„Viele Bürger stehen aktuell in einer strukturellen Distanz zum Rechtsstaat, weil sie ihre verfassungsmäßig verbrieften Freiheitsrechte nicht mehr erfahren“, analysiert Kirchhof die derzeitige gesellschaftliche Großwetterlage in Deutschland. „Der Rechtsstaat muss sich deshalb fragen lassen, was er schleunigst zu ändern bereit ist“. Dabei verwendet Kirchhof das Bild vom „Verfassungsbaum“: Er wurzelt in Werten (der Aufklärung und des Christentums), die man nicht sieht, die aber gehegt und gepflegt werden müssen. Er hat einen mächtigen Stamm unveräußerlicher Orientierungen (etwa Menschenwürde oder Bundesstaatlichkeit) sowie Äste (Gesetze), die zwar beweglich sind, aber nur solange sie zu Wurzeln und Stamm in Verbindung stehen. Und die Blätter gehen im Herbst verloren, kommen aber im Frühjahr wieder – so wie die Finanzierung eines auf den Generationenvertrag basierenden Gemeinwesens. Wer jedoch auf das „süße Gift“ der Staatsverschuldung setze, verschiebe die Lasten auf nachfolgende Generationen, ohne dass diese gefragt wurden, ob sie diese auch schultern wollen oder können.
Die aktuelle Politik müsse es mit Blick auf die 75-jährige Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes – das nach den Verwüstungen des Krieges Frieden mit den Nachbarstaaten, die europäische Einigung und die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht hat – wieder schaffen, Zuversicht zu verbreiten. Unabdingbare Elemente dazu sind laut Paul Kirchhof eine erfahrbare Steuergerechtigkeit (Vereinfachung der Verfahren und Verzicht auf maximale Differenzierung), die staatlich verbriefte Sicherung gegenüber den Grundrisiken des Lebens (Arbeitslosigkeit, Krankheit und Altersarmut) und das Eintreten für die bürgerlichen Freiheitsrechte.
„Der Staat muss seine Bürger zur Freiheit befähigen, zugleich ihre Leistungen anerkennen, statt sie zu bevormunden oder dauerhaft zu alimentieren“, appelliert Kirchhof. Die demographische Entwicklung verbiete es, immer mehr staatliche Transferleistungen zu versprechen, wenn gleichzeitig weniger Leistungserbringer nachwachsen. „Wenn wir keinen Kuchen mehr haben, brauchen wir über die gerechte Verteilung der Kuchenstücke nicht mehr zu reden“, spitzt der für seine verständlichen Formulierungen bekannte Wissenschaftler pointiert zu.
Um die Jugend für Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie für das Demokratieprinzip wieder zu begeistern, wünscht sich Kirchhof eine „Reaktivierung der Kirchen“ (weil die Idee der Gottesebenbildlichkeit das Grundideal der Menschenwürde begründen hilft), eine Stärkung von Vereinen und Jugendgruppen (weil dort das regelbasierte Miteinander eingeübt wird) sowie eine neue Wertschätzung für gelebte Vorbilder in Familie, Schule und anderen Bildungseinrichtungen: „Es geht doch nicht nur um das Vermitteln kognitiver Fähigkeiten, sondern um Institutionen und Organisationen, die jungen Menschen soziales Lernen ermöglichen“.
Dem kann sich auch Augsburgs Weihbischof und Dompropst Dr. Anton Losinger vorbehaltlos anschließen: „Wir brauchen eine Mentalität, die zu einem neuen Miteinander befähigt und das Ganze in den Blick nimmt“.
Die von Weihbischof Dr. Anton Losinger (Augsburg), Europapolitiker Robert Antretter (Backnang) und Dr. Stefan Raueiser (Kloster Irsee) initiierten Irseer Gespräche bieten ein vertrauliches Dialog-Forum zwischen Kirche, Politik und Gesellschaft. Gäste waren zuletzt der langjährige Kultusminister und Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Prof. Dr. Hans Maier, Ex-Vizekanzler und Außenminister Sigmar Gabriel sowie „Weltpolitiker“ Dr. Theo Waigel.
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