Herr Birnesser, Sie sind nun seit 100 Tagen im Amt. Ihr Rückblick und erstes Fazit auf die ersten drei Monate?

Ich war selbst überrascht, dass ich inzwischen schon drei Monate die Geschicke des Landesinnungsverbands des Dachdeckerhandwerks Baden-Württemberg, des Berufsfördervereins sowie unserer GBK Dach GmbH Servicegesellschaft leite. Die Kolleginnen und Kollegen haben mir den Start aber eigentlich auch sehr einfach gemacht. Es ist gut zu wissen, dass ich ein starkes Team und einen engagierten Vorstand an meiner Seite habe. Diese ersten 100 Tage waren geprägt vom „Ankommen“ und sich mit dem Verband, seinen Mitgliedern, Partnern und Strukturen vertraut zu machen. Ich lerne jeden Tag dazu. Übrigens hoffe ich, dass sich das auch in 1.000 Tagen nicht ändern wird.

Was reizt Sie an der Dach-Branche am meisten?

Das Dachdeckerhandwerk erfüllt Träume, wenn Familien ins neue Eigenheim einziehen. Das Dachdeckerhandwerk ist Chancengeber, wenn junge Menschen eine Ausbildung beginnen. Das Dachdeckerhandwerk ist Zukunftsmotor, wenn es um den aktiven Klimaschutz geht. Kurz gesagt: Im Dachdeckerhandwerk und seinen mittelständischen Betrieben steckt eine enorme Vielfalt, eine große Faszination und gesellschaftliche Kraft. Und das sind keine Floskeln. Das habe ich genau so erlebt.

Ein Beispiel: Einer meiner besten Freunde ist vor einigen Monaten mit seiner Familie in sein neues Haus gezogen und ich erinnere mich noch sehr gut an seinen Stolz und seine Freude, als der Einzug bevorstand. Dachdecker haben mitgeholfen, diesen Tag möglich zu machen.

Aus meiner beruflichen Erfahrung weiß ich, dass es eine große Freude ist, junge Menschen zu sehen, die mit Leib und Seele bei der Sache und glücklich darüber sind, berufliche Chancen bekommen zu haben. Unsere Innungsbetriebe sind genau diese Chancengeber. Sie bieten derzeit fast 400 Dachdecker-Azubis eine berufliche Zukunft.

Anderes Beispiel: Meine Eltern überlegen gerade, eine PV-Anlage auf ihrem Dach zu installieren. Und vielen Menschen geht es ähnlich. Oder sie denken über eine bessere Dämmung für mehr Energieeinsparung und über den Klimaschutz nach. Da braucht es einen kompetenten und verlässlichen Partner wie das Dachdeckerhandwerk.

Sie sehen: Das Dachdeckerhandwerk weckt viele Emotionen und erschafft so viel Wert mit den Händen. Da ist es sehr leicht, diese Branche toll und reizvoll zu finden.

Sie haben zwar langjährige Verbandserfahrung, aber bislang keine beruflichen Kontakte zum Dachdeckerhandwerk. Wie schätzen Sie heute – nach 100 Tagen – die Branche ein?

Ja, Sie haben recht: Ich bin kein Dachdecker und quasi ganz neu im Dachdeckerhandwerk. Doch mein Großvater war Schmid und ich erinnere mich noch gut daran, als Kind mit ihm des Öfteren in seiner Werkstatt gewesen zu sein. Diese Erinnerungen bleiben und die Verbundenheit mit dem Handwerk ist da. Doch zurück zum Dachdeckerhandwerk: Die Dach-Branche ist aufgrund ihrer Betriebsstruktur durch und durch mittelständisch geprägt und verdient deshalb größtmögliche politische Unterstützung. Einerseits wird Tradition großgeschrieben: Viele Unternehmer führen ihren Betrieb in dritter, vierter oder sogar noch älterer Generation. Das ist schon beeindruckend. Andererseits ist auch der Fortschritt ist im Dachdeckerhandwerk zu Hause. So war es doch das Dachdeckerhandwerk, dass sich als einer der Pioniere nach der ersten Ölkrise 1973 mit Solartechnik befasste. Wir sind heute unverzichtbarer Partner der Klimawende und wir nutzen die Chancen digitaler Innovationen. Unsere Azubis sind unser größtes Kapital für die Zukunft. Und ich durfte schon einige engagierte Azubis kennenlernen.

