Die Entwicklung ist dramatisch: Mit nur 104 postmortalen Organspenden lagen die Spenderzahlen in der Region Mitte, zu der auch Hessen gehört, im Jahr 2022 deutlich hinter jenen von 2021. Welche Gründe gibt es dafür, wie lässt sich dieser Abwärtstrend stoppen und wie kann die Bereitschaft zur Organspende wieder erhöht werden? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hatte die Landesärztekammer Hessen am 4. Juli anlässlich der Jahrestagung der DSO (Deutsche Stiftung Organtransplantation) zu einem Runden Tisch Organspende unter der Moderation von Prof. Dr. Wolf O. Bechstein, Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie am Universitätsklinikum Frankfurt am Main, eingeladen.

Organspende sei eine Gemeinschaftsaufgabe, die nur funktionieren könne, wenn alle Hand in Hand zusammen arbeiteten: Bevölkerung, Politik, beteiligte Organisationen, Ärzte, Ärztinnen und Pflegekräfte, erklärte  Ärztekammerpräsident Dr. med. Edgar Pinkowski.  Einig waren sich die Expertinnen und Experten an dem Runden Tisch darin, dass die Kulturfrage eine wichtige Rolle für die Einstellung zur Organspende spiele.

Wie Dr. Ana Paula Barreiros, Geschäftsführende Ärztin der DSO Mitte, berichtete, liegt die Ursache des Rückgangs der Organspendezahlen in der niedrigen Zustimmungsquote. Bei  14 potentiellen Spendern im Jahr 2022 seien keine Angehörigen mehr zu identifizieren gewesen: „Aufgrund der Zustimmungslösung konnte niemand gefragt werden.“ Und wenn Angehörige die Entscheidung über eine mögliche Organspende treffen müssten, falle diese oft negativ aus. In solchen Fällen fühle es sich anscheinend sicherer an, gegen die Organspende zu stimmen. Ursachen könnten kulturbedingt sein.

Wichtig sei ein Perspektivenwechsel – nicht nur den Tod bei der Organspende sehen, sondern auch die Chance auf Leben, die mit der Spende gerettet werden könnten, betonte Barreiros.
Eine Auffassung, die Prof. Dr. Jürgen Graf, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Goethe-Universität Frankfurt, bestätigte. Es handele sich um eine Vertrauensfrage. Angehörige würden der postmortalen Spende eher zustimmen, wenn das Vertrauen in Ärztinnen und Ärzte vorhanden sei. Dieses Vertrauen sei nur durch den Aufbau einer Beziehung zu den Angehörigen möglich.

Ein weiterer Diskussionspunkt  war die Dokumentation der Spendebereitschaft. Nur in ungefähr 15% der Fälle liege eine erklärte Bereitschaft zur Organspende schriftlich vor, so Dr. Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation. Das stehe in Kontrast zur überwiegend positiven Einstellung zum Thema Organspende in der Gesellschaft. In Umfragen äußerten immerhin knapp 50 Prozent der Befragten, dass sie einen Organspendeausweis besäßen.

Rahmel war wichtig zu betonen: „ Man hat es nicht mit Ablehnung, sondern mit fehlender Zustimmung zu tun.“  So lägen in Deutschland alle Rahmenbedingungen für die Organspende, einschließlich einer hohen  Qualifikation der Transplantationsbeauftragten vor. Doch solange es keine entsprechende Kultur gebe, werde sich die aktuelle Situation nicht ändern. Ausdrücklich hoben die Diskussionsteilnehmer hervor, wie wichtig es sei, dass Vertrauen der Menschen in die Organspende und die transplantierenden Ärztinnen und Ärzte zu stärken. Dabei müsse deutlich gemacht werden, dass die Hirntodfeststellung in Deutschland Voraussetzung dafür sei, dass ein Patient zum potentiellen Organspender werde, sagte Bechstein.
 
Dass die Landesärztekammer Hessen die erste Kammer gewesen sei, die die Weiterbildung zum Transplantationsbeauftragen eingeführt hat, hob Pinkowski hervor. Damit seien hohe Qualitätsanforderungen an die Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte verbunden, die diese Weiterbildung durchliefen.  
Diskutiert wurde der Einsatz von interprofessionellen Teams, wie beispielweise die Einbindung von Pflegemitarbeitenden. Gerade Pflegende könnten einen positiven Einfluss auf die Entscheidung für oder gegen eine Organspende  haben, da sie einen engen und vertrauensvollen  Kontakt zu Patienten und Angehörigen hätten, betonte Graf. An den hessischen Ausführungsbestimmungen zum Transplantationsgesetz seien auch Pflegende beteiligt.  

Als Transplantationsbeauftragte an der Uniklinik Marburg arbeite sie bereits in interprofessionellen Teams, berichtete Dr. Leona Müller. Hier gebe es sowohl ärztliche als auch pflegerische Ansprechpartner. Möller rief auch dazu auf,  stärker als bisher für den Organspendeausweis zu werben – bei Hausärzten, aber auch bereits in Schulen: „Das sind wichtige Bausteine, um die Situation der Organspende zu verbessern.“

Eine Einschätzung, die Lorena von Gordon, die vor 8 Jahren Lungen-transplantiert wurde, aus eigener Erfahrung bestätigte. Sie habe damals die Chance bekommen, ein ganz normales Leben zu führen, sagte die Mittdreißigerin an dem Runden Tisch. Von Gordon arbeitet Vollzeit und treibt in ihrer Freizeit Sport. Um die Einstellungskultur zum Thema Organspende zu verbessern, forderte von Gordon eine stärkere Kommunikation von Erfolgsbeispielen. Sie selbst leistet mit dem Verein „Junge Helden“ Aufklärungsarbeit in Schulen, um aktiv auf junge Menschen zuzugehen. Je jünger die Personen sind, desto offener sei der Austausch und positiver besetzt das Thema. Bei Erwachsenen sehe das oft anders aus. Auch sie wünscht sich einen Kulturwandel.  

Die Nachricht des hessischen Ärztekammerpräsidenten aus dem Vorstand der Bundesärztekammer, dass sich die Deutsche Ärzteschaft erneut für die Widerspruchslösung ausgesprochen habe, wurde von der Runde positiv aufgenommen. Auch Graf sprach sich für die Widerspruchslösung aus. Der europäische Vergleich zeige, dass eine solche Lösung her müsse.  Bechstein wies darauf hin, dass die Willensbildung kulturell und politisch schwierig sei. Seine  Anregung einer ethischen Diskussion vor der politischen Entscheidung wurde von Pinkowski begrüßt: „Das ist sicherlich ein Thema für die Ethikgremien der Bundesärztekammer.“

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