Der dritte Mai-Newsletter ist ein wenig oder sogar ganz schön kantig geraten – was aber keinesfalls ein Nachteil sein muss, sondern in diesem Falle eher ein Vorteil ist: Denn zum einen ist es durchaus lobenswert, wenn einer (in diesem Falle eben auch ein Newsletter) klare Kante zeigt, und zum anderen ist in diesem speziellen Falle Uwe Kant gemeint, der jüngere Bruder von Hermann Kant, dem großartigen Formulierer und in der direkten Nachfolge von Anna Seghers langjährigen Präsidenten des DDR-Schriftstellerverbandes, der gern und kräftig ausgeteilt hatte und der schon vor und vor allem nach der Wende einiges einzustecken und auszuhalten hatte – was aber nicht nur an ihm lag, sondern auch an einer ziemlich merkwürdigen Debatte über außerliterarische Beschäftigen des Kant, Hermann und über den bleibenden oder nicht bleibenden Wert der Literatur eines untergegangenen Landes. Was bleibt? lautete die Frage nicht nur im Falle einer gewissen Christa Wolf. Was wird bleiben von der DDR und von ihren Büchern?

Zu diesem Land und zu jenen ihrer Bücher, die es wert sind, auch Jahrzehnte nach ihrem ersten Erscheinen im „Leseland DDR“ wieder einmal in die Hand genommen und gelesen zu werden, gehören die von Uwe Kant, dem jüngeren Bruder von Hermann Kant, vor allem als in mehrere Sprachen übersetzter Kinder- und Jugendbuchautor bekannt und „Das Magazin“-Leserinnen und Lesern (die es alle drei übrigens immer noch gibt: „Das Magazin“ ebenso wie seine Leserinnen und Leser) auch als Verfasser der unter der Rubrik „Ausgelesenes“ verfassten Buchkritiken.

In der heutigen kantigen Ausgabe ist dieser Uwe Kant gleich mit vier seiner Bücher vertreten, die wie auch der aktuelle Beitrag der „Friday for Future“-Rubrik damit zu den insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangeboten dieses Newsletters gehören, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 19.05.23 – Freitag, 26. 05. 23) zu haben sind.

Im ersten Kant-Buch „Heinrich verkauft Friedrich“ geht es um streitende Eltern, um fehlendes Geld, worüber sie sich streiten, und um einen Jungen, der etwas tun will, was er eigentlich nicht tun will – einen Freund verkaufen.

Die Reise von Neukuckow nach Nowosibirsk“ stellt die Leserinnen und Leser nicht zuletzt vor ein geografisches Rätsel. Wo genau liegt eigentlich Nowosibirsk?

Das Klassenfest“ handelt von einem sympathischen Spinner und zeigt, wie junge Leute in der DDR gelebt haben. Und außerdem geht es auch hier um einen Vogel. Ob Uwe Kant ein Faible für Kanarienvögel hat, zumal solche, die singen können? Wir müssen ihn vielleicht mal fragen. Das erstmals 1969 veröffentlichte Buch war 1971 von der DEFA unter dem Titel „Männer ohne Bart“ verfilmt worden (Regie: Rainer Simon). Dem Streifen wurden damals „Realitätsdichte und Verspieltheit“ bescheinigt. Und im Übrigen war Uwe Kant nach seinem Studium der Germanistik und der Geschichte in Rostock und Schwerin selbst einmal für ein paar Jahre Lehrer.

In dem Buch „Alfred und die stärkste Urgroßmutter der Welt“ hat es einer nicht leicht und viele geheime Wünsche. Und dieser eine ist natürlich Alfred.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Wieder einmal geht es um das Thema Krieg, wobei einer der beiden heute vorgestellten Texte auf eine große Vorlage eines berühmten Dichters (und Historikers) zurückgreift.

Nachdem wir bereits in der vergangenen Woche an dieser Stelle ein hier eher ungewöhnliches literarisches Genre, ein Theaterstück, präsentiert haben, steht auch diesmal wieder ein eher ungewöhnliches Format zur Debatte. Die Rede ist von einem Hörspiel oder besser und genauer formuliert, von zwei Hörspielen, die beide der Rostocker Schriftsteller Ulrich Frohriep geschrieben hat und die unter dem Doppel-Titel „Die Belagerung & Ich habe getötet“ erstmals 2002 im BS-Verlag Rostock erschienen waren. „Die Belagerung. Eine Geschichte aus vergangener Zeit“ ist ein Hörspiel von 1986. „Ich habe getötet“ ist ein Hörspiel von 1989.

