Kaum ein medizinisches Ereignis hat in den letzten Jahrzehnten mehr Aufmerksamkeit erhalten als die COVID-19 Pandemie. Seit Erstauftreten zu Beginn 2020 sind laut WHO mehr als 770 Millionen Fälle einer COVID-19-Erkrankung sowie 6,9 Millionen Todesfälle registriert worden. Nach einer ersten Phase mit einer äußerst kritischen Belastung des Gesundheitssystems durch akute Erkrankungen rücken seit zwei Jahren zunehmend postentzündliche Folgeerscheinungen im Sinne eines Post-COVID-Syndroms (PCS) in den Vordergrund. Zurzeit findet eine kontroverse Diskussion über die Häufigkeit und gesellschaftliche Bedeutung des Post-COVID-Syndroms statt.

Eine aktuelle Publikation von Epidemiologen verweist auf eine eingeschränkte Aussagekraft von Studien zu Post-COVID bezüglich der Schätzung der exakten Häufigkeit des PCS (Høeg, BMJ Evidence-Based Medicine 2023). Die Kritik begründet sich durch das Fehlen einer klaren Krankheitsdefinition mit diagnostischen Markern sowie das Fehlen von Kontrollgruppen. Dieses führt zu einem Spektrum der angenommenen Häufigkeit von 5-50%.

Die Forderung nach einer strukturierten Erfassung der jeweiligen methodischen Limitationen epidemiologischer Studien ist hierbei ebenso zu begrüßen wie die Empfehlungen zur Durchführung verbesserter Untersuchungsansätze. Dieses entspricht guter wissenschaftlicher Praxis. Leider haben die Autoren nur einen Bruchteil der publizierten Studien in ihre Analyse einbezogen und ergänzen ihre wissenschaftlichen Befunde mit persönlichen Meinungsäußerungen, die im Sinne einer systematischen oder sogar bewussten Überschätzung der Häufigkeit fehlverstanden werden könnten. Es finden sich polarisierte Darstellungen, die neben einer statistischen Überschätzung der Prävalenz gleich auch eine Überschätzung der medizinischen Relevanz insgesamt behaupten bis dahin, dass das PCS gar nicht existiere bzw. eine eingebildete Erkrankung sei, die durch eine systematische Fehlerfassung der Krankheitshäufigkeit erst ermöglicht würde.

Diesen Interpretationen, die in keiner Weise der aktuellen Evidenz entsprechen, muss aus Sicht des Ärzte- und Ärztinnenverbandes Long Covid entschieden widersprochen werden. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die zahlreichen Symptome im Nachgang einer SARS CoV 2 Infektion hochwahrscheinlich multifaktorielle Ursachen haben und eine postinfektiöse organische Schädigung, z. B. des Gehirns, auch mit konkret beschriebenen psychischen oder neurologischen Beeinträchtigungen übereinzubringen ist. Ähnliche postinfektiöse Folgen sind für viele Organe und unterschiedliche Auslöser vorbeschrieben, darunter extremere Formen wie beim ME/CFS oder beim Post-Sepsis Syndrom.

Dass wir derzeit noch nicht in der Lage sind, mit eindeutigen Biomarkern für jeden Patienten mit Beschwerden eine sichere Diagnose zu stellen, gibt uns nicht das Recht, das Leid der Betroffenen in Abrede zu stellen oder gar die Suche nach solchen Biomarkern einzustellen. Durch zahlreiche qualitativ hochwertige Arbeiten wurden inzwischen immunologische und genetische Veränderungen bei Patienten mit PCS im Vergleich zu nach Covid 19 vollständige Rekonvaleszenten nachgewiesen. In einer jüngsten Arbeit konnte dem sogar eine diagnostische Bedeutung zugesprochen werden. (Klein, Nature 2023).

