Sonntag, 9. Juni. Schon seit Tagen verwandelten unzählige Techniker das EU-Parlament zum größten Pressesaal der Welt. Über 1000 akkreditierte Journalisten verfolgten die Entwicklungen in den Mitgliedsstaaten auf den Bildschirmen. Es wurden keine Steuergelder gespart, um den Eindruck zu erwecken, hier geschehe gerade etwas ganz Wichtiges. Um 23 Uhr traten endlich die amtierende Parlamentspräsidentin Roberta Metsola und ihr Generaldirektor für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Jaume Duch, auf die Bühne. Die späte Uhrzeit ist dem Umstand geschuldet, dass alle nationalen Wahlbehörden erst ihre Ergebnisse nach Brüssel übermitteln müssen, soweit das überhaupt möglich ist. Die Italiener zählen angeblich immer noch, weil deren Wahlsystem so derart kompliziert ist. Das Spektakel „Licht und Ton“ auf der Bühne erinnerte an den Versuch, irgendetwas amerikanisches nachzumachen. Der Effekt verpuffte deswegen, weil jedermann um 23 Uhr einfach erschöpft war, der Abend begann ja schon um 17 Uhr, und die Lüftung war aus. Am Ende eines langen Wahlsonntags wollte man eigentlich nur die Zahlen bestätigt sehen. Blöd nur, dass das Parlament ausgerechnet dann nicht die richtige Graphik für die Ergebnisse seiner eigenen Wahlen liefern konnte. Also wurde der Riesenbildschirm wieder ausgeknipst.
Derweil erfrischte ein politisches Erdbeben in Frankreich die einsetzende Ermattung bei der Wahlparty in Brüssel. Weil seine Partei „La République en Marche“ (mit der FDP in einer Fraktion) unerwartet ebenso massiv abstürzte wie die SPD in Deutschland, und Rassemblement national (bislang mit der AfD in der Fraktionsgemeinschaft ID) als deutlicher Sieger aus den Wahlen hervorging, löste Staatspräsident Emmanuel Macron kurzerhand die Nationalversammlung auf, so wie ein bockiges Kind seine ungeliebte Gummipuppe wegwirft. Die Wahlparty war vorbei. Selbst im EU-Parlament war den Journalisten die Situation in Frankreich auf einmal viel wichtiger als die Ergebnisse der EU-Wahl.
Zum Vergleich: Nö. Zwei Buchstaben. Das war die Antwort von Bundeskanzler Scholz auf die Frage, ob er den massiven, bislang nie erlebten Absturz der SPD bei einer bundesweiten Wahl kommentieren wollte.
Rechtsruck. Das Aufstöhnen der Journalisten im Pressesaal am Wahlabend war unüberhörbar, als schließlich Gewissheit herrschte: der Rechtsruck ist da. Das ist ja nun nicht schlimm. Die Korrespondenten waren aber offensichtlich not amused. Wer jemals glaubte, die Brüsseler Parlamentskorrespondenten seien politisch neutral, der hörte in diesem Augenblick: sie sind es nicht und sie verorten sich ganz ungeniert im linken politischen Spektrum.
Rechtsruck meint: die Fraktionen der Christdemokraten (EVP), der „Konservativen und Reformer“ (ECR), der „Identität & Demokratie“ (ID) zusammen mit den Abgeordneten von AfD und von Fidesz verfügen gemeinsam rechnerisch über eine Mehrheit der nunmehr 720 Abgeordneten. Der Linksblock aus Sozialdemokraten, Grünen, Liberalen und Kommunisten kommt auf deutlich weniger Stimmen. In der 10. Wahlperiode des EU-Parlaments wäre eine rechte Mehrheit rechnerisch möglich, wenn die EVP von Manfred Weber (CSU) denn wollte.
Dabei sind die Zugewinne recht unterschiedlich verteilt. Der Rechtsruck baut maßgeblich auf den massiven Zugewinnen bei Fratelli d’Italia von Georgia Meloni (Italien, EKR) und Rassemblement national (Frankreich, ID) auf. FPÖ (Österreich) verdoppelte von drei auch sechs. Geert Wilders in den Niederlanden schickt gleich 6 PVV-Abgeordnete (fünf Zugewinne). AfD gewann vier Sitze hinzu. Die 15 Sitze liegen weit unter den realpolitischen Möglichkeiten, zu Beginn des Jahres waren noch 22 Sitze möglich. Aber wenn Spitzenkandidat Maximilian Krah und seine Leute im Parlament und im „Vorfeld“ ganz gezielt sabotieren, um die eigene Partei klein zu halten und bei den europäischen Partnern zu isolieren, muss man sich über das schlechte Ergebnis nicht wundern. Wessen Spiel Krah und seine Leute eigentlich spielen, ist nicht ganz klar, weder in der Partei noch in Brüssel. Konnte die offenbar mutwillig herbeigeführte Nichtleistung von Maximilian Krah bei der Oberbürgermeisterwahl in Dresden noch irgendwie schöngeredet werden, müsste die AfD auf die heutige massive Sabotage der EU-Wahl durch Krah und seine Leute eigentlich mit Parteiausschlussverfahren für alle beteiligten Saboteure antworten, schon alleine deswegen, um den durch Krah entstandenen Schaden (Verlust von wenigstens 5 Mandaten ) zu sühnen und um bei den europäischen Partnern wieder Glaubwürdigkeit herzustellen.
