Die Rechtsprechung in der jüngeren Vergangenheit geht in aller Regel von einem abhängigen und damit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis aus, wenn Ärztinnen und Ärzte sich in der Praxis vertreten lassen.
Bei Scheinselbstständigkeit treten Ärzte als Selbstständige auf, obwohl sie sozialversicherungsrechtlich als Beschäftigte einzustufen sind. Eine Beschäftigung liegt nämlich dann vor, wenn sie in die Arbeitsorganisation der Praxis eingebunden sind. Abhängig beschäftigt ist ein Vertreter dann, wenn er hinsichtlich der Zeit, der Dauer, des Orts und der Art der Ausführung seiner Tätigkeit einem umfassenden Weisungsrecht des Praxisinhabers unterliegt.
Zwar agieren Ärzte bei medizinischen Heilbehandlungen und Therapien in der Regel frei und eigenverantwortlich. Aus dieser fachlichen Unabhängigkeit, die grundsätzlich allen freien Berufen immanent ist, lässt sich aber nicht ohne Weiteres auf eine selbstständige Tätigkeit schließen.
Von der Eingliederung in eine fremde Arbeitsorganisation war auch schon in der Vergangenheit auszugehen, wenn ein Arzt auf der Grundlage eines Honorarvertrags, gegebenenfalls durch Vermittlung eines Dienstleistungsunternehmens, als Honorar-, Vertretungs- oder Bereitschaftsarzt in einer stationären Einrichtung oder einer Rehabilitationsklinik tätig war. Sie werden schon seit längerer Zeit als Beschäftigte angesehen.
Paukenschlagurteil: Praxisvertreter sind sozialversicherungspflichtig
Das Thema Scheinselbstständigkeit betrifft jetzt aber auch niedergelassene Ärzte, die Praxisvertreter einsetzen. Um die medizinische Versorgung der Patienten auch in der Urlaubszeit zu gewährleisten, holen sich viele Ärzte eine Vertretung in die Praxis. Das Bundessozialgericht stellte aber fest, dass es zu einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis kommt, wenn Ärzte auf Honorarbasis die Vertretung in einer Gemeinschaftspraxis übernehmen (Urteil vom 19. November 2021, B 12 R 1 /21 R). Die entscheidenden Argumente:
- Die Gemeinschaftspraxis bestimmte über die Annahme der zu behandelnden Patienten.
- Die Praxis stellte sonstige Arbeitsmittel, zum Beispiel Schutzkleidung, zur Verfügung.
- Die Vertreterin nutzte die Praxisräume samt vorhandener Geräte.
- Die Vertreterin arbeitete mit dem Personal der Praxis Hand in Hand.
- Die vertretende Ärztin erhielt einen festen Stundensatz und musste zu den vorgegebenen Sprechstundenzeiten anwesend sein.
Im Ergebnis führt das dazu, dass Praxisinhaber zu ihrer Vertretung nicht in einem Auftrags-, sondern in einem Arbeitgeberverhältnis stehen. Neben arbeitsrechtlichen Konsequenzen kann das berufs- und strafrechtliche Auswirkungen haben. Außerdem drohen empfindliche Nachzahlungen in der (Lohn-)Steuer und Sozialversicherung.
Sozialversicherung ist nachzuzahlen
„Vor allem die Beitragsbelastung in der Sozialversicherung hat es in sich“, weiß Theresa Günther, Steuerberaterin und Fachberaterin für das Gesundheitswesen bei Ecovis in München. In der Regel wird die Vertretung als hauptberuflich abhängig Beschäftigter, zum Beispiel in einem Krankenhaus, bereits über der Beitragsbemessungsgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung verdienen (2023: rund 4.987 Euro brutto im Monat). Beiträge für die Einkünfte aus der scheinselbstständigen Vertretertätigkeit scheiden dann aus. Was aber zu Buche schlagen kann, ist die aus der Scheinselbstständigkeit resultierende Beitragslast in der Arbeitslosen- und gesetzlichen Rentenversicherung.