Aus der Sicht der Betroffenen ist es völlig unerheblich, ob die Häufigkeit 50%, 5% oder 0,5% beträgt. Wenn eine Infektion pandemisch verläuft und in Deutschland zu 40 Millionen Erkrankten führt, wären 0,5% immer noch 200.000 Menschen mit Diagnose- und Behandlungsbedarf einschließlich Rehabilitation. Somit besteht unzweifelhaft Bedarf für multimodale Diagnostikund Therapiestrategien; hierfür sind ausreichende Versorgungsstrukturen zu schaffen. Die derzeitigen langen Wartezeiten der Post Covid Spezialambulanzen sind unerträglich für Menschen, die aufgrund ihrer belastenden Symptome kaum noch ihren Alltag bestreiten können.

Seit 2022 wird ein relevanter Anstieg an Berentungen im Rahmen eines PCS verzeichnet; ein Umstand, der auf die langen Verläufe bei Erkrankten hinweist. Die polarisierende Debatte eines “entweder” (somatisch) “oder” (psychisch) wird dabei weder einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen in der Medizin und Forschung gerecht, noch wird der Kern der psychosomatischen Medizin richtig verstanden und wiedergegeben. Dass zusätzlich eingesetzte psychosoziale Behandlungsansätze bei einem Teil der Betroffenen durchaus hilfreich sein können, ist die Erfahrung vieler Behandler. Es darf sich hier aber eben nicht darauf zurückgezogen werden, dass die therapeutischen Optionen damit ausgeschöpft wären.

Das PCS bedarf dringend einer breit angelegten Forschung zur Klärung aller vorliegenden Risikofaktoren und Pathomechanismen sowie Etablierung entsprechend geeigneter und individualisierter Behandlungsansätze für die Betroffenen. In der Beforschung des PCS liegt auch die große Chance, etwas über Entstehung und Behandlung anderer bekannter und zukünftiger postinfektiöser Syndrome zu lernen und deren Therapie zu verbessern. Die aktuelle Situation nicht intensiv dafür zu nutzen, würde bedeuten, dass wir unsere Lektion aus der Corona Pandemie einmal mehr nicht gelernt haben.

Conclusio

Bessere Definitionen der Postinfektiösen Syndrome, insbesondere des PCS, sowie besser kontrollierte Studien sind auf jeden Fall zu fordern. Eine Diskussion unterschiedlicher Bewertungen sollte sich bestmöglich an verfügbaren wissenschaftlichen Fakten orientieren. Eine Diskussion um konkrete Prozentwerte innerhalb eines Bereiches, der auf jeden Fall weltweit Millionen Menschen umfasst, die innerhalb kürzester Zeit zum Teil schwerst erkrankten und aktuell keine Aussicht auf eine kurative Therapie haben, ist vielleicht gesundheitsökonomisch wichtig, kann aber weder die medizinische Relevanz noch die Ernsthaftigkeit der Erkrankung für den einzelnen Betroffenen infrage stellen.

Eine Interpretation der epidemiologischen Prävalenzschätzungen darf nicht zur Unterfütterung von psychologisierenden Erklärungsansätzen herangezogen werden. Entsprechend polarisierte Darstellungen sind kontraproduktiv und erschweren die wichtige medizinische und gesellschaftliche Befassung mit den postinfektiösen Syndromen. Stattdessen sollte ein konstruktiver, interdisziplinärer und partizipativer Dialog durch die jüngsten Publikationen gerade einmal mehr gesucht werden. Der Ärzteverband engagiert sich hierzu aktiv und richtet auch dieses Jahr in Zusammenarbeit mit verschiedenen Fach- und Betroffenenverbänden am 24. und 25.11. in Jena einen Kongress zu Long Covid und Postinfektiösen Syndromen aus.

Referenzen:

Høeg TB, Ladhani S, Prasad V How methodological pitfalls have created widespread
misunderstanding about long COVID. BMJ Evidence-Based Medicine Published Online First: 25
September 2023. doi: 10.1136/bmjebm-2023-112338

Klein, J., Wood, J., Jaycox, J. et al. Distinguishing features of Long COVID identified through
immune profiling. Nature (2023). https://doi.org/…

https://long-covid-kongress.de/…
https://long-covid-verband.de/…

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