Die Nicht-Gewinner im rechten Lager sind beachtlich: Vlaams Belang und Schwedendemokraten wurden jeweils fünf Sitze vorhergesagt, realistisch waren vier, geblieben ist es bei dreien, kein Zuwachs. Viktor Orban und Matteo Salvini verloren sogar Sitze (Orban 2, Salvini 20). Viktor Orban verliert bei sich zu Hause, und will doch überall der Bestimmer im rechten Lager der EU sein, so wie Salvini.
Schwierige Fraktionsbildungen. Am 16. Juli konstituiert sich das EU-Parlament für die 10. Wahlperiode in Strasbourg. Bis dahin müssen die Fraktionen konstituiert sein. Das ist diesmal gar nicht so einfach. Vorausschauend hat die Verwaltung einen sehr frühen Termin zur Anmeldung der neuen Fraktionen gesetzt: Donnerstag 4. Juli. Das ist ein Verwaltungstermin, festgesetzt von verbeamteten Fraktionsgeschäftsführern. Ausreichend früh nach den Wahlen, um die Neubildung von Fraktionen möglichst zu erschweren, und ausreichend früh vor der Konstituierung, um im Falle der Neugründung von kleinen Fraktionen Zeit zu haben, um einen Mechanismus zu erfinden, um die großen Fraktionen weiterhin zu bevorteilen und die kleinen zu benachteiligen.
Und jetzt das: trotz Rechtsruck ändert sich nichts! Die Christdemokraten (EVP) wollen weiterhin nach links blinken. Das ist völlig verrückt. Manfred Weber (CSU) biedert sich bei den Wahlverlierern an, nämlich den paar restlichen Grünen und den verbliebenen Liberalen, mit Sarah Wagenknecht als Stütze. Wer CDU/CSU wählt, bekommt dennoch ein Linksbündnis, weil CDU/CSU es so will. Es gäbe rechnerisch eine rechte Mehrheit im EU-Parlament, doch ausgerechnet die deutsche CDU/CSU schlägt sie aus und riskiert eine Hängepartie mit den Grünen und den Liberalen.
Der Beweis: Ursula von der Leyen soll als Kommissionspräsidentin weitermachen. Das beschloss der Europäische Rat (also die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten). Dabei stützt sich der Europäische Rat auf die Mitte-Links-Koalition im EU-Parlament, die von CDU/CSU und ihren europäischen Partnern in der EVP angeführt wird, und die notwendigen Stimmen zusammenbringt. Oder doch nicht? Das Rechtsbündnis hätte eine Blockademehrheit, die Abstimmung über VDL erfolgt in geheimer Wahl. Ursula von der Leyen ist so unbeliebt wie umstritten, dass sie eigentlich aus dem Berlaymont (dem Sitz der EU-Kommission) verjagt werden müsste. Aber ein Nachfolger wurde nicht aufgebaut und irgendwie interessiert das auch niemanden. Am 18. Juli soll der Vorschlag des Europäischen Rats für Frau von der Leyen durch das Parlament bestätigt werden. Dann werden die Medien wieder fälschlicherweise schreiben, das Parlament habe die Kommissionspräsidentin „gewählt“; das Parlament wählt hier überhaupt niemanden. Es äußert sich lediglich zu einem Vorschlag der politisch viel wichtigeren Institution, nämlich dem Europäischen Rat (Staats- und Regierungschefs), nach dem Motto: friss oder stirb – stimme zu oder sei verantwortlich für eine Krise. Aber vielleicht ist das auch das Kalkül, die späte Rache des Manfred Weber, der ja schon 2019 Kommissionspräsident werden sollte und durch Frau von der Leyen ausgebootet wurde?
Die Leser kennen Junius seit vielen Jahren und trotz aller widrigen Umstände des Lebens wird Junius im „Brief aus Brüssel“ auch in diesem Jahr treu und objektiv über die politischen Entwicklungen in der EU in Brüssel berichten.
Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.
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