Es sind zwei Hörspiele, wie sie unterschiedlicher nicht sein können: Historisches Spektakel das eine, Psychogramm eines Mörders das andere. Das Hörspiel „Die Belagerung“ entstand nach der Erzählung „Merkwürdige Belagerung von Antwerpen in den Jahren 1584 und 1585“ von Friedrich Schiller aus dem Jahre 1795. Überhaupt zeigte Schiller großes Interesse an den Niederlanden. Er schrieb historische Arbeiten, so die „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung“ (1788), „Leben und Tod des Grafen Lamoral von Egmont“ (1789) und eben die „Merkwürdige Belagerung von Antwerpen in den Jahren 1584 und 1585“ (1795). Außerdem hat sein Theaterstück „Don Carlos“ wichtige Bezüge zur protestantischen Rebellion in den Niederlanden im 16. Jahrhundert.

Gleich die ersten Sätze des Hörspiels, gesprochen von einem „Sprecher“ zeigen, worum es in der „Belagerung“ geht: „Um eine Stadt zu erobern, braucht man einen Plan. Und ein paar Truppen, gewiss, Gewehre, Kanonen, Munition. Das nötige Geld dazu. – Aber vor allem einen Plan.“ Aber was ist der Plan?

Bürgermeister: Der Feind ist näher gerückt. Sicher, er kann unsere gute Stadt nicht ernstlich gefährden. Und doch. Ringsum die Verbündeten. Also: Sie haben kapituliert. Wir sind eingeschlossen. Bürger, Ratsherren. Es ist an der Zeit, etwas zu tun. Das weitere Vordringen des Gegners ist zu unterbinden.

Sprecher: Ein energischer Mann. Ein Mann mit Ideen.

Bürgermeister: Darum schlage ich vor, die Dämme, die die Wasser des Meeres bei Flut von uns abschirmen, niederzureißen, um dem Feind jeden Weg zur Stadt abzuschneiden.

Sprecher: Das Interesse des Bürgermeisters ist es – ohne Zweifel –, die Stadt so wirksam wie möglich zu verteidigen.

Fleischer: Einspruch! Das Land, das Sie da im Auge haben und überfluten wollen, Herr Bürgermeister, das Land wird dringend benötigt. Für die Mästung von 12.000 Ochsen, Herr Bürgermeister. Wovon sollen wir leben, sagen Sie das bitte mal.

Sprecher: Die Interessen sind offensichtlich verschieden. Und da die Fleischerinnung sich stark zu machen in der Lage ist – sie hat das Geld und die Argumente –, wird aus diesem Vorschlag des Bürgermeisters vorerst nichts. Später lässt er sich nicht mehr verwirklichen, später streifen auf den Ochsenwiesen gegnerische Reiter. Aber nimmt man es genau, kommt es nicht auf eine Wiese mehr oder weniger an, sondern darauf, dass man Recht behält.

Bürgermeister: Jedoch ist es notwendig, mehr Lebensmittel einzulagern, als bislang vorrätig. Es könnte sein, dass man doch ein paar Wochen eingeschlossen, abgeschnitten sein wird.

In „Ich habe getötet“ wird der Mord an der siebzehnjährigen Doris Martens verhandelt. Aber warum ist er geschehen? Aus Vorsatz oder im Affekt?

1993 erschien im Elefanten Press Verlag GmbH, Berlin „Heinrich verkauft Friedrich“ von Uwe Kant.

Heinrich hört seine Eltern streiten. Das Geld reicht nicht.

Und dieser Vogel, schreit der Vater, der frisst mir noch die Haare vom Kopf! Heinrich nimmt Friedrich, den Kanarienvogel, und geht mit ihm zu der großen Kreuzung, dorthin, wo jetzt immer vietnamesische Männer stehen und Zigaretten verkaufen.

Heinrich will Friedrich verkaufen. Für zehn Mark. Es tut mir leid, Friedrich, es tut mir wirklich leid … Die Männer verkaufen eine Schachtel Zigaretten und noch eine. Aber keiner will Heinrichs Vogel. Da kommt Onkel Riko. Bisschen lang, bisschen dünn. Er hat Heinrich den Vogel geschenkt – früher, in dem anderen Jahr. Und so versucht Heinrich, seinen Vogel zu verkaufen:

Heinrich stellt sich neben einen Zigarettenmann.

Friedrich im Käfig, Friedrich im Kissen setzt er vorsichtig auf den Rand eines steinernen Blumenkastens.

Ihm ist jetzt ganz bange im Herzen.

Wie soll er das nun alles machen?

Soll er rufen wie der Zeitungsverkäufer im weißen Mantel?

Achtung, Achtung!

