Die Rehabilitation von Neurologischen und Neurochirurgischen Erkrankungen hat sich mit neuen individualisierten Behandlungsansätzen zu einem rasant wachsenden Fachgebiet entwickelt. „Höher, schneller, weiter!?“ ist das Kongressmotto der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation (DGNR) e. V. und der Deutschen Gesellschaft für Neurotraumatologie und Klinische Neurorehabilitation (DGNKN) e. V. bei der 9. Gemeinsamen Jahrestagung. Der multiprofessionelle Kongress mit spezialisierten Medizinern, klinischen Wissenschaftlern und Therapeuten findet vom 8. bis 10.12.2022 in Dresden statt. Die Kongresspräsidenten Prof. Dr. rer. medic. Jan Mehrholz, Professor für Therapiewissenschaften SRH Hochschule für Gesundheit Gera und Prof. Dr. med. Marcus Pohl, Ärztlicher Direktor der VAMED Klinik Schloss Pulsnitz, geben vorab erste Einblicke in Schwerpunkte und Highlights.  

Führende Experten aus allen Fachgebieten der Neurologie und Rehabilitation stellen neue Erkenntnisse und Perspektiven für die Patienten vor, z. B. in Symposien zu Gang und Mobilität, Hygiene, Kognition, Motorik, Aphasie. Welche erfolgversprechenden Behandlungsansätze für Patienten mit neurologischen Funktionsbeeinträchtigungen werden diskutiert?

Prof. Mehrholz: Wir freuen uns auf eine große Vielfalt an Themen der neurologischen Rehabilitation. Aus meiner Sicht sind unter anderem erfolgversprechende Behandlungsansätze das Training wie zum Beispiel das Krafttraining oder die virtuelle Realität, aber eine Reihe anderer Themen.

Prof. Pohl: Wir alle nutzen im Alltag unsere Smart-Phones. Es ist sehr interessant mit zu verfolgen, wie diese Techniken auch im Rehabilitationsalltag Einzug nehmen. Ich freue mich auf die unterschiedlichen Präsentationen zu diesem Thema und auf die Diskussionen. 

Welche Schwerpunktthemen haben Sie gesetzt, die Ihnen besonders am Herzen liegen?  

Prof. Mehrholz:  Wir haben versucht, den Teilnehmern eine möglichst große Bandbreite an Themen anzubieten. Schwerpunkte des Kongresses sind jedoch zweifellos besonders die neurologische Frührehabilitation und der schwer betroffene Patient. Darüber hinaus war es uns wichtig, vor allem den wissenschaftlichen Nachwuchs und möglichst viele Therapeuten aus vielen Bereichen der neurologischen Rehabilitation anzusprechen.

Prof. Pohl: Gerade die Hygiene gewinnt in der neurologischen Rehabilitation zunehmend an Bedeutung. Deshalb haben wir auch hier einen Schwerpunkt gesetzt. Ein isolierter Patient kann eben nicht vernünftig rehabilitiert werden. Hier sind moderne Konzepte gefragt. Ich freue mich auf die Diskussion.

Gibt es neue Entwicklungen bei motorischen, sprachlichen, visuellen oder kognitiven Rehabilitationsansätzen z.B. durch elektrische und magnetische Stimulationsverfahren? 

Welche Möglichkeiten bietet diegerätegestützte Rehabilitation und für wen ist sie geeignet?   

Prof. Mehrholz: Ein wichtiger und interessanter Bereich ist sicherlich die nicht-invasive Hirnstimulation. Hier gibt es mittlerweile sehr viele gute Belege ebenso für die Wirksamkeit von elektromechanisch-assistierter, gerätegestützter Arm- und Gangrehabilitation speziell für schwer betroffene Patienten.

Prof. Pohl: Die gerätegestützte oder -begleitete neurologische Rehabilitation ist gar nicht mehr wegzudenken aus dem klinischen Therapiealltag. Die Beiträge zu diesem Thema sind über den gesamten Kongress gestreut und haben das Programm wesentlich beeinflusst.  

In einem eigenen Symposium zu Post-COVID/Long-COVID werden neue Erkenntnisse vorgestellt und diskutiert. Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf die Neurorehabilitation? Und welche Therapiemöglichkeiten gibt es für COVID-Patienten mit neuropsychologischen Defiziten?  

Prof. Mehrholz: Ein eigenes Symposium zum Thema post-Covid/Long-Covid ist zeifellos ein Novum und wir haben dieses direkt der Pandemie „zu verdanken“. Wir sehen uns durch die Pandemie einer Vielzahl neuer Herausforderungen gegenüber. Bislang erforscht man zum Beispiel gerade verschiedene Therapiemöglichkeiten für Patienten mit chronischem Fatique-Syndrom oder auch COVID-bedingte neuropsychologische Defizite. Wir gehen davon aus, dass das interdisziplinäre Reha-Team mit all seinen Behandlungsoptionen und eben auch die Neuropsychologie hier bedeutsam sind.

Prof. Pohl: Eine spezifische Behandlung für die Folgen von COVID-19 gibt es nicht. Umso interessante ist die Frage, welche Programme und Konzepte wirksam sind. 

Welche Strategien in der Neurorehabilitation werden diskutiert, wenn mit weniger Personal mehr Patienten versorgt werden müssen? Bieten Digitalisierung, virtuelle Therapien, Automatisierung neue Möglichkeiten? 

Prof. Mehrholz: Weniger Personal ist derzeit eines der mit Abstand größten Probleme in der Neurorehabilitation. Ich begrüße neue Technologien ausdrücklich, aber inwieweit durch Technik neue Möglichkeiten hier bestehen, fehlendes Personal zu ersetzen, ist meines Erachtens noch völlig unklar.

