Der grönländische Eisschild ist wahrscheinlich widerstandsfähiger gegen die globale Erwärmung als bisher angenommen. Das ist das Ergebnis einer neuen Studie, die in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht wurde. Ein internationales Forschungsteam zeigt, dass selbst bei einem vorübergehenden Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um bis zu 6,5 Grad Celcius bis zum Jahr 2100 und der damit einhergehenden Überschreitung kritischer Temperaturschwellen ein mögliches Kippen des Eisschildes verhindert werden könnte – und damit ein drastischer Anstieg des Meeresspiegels über Hunderttausende von Jahren. Dafür müssten die Treibhausgas-Emissionen nach dem kritischen Temperaturanstieg so schnell wie möglich reduziert werden, damit die Temperatur langfristig auf höchstens 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau stabilisiert werden kann.

"Wir haben untersucht, wie der grönländische Eisschild über Jahrhunderte bis Jahrtausende in der Zukunft auf die drastische und schnelle, aber bisher noch vergleichsweise kurzlebige Erwärmung unserer Zeit reagieren könnte", erklärt der Hauptautor der Studie Nils Bochow von der UiT, Norwegens Arktische Universität, und dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).

"Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Eisschild so langsam auf die vom Menschen verursachte Erwärmung reagiert, dass wir das unwiderrufliche Schmelzen des Eisschildes noch verhindern könnten, wenn wir es schaffen, den derzeitigen Erwärmungstrend durch eine Verringerung der Treibhausgasemissionen innerhalb von Jahrhunderten noch umzukehren. Aber auch eine nur vorübergehende Überschreitung der kritischen Temperaturschwelle kann in unseren Simulationen immer noch zu einem Meeresspiegelanstieg von mehr als einem Meter führen", fügt Mitautor Niklas Boers hinzu, Forscher am PIK und an der Technischen Universität München.

Selbst wenn die globale Durchschnittstemperaturen bis zum Jahr 2100 auf bis zu 6,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau steigen würde (den so genannten "Overshoot"), könnte eine anschließende Abkühlung innerhalb weniger Jahrhunderte der Studie zufolge demnach verhindern, dass der Eisschild vollständig zusammenbricht und der Meeresspiegel anschließend ansteigt. "Unsere Studie verdeutlicht, dass wir selbst dann noch eine Chance zum Handeln haben, wenn es uns nicht gelingt, in den kommenden Jahrzehnten unter 1,5 bis 2 Grad globaler Erwärmung zu bleiben und wir die kritische Temperaturschwelle des grönländischen Eisschildes vorübergehend überschreiten", sagt Nils Bochow. Dennoch betonen die Forschenden ausdrücklich, dass die langsame Reaktion des Eisschildes nicht bedeutet, dass die Menschheit ihre Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawandels vernachlässigen sollte.

Grönländischer Eisschild bei weniger als 1,7 Grad Erwärmung sicher, aber andere Klimaelemente reagieren schneller

Das Forschungsteam führte eine Reihe von Simulationen mit zwei unabhängigen Eisschildmodellen durch. In jedem Modelllauf stiegen die globalen Durchschnittstemperaturen bis zum Jahr 2100 auf bis zu 6,5 Grad über das vorindustrielle Niveau. Danach gingen die Temperaturen über verschiedene Zeiträume von 100 bis 10.000 Jahren allmählich zurück. Den Forschenden zufolge ahmt eine solche Abkühlung nach, wie das Klimasystem durch die Anwendung verschiedener Szenarien zum CO2-Entzug potenziell wiederhergestellt werden kann, z. B. durch großflächige Aufforstung oder Technologien zur Kohlenstoffabscheidung und -speicherung. Bei den Experimenten wurde anhand der Schwellentemperaturen eine Reihe von Schritten ermittelt, bei denen das Eisschild kippen und schließlich innerhalb von zehn- bis hunderttausend Jahren vollständig zusammenbrechen würde, wenn die globale Erwärmung nicht gestoppt wird.

Außerdem bestätigen die Ergebnisse frühere Studienergebnisse: Die langfristige kritische Temperaturschwelle für ein nahezu vollständiges Abschmelzen des grönländischen Eisschildes über Hunderte oder Tausende von Jahren liegt den Ergebnissen zufolge zwischen 1,7 und 2,3 Grad Celsius globaler Mitteltemperatur. Dieses Schmelzen könnte zu einem globalen Meeresspiegelanstieg von mehr als sieben Metern führen. Um einen Kippunkt und damit den entsprechenden massiven Anstieg des Meeresspiegels sicher zu vermeiden,  müsste die globale Erwärmung den verwendeten Modellen zufolge langfristig unter 1,7 Grad Celsius liegen. Die Forschenden geben jedoch zu bedenken, dass ihre Ergebnisse auf einer begrenzten Anzahl von Simulationen zweier Eisschildmodelle beruhen, welche nicht berücksichtigen, wie der globale Klimawandel das arktische Klima abgesehen von Temperaturen und Niederschlägen beeinflusst.

Im Wesentlichen reagieren alle anderen Teilelemente des Klimasystems schneller auf die globale Erwärmung als ein Eisschild, so die Autorinnen und Autoren der Studie. Dazu gehören Regenwälder, Wind- und Niederschlagsmuster oder Meeresströmungssysteme, die sich alle innerhalb von wesentlich kürzeren Zeitskalen verändern oder sogar zu abrupten, unwiderruflichen Veränderungen neigen, was zu viel kürzeren Zeitfenstern führt, um ein Kippen zu vermeiden. "Und selbst wenn ein großflächiges Abschmelzen des grönländischen Eisschilds vermieden wird, kann der Meeresspiegel vorübergehend erheblich ansteigen. Je höher die Temperaturen steigen, desto schwieriger wird es sein, sie langfristig auf ein sicheres Niveau zu senken. Deshalb müssen wir die globale Durchschnittstemperatur unter 1,5 Grad Celsius halten ", so Niklas Boers abschließend. ”Der grönländische Eisschild ist nur ein kleiner Teil des Bildes. Es gibt noch viele andere negative Folgen des vom Menschen verursachten Klimawandels, die auf uns zukommen könnten, wenn wir nicht rechtzeitig handeln."

Artikel: Nils Bochow, Anna Poltrionieri, Alexander Robinson, Marisa Montoya, Martin Rypdal, Niklas Boers (2023): Overshooting the critical threshold for the Greenland ice sheet. Nature. [DOI: 10.1038/s41586-023-06503-9]Weblink zum Artikelhttps://www.nature.com/articles/s41586-023-06503-9

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