Superkanari frisst Haare vom Kopf?

Soll er so mit der Hand zeigen wie die Uhrenverkäufer, Pulloververkäufer, Zigarettenverkäufer?

Zeigen?

Was hat er denn zum Zeigen?

Es tut mir leid, sagt Heinrich und zieht den Kissenbezug vom Käfig.

Es tut mir wirklich leid, Friedrich.

Aber Friedrich ist kein bisschen traurig.

Er freut sich über den Sonnenschein.

Und er freut sich über den Lärm ringsherum.

Lustig springt er von einer Stange zur anderen.

Fängt schon an zu piepsen.

Wird bald schon singen.

Gleich werden alle Leute stehenbleiben.

Werden runde Augen machen und die Ohren aufsperren.

Vielleicht gleich.

Aber jetzt noch gar nicht.

Nur der dünne vietnamesische Mann guckt auf Heinrich und Friedrich.

1980 erschien in Der Kinderbuchverlag Berlin. „Die Reise von Neukuckow nach Nowosibirsk“ von Uwe Kant.

Jürgen sang. Vorher hatte er schon „Yvetta“ gesungen. Jetzt sang er „Crazy Horses“, einen Titel oder „Teitel“, von dem er nicht mehr beherrschte als eben jene beiden Worte und ein abschließendes Wiehern. Das machte ihm aber nichts aus: Er sang mit rhythmisch hin und her geworfenem Kopf, „crazy horses, wihihiii“ und fühlte sich wie der Hirtenknabe, der gerade zwei mehrköpfige Drachen erschlagen, einigen Riesen Manieren beigebracht, die Königstochter geheiratet und die Hälfte des Reiches übernommen hatte. Er fuhr dahin durch seine Lande und war es zufrieden über die Maßen.

Die Reise von Neukuckow nach Nowosibirsk bringt für Jürgen Rogge erstaunliche Erfahrungen. Vornehmlich Erfahrungen mit sich selber, denn Nowosibirsk liegt nur ein paar Kilometer hinter Neukuckow. Der folgende Textauszug gibt einen kleinen Einblick in Jürgens große (kleine) Reise:

