Der Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin-Brandenburg (AIV) hat eine lange und weitgehend gut dokumentierte Geschichte. Bis heute blieb jedoch die Tätigkeit des Vereins in der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 und zur Wiederzulassung 1950 im Dunklen.

Tobias Nöfer, AIV-Vorsitzender: „Als dem AIV-Vorstand bei den Vorbereitungen des 200-jährigen Vereinsjubiläum im Jahr 2024 dieses Problem bewusst wurde, hat der beschlossen, gemeinsam mit dem Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin, das seit 1953 die Sammlungen des AIV bewahrt, den blinden Fleck seiner Geschichte in einem Forschungsprojekt und einer Ausstellung aufzuklären.“

Finanziell gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt widmete sich ein Wissenschaftlerteam der Herausforderung eines erinnerungspolitschen Projektes, zu dem der Verein für die Zeit vor 1945 über fast keine Unterlagen verfügt. Vom 7. Dezember bis 22. Februar 2024 werden in der Ausstellung* „Im Gleichschritt“ im Architekturmuseum der TU Berlin die Ergebnisse gezeigt.

Seit seiner Gründung 1824 enthielt sich der Architektenverein zu Berlin (von 1924 bis 1950 „Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin“) bis 1933 politischer Parteinahme. Mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten änderte sich dies: Die erste Vorstandswahl nach 1933 führte mit Konrad Nonn einen NSDAP-Funktionär an die Spitze. Der Verein schaltete sich in der Folge selbst gleich und kündigte 83 Mitgliedern, die nach 1933 als Juden verfolgt wurden, die Mitgliedschaft. 1938 wurde der AIV als „Gaufachgruppe Berlin der Fachgruppe Bauwesen im NS-Bund Deutscher Technik“ der NSDAP eingegliedert. Viele Vereinsmitglieder beteiligten sich an der verbrecherischen Baupolitik und der mörderischen Baupraxis im Zweiten Weltkrieg.

Jörg Rudolph M.A., Archivar und Historiker: „Die vorliegenden ersten Forschungsergebnisse zur Organisationsgeschichte des AIV und seiner handelnden Personen in den Jahren 1933 bis 1945 sind sicher durch weiterführende Recherchen in den nächsten Jahren zu ergänzen. Im Kontext jüngster Forschungen und Ausstellungen zur Staatsarchitektur sowie dem Anteil deutscher Architekten und Ingenieure am NS-Terror in Europa ist zudem ein kritischer Blick auch auf die Rolle und Bedeutung der Baubeamten und ihrer

Vereine im nationalsozialistischen Bauwesen zu richten. 1933 vernetzten sich im AIV Beamte aus staatlichen und kommunalen Bauverwaltungen in Berlin und Brandenburg, leitende Mitarbeiter in Bauabteilungen großer Industriekonzerne, der Reichsbahn oder der geheimen Luftwaffe und Reichswehr (ab 1935 Wehrmacht), Baustofflieferanten und eher konservativ gesinnte freie Architekten. Ebenfalls im AIV vertreten waren an Berliner Hoch- und Bauschulen wirkende Professoren sowie Vorstände von Wohnungsbaugesellschaften.“

Die Geschichte des AIV während des Nationalsozialismus ist eine Geschichte der persönlichen und institutionellen Vorteilsnahme, der vorauseilenden Anpassung. Ausgrenzung und Ausschluss sind in den wenigen erhaltenen Vereinsakten kaum dokumentiert. Sicher aber ist, dass der AIV seine jüdischen Mitglieder, Mitglieder mit jüdischen Vorfahren oder Ehepartnerinnen bereits ausgeschlossen hatte, bevor er es musste. In ihren biografischen Forschungen über deutsche jüdische Architekten konnte die Architekturhistorikerin Myra Warhaftig** 82 AIV-Mitglieder identifizieren, die ab 1933 Berufsverbot erhielten, verfolgt, zum Teil ermordet wurden oder geflüchtet sind bzw. deren Schicksal unbekannt ist. Vermutlich waren es noch mehr. Für ein weiteres ehemaliges AIV-Mitglied ergab eine andere Quelle seinen Ausschluss: Otto Königsberger, Sieger im Schinkelwettbewerb 1933.

Von 54 Architekten sind die Mitgliedsnummern bekannt, das Berufsverbot erfolgte in der Regel durch die Ablehnung der beantragten Mitgliedschaft in der Reichskammer der bildenden Künste. Von 17 Architekten ist bekannt, dass sie deportiert wurden – vor allem nach Theresienstadt und Auschwitz, aber auch nach Sobibor, Reval, Majdanek, Ghetto Lodz, Sachsenhausen, Ghetto Riga sowie einmal „nach Osten“. Von diesen 17 Architekten haben nur zwei nachweislich überlebt. Von 43 Architekten ist bekannt oder wird vermutet, dass sie geflohen sind. Hauptfluchtjahre waren 1933, 1934 und 1938. Fluchtziele waren vor allem Palästina und England, aber auch Portugal, Kuba, die USA, Holland, Frankreich, Argentinien, Ungarn, Brasilien, Spanien, Italien, Neuseeland, Chile, Südafrika, Belgien und die Schweiz.