Wie kommen Sie zu diesen Einblicken nach dieser – eigentlich recht kurzen – Zeit?

Mein Credo ist, dass man sich immer selbst ein Bild machen muss, um Themen und Sachverhalte beurteilen und einschätzen zu können. Genau das habe ich auch getan. Mir ist es wichtig, immer ansprechbar und Dienstleister für unsere Mitglieder zu sein. Deshalb besuche ich zum Beispiel so oft wie möglich unsere regionalen Innungen. Dort bekomme ich sehr direkt die aktuellen Herausforderungen der Branche – und vor allem der Betriebe – mit. In den politischen Gesprächen, die ich bislang absolviert habe, habe ich eindringlich auf die notwendige Unterstützung für das Dachdeckerhandwerk hingewiesen. Und gerade vor drei Wochen habe ich mal den Schreibtisch gegen die Werkbank getauscht. In unserem Ausbildungszentrum habe ich drei Azubikurse mitgemacht – Flachdach, Holz und Schiefer – und bin so mit den Azubis ins Gespräch gekommen. Die Azubis habe ich als sehr hilfsbereit und kompetent kennengelernt und auch mein Ausbilderteam unterstützt diese Azubis mit großem Engagement. Der nächste Praxistermin steht in wenigen Wochen an: Da werde ich bei einem Mitgliedsbetrieb auf die Baustelle mitgehen.

Apropos Azubis: Jetzt zum Ausbildungsstart ist das Thema Fachkräftemangel wieder in aller Munde. Auch beim Landesinnungsverband Baden-Württemberg?

Selbstverständlich – leider, muss ich sagen. Junge Männer und Frauen für das Dachdeckerhandwerk zu gewinnen und zu begeistern, das ist unsere Zukunftsaufgabe. Mit unserer sehr erfolgreichen Nachwuchskampagne „Oben ist das neue vorn“ haben wir einen wichtigen Baustein für eine gezielte und zeitgemäße Nachwuchswerbung auf Augenhöhe mit der jungen Generation entwickelt. Die Kampagne besteht unter anderem aus dem sogenannten „Dachmobil“ und beinhaltet Virtual-Reality-Spiele, mit denen man mit VR-Brillen virtuell aufs Dach steigen kann. Und der Erfolg gibt uns Recht: In den letzten Jahren konnten wir rund 30 % mehr Ausbildungsverträge abschließen, 2022 waren es 168. Außerdem ist die Gesamtzahl der Azubis um über 15 % auf heute 388 gestiegen. Solche Zahlen wären nicht möglich, wenn die Jugend heute wirklich – wie so oft behauptet – eine „Null-Bock-Generation“ wäre. Die Schulabgänger sind heute kritisch und oft wählerisch, aber engagiert und motivationsfähig.

Darüber hinaus freut es mich sehr, dass inzwischen auch andere Landesverbände unser Konzept übernehmen. Anfang September war ich beispielsweise bei unseren Freunden in Hessen zu Gast, die an ihrem Landesverbandsverbandstag das sehr gelungene, hessische Dachmobil vorgestellt haben. Ich bin davon überzeugt, dass diese Kampagne wirkt und ich hoffe natürlich, dass sich weitere Landesverbände anschließen werden.

Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie für das Dachdeckerhandwerk insgesamt?

Die Chancen sehe ich ganz klar darin, dass wir wirklich ein Klimagewerk und zuverlässiger Partner bei Energie- und Klimawende sind. Ich drücke es mal ganz direkt aus: Ohne Dachdeckerhandwerk keine Energiewende. Das kommt unserem Handwerk insgesamt zugute, denn unsere Innungsbetriebe wissen ganz genau, wie Dächer zu sanieren oder wie PV-Anlagen sicher zu installieren sind. Deshalb können sich Kunden und Politik auf uns verlassen: Wir beraten fachlich fundiert ohne Scheuklappen und mit dem Blick über den Tellerrand unseres Gewerks hinaus. Und wir bieten Lösungen an. Die Herausforderungen liegen beispielsweise auch darin, dass Unternehmen Nachfolger suchen und finden müssen. Da machen gerade bürokratische Hürden den typischen im Dachdeckerhandwerk oft vorzufindenden Betrieben mit 5 bis 10 Mitarbeitern zu schaffen. Aktuelles Beispiel sind die Di-Isocyanate-Schulungen.