Prof. Pohl: Der Personalmangel in allen Berufsgruppen in der Neurologischen Rehabilitation verlangt innovative Konzepte, um den Rehabilitanden dennoch eine adäquate Rehabilitation zukommen zu lassen. Hier dient der Kongress natürlich als Austauschplattform, um voneinander zu lernen. 

Ziel der Neurorehabilitation ist es, das Hirn z. B. nach Schlaganfall, einer Rückenmarksverletzung oder einem Schädel-Hirn-Trauma in die Lage zu versetzen, durch neue Verknüpfungen alte Funktionen wieder aufnehmen zu können oder Ersatzstrategien zu lernen. Profitieren davon auch ältere Patienten?  

Prof. Mehrholz: Davon geht man derzeit aus. Zwar ist diese angesprochene Fähigkeit der Plastizität nicht nur an das Alter, sondern auch an Komorbiditäten und weitere allgemeine Faktoren (wie Kondition und/oder kognitive Leistungsfähigkeit) geknüpft, man geht aber davon aus, dass neuronale Plastizität bis in das hohe Alter stattfinden kann. Somit auch, dass Ziele der Neurorehabilitation auch unabhängig vom Alter erreicht werden können.

Prof. Pohl: Daneben sind aber das Erlernen von Kompensationsstrategien entscheidend für den Rehabilitationserfolg. Denken wir an ein vollständiges thorakales Querschnittsyndrom: Hier ist es entscheidend, dass die Patienten lernen, im Alltag ohne die Kraft der Beine zurechtzukommen, dass sie lernen, den Rollstuhl in allen Lebenslagen zu nutzen, den Transfer aus dem Bett in den Rollstuhl selbständig durchzuführen, und so weiter. Es geht also neben der sogenannten Neuroplastizität auch um das Erlenen von Kompensation. 

Die Aus-, Fort- und Weiterbildung der Pflegekräfte trägt mit zur weiteren Verbesserung der Behandlung von Patienten mit erworbenen Hirnschäden bei. Was bedeutet die Akademisierung des Teams für die Rolle des Arztes?  

Prof. Mehrholz: Ich bin selbst kein Arzt, denke aber, dass eine Akademisierung von Pflegekräften dem Fachkräftemangel, durch längeren Verbleib des Personals, vorbeugen und die interprofessionelle Versorgung verbessern kann.

Prof. Pohl: Die Rehabilitation ist grundsätzlich ein teamgeführter Prozess. Der Arzt rückt mit zunehmenden Rehabilitationserfolgen immer weiter in den Hintergrund. Hier freue ich mich auf das Symposium von Frau Prof. Gorsler zu diesem Thema.  

Ein wichtiger Fokus des Kongresses liegt auf der multiprofessionellen Zusammenarbeit. Ein Team aus Ärzten, Pflege, Physio-, Ergo-, Sprach- und Schlucktherapie bietet Patienten eine hohe Behandlungsqualität in der stationären und ambulanten Rehabilitation. Wird der hohe Standard auch schon in der Nachsorge und ambulanten (Langzeit)Betreuung erreicht? 

Prof. Mehrholz: Das kann ich leider nicht beantworten, ich denke aber, dass diese Frage auf diesem Kongress gestellt und diskutiert werden könnte.

Prof. Pohl: Da gibt es sicher noch große Lücken, wie uns die Patienten berichten, da die therapeutische Begleitung der Patienten in aller Regel nicht teamgeführt ist. Ich bin gespannt auf die Diskussion aus den verschiedenen Symposien zu diesem Thema. 

Zum Thema Leitlinien gibt es ein eigenes Symposium. Mit der Entwicklung von speziellen Rehabilitationsleitlinien – zum Beispiel in der Armtherapie, Mobilität und Spastik – ist die deutsche Neurorehabilitation weltweit führend, ein Qualitätssprung in Richtung evidenzbasierter Medizin. In welchen Bereichen werden weitere Leitlinien vorbereitet?  

Prof. Mehrholz: Ein eigenes Symposium zum Thema Leitlinien ist aus meiner Sicht sehr gut und dient der Implementierung solcher sehr aufwendig gemachten Leitlinien. Zweifellos hat man in Deutschland mit der DGNR und der DGNKN, mit der Entwicklung von S3- Rehabilitationsleitlinien den höchsten Stand der Entwicklung von Leitlinien. Dennoch müssen diese nach wie vor aktuell gehalten werden, und das in Zeiten knapper Ressourcen und wie bereits erwähnt bei Personalmangel. Wir benötigen dringend Unterstützung für die Aktualisierung und Entwicklung von Leitlinien, welche zur Zeit auf der Basis von zusätzlichem Enthusiasmus von Freiwilligen geleistet wird.

Prof. Pohl: Hier kann ich Herrn Mehrholz nur beipflichten. 

Auf welche Tagungs-Highlights sind Sie besonders gespannt? 

Prof. Mehrholz:  Ich persönlich freue mich auf die beiden Hauptvorträge „Plenary“, am Donnerstag Professorin Eva von Swinnen und am Samstag Herrn Schmeißer. Außerdem auf eine Reihe interessanter Symposien und Workshops. Die Dozenten und Teilnehmer machen das Programm!

Prof. Pohl: Ich freue mich auf die Tagung, auf Dresden und auf die Kongressteilnehmer. Ich freue mich auf angeregte Diskussionen und einen intensiven Austausch. Da bin ich ganz bei Herrn Mehrholz. 

Wir bedanken uns herzlich für das Interview! 

(Das Interview führte Kerstin Aldenhoff)

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