Benjamin Hindrichs hat seinen Beitrag so zusammengefasst: Einsamkeit ist nicht erst seit der Corona-Pandemie ein Problem. Dieser Beitrag analysiert deshalb die gesamtgesellschaftlichen Dimensionen und Wurzeln von Einsamkeit, beleuchtet deren verschiedene Facetten und geht der Frage nach, warum es politische Antworten braucht auf ein Phänomen, das wir oft als individualisierte Herausforderung betrachten.
Auszug aus der Jurybewertung
„Wir sehen die Vereinsamung in der Massengesellschaft – vor allem bei Pflegebedürftigkeit und im Alter – als eines der bedrückendsten Probleme für den Einzelnen. Und wir alle stehen in der Gefahr, im Laufe unseres Lebens damit konfrontiert zu werden. Also ist es eine der zentralen Fragen, ob und wie der Sozialstaat genau diese Lebensbedingungen der Einsamkeit und Schwäche von Menschen mit einem unterstützenden Korsett ausstattet. Wir müssen lernen, unsere Gesetze als eine Prävention gegen Einsamkeit zu betrachten und zu überprüfen! Dabei kann Benjamin Hindrichs’ Online-Beitrag sehr hilfreich sein.“
Was gegen Einsamkeit hilft? Gesetze!
Einsamkeit ist beschissen, teuer und spaltet die Gesellschaft. So kann eine neue Politik gegen Einsamkeit aussehen.
Im Herbst 1902 verfasste ein 26-Jähriger in Paris ein trauriges Gedicht. In der letzten Strophe schrieb er: „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.“ Der Autor heißt Rainer Maria Rilke und „Herbsttag“ zählt heute zu den bekanntesten Gedichten der deutschsprachigen Lyrik.
119 Jahre später haben Zoom und Messenger-Apps das Briefeschreiben größtenteils ersetzt. Trotzdem fühlten sich zumindest die vergangenen beiden Winter für viele Menschen genauso an wie für Rilke mit Mitte 20: Wer allein lebte, musste allein spazieren gehen und Kontakte über den Messenger pflegen.
Während der Pandemie hat sich die Zahl der Menschen, die sich einsam fühlen, unter EU-Bürger*innen verdoppelt. In Deutschland gab fast jeder Dritte an, sich einsamer als zuvor zu fühlen. Die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus haben uns isoliert, vereinzelt und voneinander abgeschnitten.
Doch schon vor Beginn der Pandemie hielten zwei Drittel Einsamkeit in Deutschland für ein großes Problem, vor allem Menschen über 50. Das liegt nahe. Je älter wir werden, desto weniger Freund*innen haben wir.
Einsamkeit ist aber nicht bloß eine Begleiterscheinung des Alterns. Bei einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Splendid Research gab 2019 ein Viertel der jungen Deutschen zwischen 18 und 39 Jahren an, sich ständig oder häufig einsam zu fühlen. Mehr als in jeder anderen Altersgruppe.
Man könnte das alles als traurig oder verwunderlich abtun. Aber es zeigt auch: Einsamkeit als kollektives Gefühl nahm lange vor der Pandemie ihren Anfang.
Was ist Einsamkeit eigentlich?
„Einsamkeit ist eine Form von sozialem Stress“, erklärt der Berliner Psychiater und Stressforscher Mazda Adli. Sie wirkt ähnlich wie ein Schmerzsignal. Der Grund dafür liegt in der Evolution: Menschen sind soziale Wesen. Sie brauchten immer schon den Schutz ihrer Gruppe, um zu überleben. Fehlt dieser Schutz, gerate der Körper in Alarmbereitschaft. „Das führt zu körperlichen und psychischen Reaktionen, zum Beispiel zu Veränderungen im Stresshormonsystem“, sagt Adli.
Es gibt unzählige Situationen im Alltag, in denen wir Stress verspüren: in Vorstellungsgesprächen, vor wichtigen Deadlines oder im Fußballstadion. Das Herz klopft dann, die Gedanken rasen, die Hände schwitzen. Sobald die Aufregung vorbei ist, beruhigt sich der Körper.
Anders ist das bei Menschen, die dauerhaft einsam sind: Körper und Kopf verharren in Alarmbereitschaft. Andauernde Einsamkeit bewirkt häufig eine andauernde Stressreaktion. Das kann unser Immunsystem schwächen – und krankmachen.
Die Forschung zeigt: Einsamkeit erhöht die Wahrscheinlichkeit für Depressionen, Schlaganfälle, Krebs und Demenz. Und kann dazu führen, dass wir früher sterben. Studien zufolge schadet Einsamkeit uns im gleichen Maße wie Alkoholabhängigkeit, ist doppelt so schädlich wie Übergewicht und wirkt sich ähnlich auf unseren Körper aus wie 15 Zigaretten am Tag 8 (…).