Verdient der Vertreter noch nicht über der in diesen Versicherungszweigen gültigen Beitragsbemessungsgrenze von 7.300 Euro brutto im Monat (im Jahr 2023), fallen für die Vertretungstätigkeit nicht nur die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung an, sondern zusätzlich auch die für die Rentenversicherung. Letztere gleich doppelt: einmal für das gegebenenfalls noch bestehende berufsständische Versorgungswerk des Vertreters und zwangsweise für die gesetzliche Rentenversicherung. Den Gesamtsozialversicherungsbeitrag, also Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil zur gesetzlichen Rentenversicherung, muss der Arbeitgeber zahlen. Da kein unmittelbares Rechtsverhältnis zwischen dem Versorgungswerk und dem Arbeitgeber besteht, schuldet der Arbeitnehmer den Beitrag zur berufsständischen Versorgungseinrichtung. Der Vertreter kann vom Arbeitgeber jedoch einen hälftigen Zuschuss beanspruchen.
So entsteht die doppelte Beitragslast
„Auch Ärzte sind so lange in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig, bis sie sich, aufgrund ihrer Mitgliedschaft bei einer ärztlichen Versorgungseinrichtung, auf Antrag davon befreien lassen“, sagt Günther. Diese Koordinationsregelung soll den Berufsstandsangehörigen die Verpflichtung nehmen, Beiträge zu zwei weitgehend funktionsgleichen sozialen Sicherungssystemen zahlen zu müssen. Die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht gilt dann nicht per se, sondern jeweils nur für die konkret ausgeübte Tätigkeit. Bei jedem Tätigkeitswechsel oder für jedes einzelne Arbeitsverhältnis müssen Vertreter daher einen neuen Befreiungsantrag stellen. Haben sie sich nicht von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht befreien lassen, weil sie fälschlicherweise von einer selbstständigen Vertretertätigkeit ausgegangen sind, dann unterliegen sie einer doppelten Beitragspflicht.
Bei zukünftigen Vertretertätigkeiten lässt sich ein Statusfeststellungsverfahren bei der Deutschen Rentenversicherung in die Wege leiten. Sie prüft für den Einzelfall, ob eine selbstständige Tätigkeit vorliegt. Wird das Verfahren innerhalb der Ein-Monats-Frist angestoßen, beginnt die Beitragspflicht bei einem negativen Ergebnis unter bestimmten Voraussetzungen erst mit Bekanntgabe des Bescheids für die Zukunft. Vorsorglich sollten Vertreter auch einen Befreiungsantrag in der gesetzlichen Rentenversicherung einreichen. Den Antrag müssen sie innerhalb von drei Monaten mit Aufnahme der Vertretertätigkeit stellen, damit er auf den Beginn der Tätigkeit zurückwirkt. Versäumen sie diese Frist, dann wirkt die Befreiung erst ab Antragstellung.
Die vertragliche Seite der ärztlichen Vertretung
Ein weiterer Weg, Scheinselbstständigkeit zu vermeiden, ist ein guter Vertrag, etwa eine Dienstvereinbarung. „Ein korrekter Vertrag kann dabei helfen, dass eine Vertretungstätigkeit als echte Selbstständigkeit bei der Sozialversicherung durchgeht“, rät Tim Müller, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht bei Ecovis in München. Beinhalten müssen Verträge auf jeden Fall diese Punkte:
- Der Vertreter muss weisungsfrei, seinerseits aber weisungsbefugt gegenüber dem Praxispersonal sein, auch gegenüber nachgeordneten Ärzten.
- Der Vertreter muss in seiner Zeiteinteilung grundsätzlich frei sein, aber natürlich seinen Versorgungsauftrag erfüllen.
- Urlaubsansprüche und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall müssen ausdrücklich ausgeschlossen sein.
- Es empfiehlt sich eine unternehmerähnliche erfolgsabhängige Vergütung.
„Den Vertrag müssen die Parteien dann aber so leben, wie er geschlossen wurde“, ergänzt Müller. Denn sonst gelten Praxisvertreter möglicherweise doch wieder als Scheinselbstständige.
Auf einen Blick: Einige Kriterien, die auf Scheinselbstständigkeit hinweisen
- Feste Arbeitszeiten
- Feste Integration in Prozesse oder die Infrastruktur des Auftraggebers
- Arbeit in den Räumen des Auftraggebers
- Feste Bezüge und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
- Urlaubsanspruch, Absprache von Urlaubszeiten mit anderen Arbeitnehmern
- Reporting-Pflichten gegenüber dem Auftraggeber
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