und Verzierungen an den historischen Bauwerken Dresdens und anderer europäischer Städte sind ohne den Cottaer Sandstein nicht denkbar. Ob beim Bau des barocken Palais im Großen Garten, des Zwingers oder der Frauenkirche, überall in Dresden ist Sandstein aus Cotta als Bildhauer-Sandstein verwendet worden.
Vor einigen Jahren nahm ich an einer Führung durch die Sehenswürdigkeiten Potsdams teil, als am Neuen Palais eine Kunsthistorikerin beiläufig darauf hinwies, dass alle Skulpturen am Neuen Palais in Potsdam aus Cottaer Sandstein gefertigt worden sind. Vor Stolz schwoll mir regelrecht die Brust. Und nachdem ich mich ihr gegenüber als geborener Cottaer zu erkennen gegeben hatte, ergänzte sie: „Ich war erst vor wenigen Wochen in Ihrem Sandsteinbruch, um mich direkt vor Ort über die Technologie des Sandstein–Abbaus zu informieren. Es war hochinteressant!“– Hallo, dachte ich, was für eine angenehme Überraschung!
Unser Dorf weist noch eine weitere Berühmtheit auf, den Cottaer Tunnel. Um diesen 252 Meter langen Eisenbahntunnel, der von 1894 bis 1957 die Sandsteinbrüche im Lohmgrund mit der ehemaligen Eisenbahnstrecke Pirna – Groß-Cotta verband, gab es kurz vor Kriegsende ein großes Geheimnis. Wir Dorfbewohner ahnten, dass dort etwas sehr Wertvolles versteckt wird, wussten aber nichts Genaues. Erst nach Kriegsende wurde das Geheimnis gelüftet.
Doch das ist eine besondere Geschichte!“
Aber bis wir erfahren, was es mit diesem Geheimnis auf sich hat, da müssen wir wohl noch ein wenig warten und weiterlesen. Es hat jedenfalls, soviel dürfen wir an dieser Stelle doch schon mal verraten, mit einer der berühmtesten Madonnen und ihrer mehr als wundersamen Rettung zu tun. Und natürlich mit Dresden, wo die schönste Frau der Welt, wie sie auch bezeichnet wird, 2012 einen bemerkenswerten runden Geburtstag feiern konnte. Neugierig geworden?
Viel Vergnügen beim Lesen und beim Nachdenken über Deutschland, bleiben auch Sie ab jetzt mehr oder weniger unmaskiert weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
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