Erst 1950 wurde der Verein in allen West-Sektoren wieder zugelassen. Mit Hellmuth Bickenbach, Hans Freese, Hans Hertlein und Werner March gehörten dem ersten Vorstand einige bekannte Fachleute aus der NS-Zeit an. Bezeichnend für den Nachkriegs-AIV erscheint auch, dass 1955 mit Artur Reck und Ernst Runge zwei prominenten Stützen des NS-Bauwesens die Ehrenmitgliedschaft verliehen wurde. Zur notwendigen kritischen Selbstreflexion kam es zu Lebzeiten der Kriegsgeneration nicht mehr.

Dr. Hans-Dieter Nägelke, Leiter des Architekturmuseums der TU Berlin: „Wenn wir feststellen mussten, dass der konservative Traditionalismus, der vor allem die beamteten Vereinsmitglieder prägte, sich als unheilvolle und deprimierende Spur vom Ende der Monarchie durch die zerrissenen Weimarer Jahre in den Nationalsozialismus zieht, so gilt das nicht minder für die demokratiefeindliche Grundhaltung weiter Teile der Technischen Hochschule. Ebenso gilt es für die Kontinuität dieser Spur über den 8. Mai 1945 hinaus. So wie der AIV nach seiner Neuzulassung Täter und Profiteure in seinen Reihen hielt und zu Ehrenmitgliedern machte, blieben an der unter humanistischen Vorzeichen als Universität neu gegründeten ehemaligen TH Berlin auch solche Hochschullehrer in höchsten Ämtern, die ihre Professuren der Mitarbeit in Albert Speers Planungsstab verdankten. Und wieder traf man sich im Vorstand, im Schinkelausschuss und bei den Festen des Vereins. Deshalb sind die Ausstellung ´Im Gleichschritt´ und die sie begleitende Publikation auch ein Stück gemeinsamer Erinnerungsarbeit.“

Nöfer: „Die Forschungsergebnisse zeigen deprimierende Einblicke in die Geschichte unseres Vereins während der Nazizeit. Während der Verein Handlanger der Diktatur nach 1945 zu Ehrenmitgliedern machte, blieben die Ausgeschlossenen vergessen. Um ihre Schicksale sichtbar zu machen, haben wir die Forschungsarbeit durchführen lassen. Im Namen des AIV bitte ich um Entschuldigung bei den ehemaligen AIV-Mitgliedern, denen furchtbares Unrecht widerfahren ist, und allen ihren Nachfahren. Für Otto Königsberger werden wir uns an der Legung eines Stolpersteines an seinem letzten Berliner Wohnort beteiligen. Es gehört zur Verantwortung unserer Generation, weiterhin Lehren aus diesen Erkenntnissen zu ziehen, die nur möglich sind, wenn die Fakten auf dem Tisch liegen.“

Im Rahmen der Ausstellung stellen vier weitere baukulturelle Verbände (ARL, BDA, DASL und werkbund berlin) ihre Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit vor. 

Zur Ausstellung ist ein Begleitheft erschienen, das als Download zur Verfügung steht: https://architekturmuseum.ub.tu-berlin.de/index.php?DWL=1&DLMOD=MULTIDOC&D=QiAzNzU0LnBkZg== 

*Veranstalter: Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin-Brandenburg e.V. und Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin
Ausstellungskonzeption: Harald Bodenschatz, Benedikt Goebel, Hans-Dieter Nägelke
Ausstellungsgestaltung: Hans-Dieter Nägelke
Ausstellungsteam: Harald Bodenschatz, Benedikt Goebel, Marianne Kaiser, Peter Lemburg, Hans-Dieter Nägelke, Jörg Rudolph, Melanie Semmer
Finanzielle Förderung durch die Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt

**Warhaftig, Myra: Deutsche jüdische Architekten vor und nach 1933 – Das Lexikon. 500 Biographien, Berlin 2005.

Weitere Informationen zum Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin:
Das 1885/86 an der Technischen Hochschule gegründete Architekturmuseum zählt zu den ältesten und bedeutendsten Architektursammlungen Deutschlands. Eine Besonderheit neben den Nachlässen bedeutender Berliner Entwerfer*innen wie Alfred Messel, Hans Poelzig oder Herta Hammerbach sind die Monatskonkurrenzen und die Schinkelwettbewerbe des AIV, die 1953 an die Technische Universität übergeben und die in einmaliger Geschlossenheit die Entwurfsgeschichte seit 1827 bis heute widerspiegeln. Der Museumsbestand ist komplett digitalisiert und online zugänglich: http://www.architekturmuseum-berlin.de

Über den Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin-Brandenburg e.V.

Der AIV hat das Ziel, die Berliner und Brandenburger Baukultur zu fördern. Seine wichtigste Aufgabe sieht der traditionsreiche und älteste noch bestehende Verein Berlins somit darin, Stellung zu aktuellen Planungsvorgängen zu beziehen. Er nimmt damit Einfluss auf die Entwicklungen in wichtigen Bereichen der Metropolregion. Der AIV analysiert und kommentiert Etappen und Projekte; er stellt Diskussionsansätze für die zukünftige Stadt- und Metropolentwicklung vor und ist somit ein kritischer Begleiter der Bau- und Kulturgeschichte Berlins und Brandenburgs. www.aiv-berlin-brandenburg.de, aktuelle Informationen über Twitter @AivBerlin.

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