Politische Entscheidungen müssen nachvollziehbar, verständlich und umsetzbar sein: Das Gebäudeenergiegesetz beispielsweise führt bei unseren Unternehmen wie auch bei den Kunden zu Verunsicherung – mit dem Ergebnis, dass notwendige Veränderungen erstmal aufgeschoben werden, bis eine Planbarkeit vorliegt.

Für die Nachwuchsgewinnung sehe ich die große Chance in der Aufwertung unseres Handwerks zum „Klimaretter“. Hier sehen immer mehr junge Menschen die Chance, aktiv etwas für das Klima zu tun. Anpacken anstatt ankleben ist angesagt.

Und welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie für den Landesinnungsverband?

Es ist leider ein gesellschaftlicher Trend, dass Vereine und Organisationen an Mitgliedern verlieren. Das macht auch vor den Verbänden nicht Halt und es ist keine Selbstverständlichkeit mehr, dass sich Unternehmen einer Innung anschließen. Wir haben mit rund 330 Mitgliedsbetrieben einen Organisationsgrad von circa 50%. Erfreulich daran ist, dass jeder zweite Betrieb Innungsmitglied ist. Aber es bietet auch noch Potential.

Früher gehörte es einfach zur Tradition, dass ein Handwerksbetrieb einer Innung beitrat. Heute wird vor dem Hintergrund ständig steigender Kosten und sinkender Gewinne die Frage nach den Vorteilen der Innungsmitgliedschaft gestellt. Deshalb müssen Verbände jederzeit für ihre Mitglieder ansprechbar sein, Mehrwerte bieten und sich so attraktiv machen. Dazu zählt ein umfangreiches Seminar- und Weiterbildungsangebot. Und natürlich gehört dazu ein Netzwerk, in dem sich Unternehmer austauschen können. Wichtig ist auch ein qualitativ hochwertiges Bildungszentrum für die überbetriebliche Ausbildung. Es braucht eine starke und hörbare Stimme, die die Interessen der Mitglieder bündelt und nach außen vertritt. Dafür setze ich mich ein.

Welche Projekte möchten Sie zukünftig vorantreiben?

Das Dachdeckerhandwerk hat viel zu sagen und viel zu bieten. Wir können unschätzbare Erfahrung und fundiertes Wissen zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatten beitragen. Wir müssen noch mehr und noch häufiger Gehör finden. Deshalb möchte ich die Dachdecker noch stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken. Sei es bei politischen Gesprächspartnern, in den Medien, der interessierten Öffentlichkeit und weiteren Multiplikatoren.

Außerdem, ich erwähnte es bereits, müssen wir uns noch intensiver der Nachwuchsgewinnung widmen. Dazu gehört, die Kampagne „Oben ist das neue vorn“ auszuweiten. Doch auch bei der Infrastruktur gibt es ein großes Projekt, das auf den LIV und das Dachdeckerhandwerk Baden-Württemberg zukommt: Wir werden mittelfristig unser Dachdecker-Bildungszentrum in Karlsruhe weiterentwickeln und für die Zukunft noch moderner und attraktiver aufstellen müssen.

Was wünschen Sie sich persönlich für die nächsten 100 Tage?

Ich wünsche mir, dass den nächsten 100 Tagen noch viele, viele weitere 100 Tage folgen werden. Mir macht die Arbeit mit meinem Team und für das Dachdeckerhandwerk großen Spaß. Ich habe einige Projekte skizziert, die auf mich und den LIV zukommen werden. Einige Ideen sind schon angerissen und es kommen ganz sicher noch mehr dazu. Und dann freue ich mich natürlich darauf, die Branche und unsere Mitglieder noch besser kennenzulernen, um unser Dachdeckerhandwerk bestmöglich zu vertreten und gemeinsam in die Zukunft entwickeln zu können. 

Über Dachdeckerhandwerk Baden-Württemberg Landesinnungsverband

Der Landesinnungsverband des Dachdeckerhandwerks Baden-Württemberg vertritt als berufsständische Organisation die Dachdecker-Innungsbetriebe in den zehn angeschlossenen Dachdecker-Innungen in Baden-Württemberg. Sitz des Verbandes ist in Karlsruhe.

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