„Einsamkeit ist etwas anderes als Alleinsein“
„Einsamkeit ist etwas anderes als Alleinsein“, sagt die Ökonomin Noreena Hertz. Sie unterrichtet am University College London. 2020 erschien ihr Buch „Das Zeitalter der Einsamkeit“.
Man könne von Menschen umgeben sein und sich trotzdem einsam fühlen, sagt sie. Oder auf eigenen Wunsch alleine sein, ohne das schlimm zu finden. „Wir empfinden Einsamkeit, wenn wir uns mit anderen Menschen verbunden fühlen möchten, dieses Bedürfnis aber nicht erfüllt wird“, sagt sie.
Hertz glaubt, dass unsere Gesellschaft in einer tiefgreifenden Krise steckt. Vor einigen Jahren habe sie in ihren Sprechstunden bemerkt, dass junge Studierende immer häufiger über Einsamkeit klagen. Sie begab sich auf die Suche nach den Ursachen – und kam zu einer überraschenden Schlussfolgerung.
Einsamkeit sei nicht nur die Gemütsverfassung eines Einzelnen, sie beschreibe vielmehr das Empfinden, nicht gehört oder geschätzt zu werden: sowohl von Freund*innen, Familie oder Partner*innen, als auch von Arbeitgeber*innen, Kolleg*innen, Politiker*innen, Mitbürger*innen und gesellschaftlichen Institutionen. Einsamkeit, sagt Hertz, sei ein persönliches –, aber auch ein gesellschaftliches, wirtschaftliches und politisches Gefühl. Die Einsamkeitskrise sei eine Krise des gegenseitigen Vertrauens und Zusammenlebens: zwischen Menschen, aber auch zwischen Bürger*innen – und Politik (…).
Ministerien, Mietobergrenzen, Steuern: Was die Politik gegen die Einsamkeitskrise tun kann
Kurz vor ihrem Tod rief Cox 2016 eine Einsamkeitskommission ins Leben, deren Arbeit zwei Abgeordnete später weiterführten. Als Reaktion auf die Empfehlungen der Gruppe ernannte die damalige Premierministerin Theresa May 2018 die weltweit erste Ministerin für Einsamkeit. Seither fragt die britische Regierung die Bürger*innen regelmäßig, wie einsam sie sich fühlen. Sie verteilt Gelder an NGOs und Initiativen, deren Arbeit Gemeinschaft stiftet. Und sie fördert das sogenannte „Social Prescribing“. Das ist ein Ansatz, bei dem Sozialarbeiter*innen mit Arztpraxen zusammenarbeiten, um einsame Menschen bei der Suche nach Sport- und Freizeitangeboten zu unterstützen. Seit Februar 2021 hat auch Japan einen Einsamkeitsminister. In Deutschland wird immer wieder darüber diskutiert. Ist das die Lösung?
Aus dem Bedürfnis nach Gemeinschaft ist inzwischen ein Wirtschaftszweig entstanden. Coworking-Spaces verkaufen nicht nur einen Schreibtisch und Hafermilch-Latte, sondern auch menschliche Begegnungen am Arbeitsplatz. Und bei dem Startup Rent a Friend könnten wir quasi überall auf der Welt Freund*innen mieten – für Familienfeiern, Abschlussbälle, Kinobesuche oder Spaziergänge. Gemeinschaft ist längst zur Ware geworden. Sie hat ihren Preis. Das bedeutet auch: Wer es sich nicht leisten kann, bleibt ausgeschlossen.
Was fehlt, sind mehr öffentliche Orte, an denen Menschen zusammenkommen können: Parks, Jugendzentren und Bibliotheken. Ökonomin Hertz glaubt, dass der Staat gemeinwohlorientierte Unternehmen steuerlich begünstigen müsse. Und sie betont, wie wichtig Mietobergrenzen sein können. „Steigende Mieten führen dazu, dass Menschen ständig umziehen müssen. Das untergräbt den Zusammenhalt und die Gemeinschaft in Stadtvierteln“, sagt sie.
Egal, ob wir über die Einsamkeit in der Stadt oder auf dem Land, unter Jungen oder Alten sprechen: Letztlich geht es um die Frage, was Regierungen tun können, um Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, Überzeugungen, Hintergründen und sozioökonomischen Gruppen zusammenzubringen, um Dinge gemeinsam zu tun, Probleme gemeinsam zu lösen und geteilte Erfahrungen zu machen. Die kollektive Einsamkeit so zu überwinden, sagt Hertz, sei vielleicht eine der größten Herausforderungen der Gegenwart.
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