Die Europäische Zentralbank (EZB) fährt einen riskanten Kurs. Um die Inflation einzudämmen, hat sie die Leitzinsen mehrfach deutlich erhöht und weitere Zinsschritte in Aussicht gestellt. Das gefährdet Konjunktur, Beschäftigung und Klimaziele – und es ist aktuell angesichts der Trends bei der Preisentwicklung unnötig, ergibt eine neue Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK).* Spätestens im Laufe des nächsten Jahres dürfte die Inflationsrate wieder nahe der EZB-Zielinflation von zwei Prozent liegen.

Die Aufgabe ist äußerst schwierig: Einerseits muss die EZB verhindern, dass sich die Inflation auf einem überhöhten Niveau verfestigt. Andererseits besteht die Gefahr, dass die Wirtschaft einbricht, wenn die Notenbank zu stark gegensteuert. Eine besonnene Geldpolitik ist jetzt besonders wichtig, heißt es in der Analyse von Dr. Silke Tober und Dr. Thomas Theobald vom IMK, die auf Deutsch und Englisch erscheint.

Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine stiegen die Energie- und Lebensmittelpreise stark an – in einer Situation, in der sich die europäische Wirtschaft noch nicht vollständig von vorangegangenen Krisen erholt hatte. Der Preisschock ließ die Inflationsrate im Euroraum in die Höhe schnellen. Die EZB reagierte darauf zunächst mit Bedacht, dann entschlossen mit mehreren Zinserhöhungen in Folge.

Normalerweise wirken Preisschocks nur vorübergehend als Inflationstreiber. Energie und Nahrungsmittel sind in jüngster Zeit tatsächlich nicht mehr teurer geworden und teilweise sogar billiger. Doch die sogenannte Kerninflation, bei deren Berechnung die stark schwankenden Energie- und Nahrungsmittelpreise ausgeklammert werden, ist bisher kaum zurückgegangen. Hat sich die hohe Inflation in Europa also bereits verfestigt? Nein, analysieren Tober und Theobald: „Aktuell befinden wir uns durch die Pandemie, den Ukrainekrieg und die einsetzende neue Blockbildung in der Weltwirtschaft in einer sehr außergewöhnlichen Situation.“ Die Kerninflation sei derzeit infolge des historischen Ausmaßes der Preisschocks und der Tatsache, dass teurere Energie die Preise nahezu aller Güter und Dienstleistungen erhöht, als Maß für die mittelfristige Inflationsentwicklung weniger aussagekräftig.

Mehrere Faktoren tragen dazu bei, dass die Inflation derzeit noch sehr hoch ist. Zum einen dauert es einige Zeit, bis sinkende Preise für Rohstoffe über oft komplexe Herstellungsprozesse in Endprodukten und bei Verbraucherinnen und Verbrauchern ankommen. Zum zweiten verringern sich die Lieferengpässe in einigen Bereichen nur langsam und erlauben es Unternehmen, die Preise zu erhöhen und ihre Gewinnmargen zu steigern. Auch die Preisschocks selbst haben Gewinnmitnahmen ermöglicht.

Eine mögliche Gefahr stellen grundsätzlich sogenannte Zweitrundeneffekte dar, die dazu führen, dass die Inflation über einen längeren Zeitraum hoch bleibt. Gelingt es beispielsweise den Beschäftigten, Lohnerhöhungen durchzusetzen, die die starke Inflation zumindest in wesentlichen Teilen ausgleichen, steigen die Produktionskosten, was neuen Preisdruck schafft. Nach der jüngsten Prognose der EZB dürften die Löhne im Euroraum in diesem Jahr um 5,3 Prozent und im kommenden Jahr um 4,4 Prozent steigen. Das sei aber noch unproblematisch, so das IMK. Der „Lohndruck“ habe zwar zugenommen, dürfte sich aber nicht fortsetzen, schreiben Tober und Theobald. Der Grund ist, dass sinkende Energiepreise und schrumpfende Gewinne in Bereichen, in denen sich Engpässe auflösten, das „leichte Überschießen“ der Löhne im Euroraum ausgleichen dürften. Zudem enthielten die Lohnabschlüsse häufig Einmalzahlungen, die nicht dauerhaft wirken. In Deutschland sorgt zudem die steuer- und abgabenfreie Ausgestaltung der Inflationsausgleichsprämie dafür, dass der Arbeitskostenanstieg unterhalb des Nettoeinkommensanstiegs der Beschäftigten bleibt.

Für die EZB bestehe aktuell kein Handlungsdruck, analysieren die Forschenden. „Sofern es im Euroraum keine gesamtwirtschaftliche Überauslastung der Kapazitäten gibt, die übermäßige Gewinn- und Lohnsteigerungen auch nach Auflösung der Preisschocks und der Lieferengpässe erlauben, ist eine geldpolitische Restriktion mit dem Ziel einer Reduzierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und eine dadurch induzierte Erhöhung der Arbeitslosigkeit nicht erforderlich.“ Es sei ratsam, die Wirkung der bisherigen Zinserhöhungen abzuwarten, da diese erst mit Verzögerung einsetze. Spätestens im Laufe des nächsten Jahres dürfte die Inflationsrate wieder nahe der Zwei-Prozent-Marke liegen.

Sollte es die Zentralbank hingegen mit einer weiteren Straffung der Geldpolitik übertreiben, droht dem Euroraum die nächste Krise: Die Turbulenzen an den Finanzmärkten nach der Insolvenz der Silicon Valley Bank in den USA und der Schieflage der Credit Suisse in der Schweiz hätten bereits die Risiken für den internationalen Bankensektor aufgezeigt, die zu einer Verknappung der Kreditvergabe führen könnten. Das ohnehin schwache Wachstum würde zusätzlich gedämpft. Und auch kapitalintensive Investitionen, die notwendig sind, um die klimapolitischen Ziele der EU zu erreichen, würden gebremst, schreiben Tober und Theobald. Auch dies müsse die EZB im Auge behalten – als Institution der EU ist auch sie dem Pariser Abkommen verpflichtet.

*Silke Tober, Thomas Theobald: Mehr Besonnenheit gefragt: Die Reaktion der EZB auf die Preisschocks 2022, Geldpolitische Herausforderungen 2023, IMK Report Nr. 181, Juni 2023. Download: https://www.imk-boeckler.de/…

*The Study in English: Silke Tober, Thomas Theobald: Prudent Recalibration Required: The ECB’s Response to the 2022 Price shocks. Download: https://www.imk-boeckler.de/…

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