Das nächste Dorf hieß Zinzerow. Es sah gut aus. Jemand hatte einmal angefangen, sein Haus zu bemalen, und die anderen hatte das nicht ruhen lassen. Nun standen links und rechts der Straße himmelblaue, lindgrüne, rosa, hellgelbe Häuser und sahen richtig gut aus. Jürgen rollte bis vor den Konsum, der an Schönheit mit den Häusern nicht ganz mithalten konnte. Neben dem Eingang saßen auf kopfgestellten Kartoffelkörben zwei Männer in braunem Manchesterzeug, die Bier tranken und ihm ruhig und aufmerksam zuguckten, wie er das Mofa abstellte und in den Konsum ging. Als er mit zwei Brötchen und einer kleinen Dauerwurst wieder herauskam, setzte der eine Manchestermann die Flasche ab und sagte: „Willst da heute noch hin?“ Jürgen guckte auf seine Armbanduhr und schüttelte grinsend den Kopf. Der andere Mann zeigte mit dem Kinn auf Brötchen und Dauerwurst und sagte: „Is dat nicht ’n bäten drög? Ist das nicht ’n büschen trocken?“ „Ja“, sagte Jürgen, „bäten drög is dat, aber die haben nix mehr, alles ausverkauft.“ Der ihn gefragt hatte, stand auf und rief von der zweiten Stufe her durch die geöffnete Ladentür: „Paula, du woll’st mir doch ’ne Limo kalt stellen, bring mir die doch mal eins raus!“ „Ha, komm du man rein, Otto, und hol sie dir“, rief Paula zurück, „dat is hier ’n Konsum und kein Gartenlokal!“ „Det heww ick mi bald dacht, das is mir vorhin schon bald so vorgekommen“, sagte Otto und zwinkerte Jürgen zu. Er setzte sich seelenruhig wieder auf seinen Korb. Nach zehn Sekunden erschien Paula in der Tür und warf ihm eine grüne Limonadenflasche mit altertümlichem Bügelverschluss zu. Er reichte sie an Jürgen weiter, mit dem Daumen zeigte er auf den Konsum und sagte: „Meine Frau. Die kenn ich.“ Die Limonade schmeckte, wie sie aussah: grün. Kenner von grünen Limonaden wissen, was das zu bedeuten hat. Andere sollen sich darunter vorstellen, was sie mögen. Für Jürgen waren nur Temperatur und Aggregatzustand wichtig: kühl und flüssig. Kühl und flüssig war sie. Jürgen trank die Flasche in einem Zug bis auf zwei Daumenbreiten leer, „’n ganz netten Schluck, nicht Willi?“, sagte Otto zu dem Mann auf dem anderen Kartoffelkorb. „Ja“, sagte der, „ganz nett soweit.“ Er sah so aus, als ob er sich nicht unterhalten wollte. So gesprächig wie ein Löwe aus Zement. Aber Otto wollte. Otto sagte nun: „Wolltest du schon mal so weit weg, Willi?“ „Nee“, sagte Willi und schnäuzte sich merkwürdig elegant über den rechten Zeigefinger. Otto meinte: „Ich weiß nicht, als jungscher Bengel wollt’ ich immer gern mal nach Paris, mit Colette oder wie die Deerns so heißen von Eiffelturm kucken. Äwwer an min Fahrrad heww ick dat nicht ranpappt, nee.“ „Colette“, knurrte Willi höhnisch und sprach es offen gesagt so wie „Toilette“ aus, „du auch grade.“ „Ja, ich auch grade, ich hab ja dann auch Paula gekriegt, und da waren noch ganz andere hinterher, nicht, Willi Fehse?“, sagte Otto und nickte seinen Worten bekräftigend hinterher. Willi Fehse sagte darauf gar nichts mehr, sondern zog nur eine gefährlich aussehende Zigarre aus der Brusttasche und steckte sie in Brand, dass die Funken flogen. Jürgen war jetzt wirklich heilfroh, dass dies alles keine feurigen Sizilianer oder wilden Kurden waren hier auf den Kartoffelkörben. Immerhin fühlte er sich doch verpflichtet, Wasser auf den aufgewühlten Vulkan der Leidenschaften zu gießen. Wer hätte das auch ahnen können, dass gleich so viele hinter dieser Paula her gewesen waren. Und durch sein Erscheinen waren sie überhaupt erst wieder draufgekommen. Er sagte: „Ist jetzt gutes Wetter für die Landwirtschaft, nicht?“ Willi Fehse ließ seine fackelartige Zigarre sinken und guckte ihn an, als hätte er gerade geäußert, die Gurke sei den Ölfrüchten zuzurechnen. Otto patschte sich mit der Hand aufs Manchesterknie und sagte: „Ha, das is’n Ding, das is dir vielleicht ’n Ding!“ Und er lachte herzhaft dazu. Einer wenigstens, schien es, hatte nun wieder gute Laune. Die vielbegehrte Paula guckte wieder aus der Tür, ließ sich misstrauisch den Grund so vernehmbarer Heiterkeit sagen und sagte ihrerseits zu Jürgen: „Nee, mein Jung, das is nun wieder büschen viel Sonne auf einmal, aber recht hast du trotzdem, wenn einer die beiden Kerle hier so sitzen sehen tut, denn muss er ja denken, das macht sich alles von selber. Da braucht hier gar keiner lachen, ja, ja!“ Otto fasste das denn auch gleich ganz und gar persönlich auf: Er hörte mit sofortiger Wirkung auf zu lachen. Und wer flink genug war, der konnte in diesem Augenblick noch ein Krümelchen schadenfrohen Schmunzelns in Willi Fehses Mundwinkel erkennen. Der war doch wohl manchmal froh, dass er seinerzeit nur den ehrenvollen zweiten Platz belegt hatte. „Ja“, sagte Otto, „ich muss denn ja los, nich, mal nach’m Rechten sehen.“ „Ja“, sagte Paula, „aber guck dich man nicht fest.“

Das erstmals 1969 in Der Kinderbuchverlag Berlin veröffentlichte Buch „Das Klassenfest“ von Uwe Kant war 1971 von der DEFA unter dem Titel „Männer ohne Bart“ verfilmt worden (Regie: Rainer Simon). Dem Streifen wurden damals „Realitätsdichte und Verspieltheit“ bescheinigt.

Der Schüler Otto Hintz ist ein sympathischer Spinner. In seiner Phantasie springt er von einem lustigen Abenteuer zum anderen. Aber sein Zeugnis ist voller schlechter Noten. Die Versetzung ist gefährdet. Doch seine Lehrer wissen Rat. Als er zu der für seine Zukunft wichtigen Aussprache zu spät kommt, entschuldigt er sich damit, dass er den Kanarienvogel einer Nachbarin aus einem Baum retten musste.

Für uns ist die Geschichte von Otto Hintz etwas ungewöhnlich, denn sie spielt in der DDR. In diesem Buch erfährt der Leser, wie junge Menschen in der DDR lebten: nicht besser, nicht schlechter als jetzt … aber anders.

Und hier eine kleine Kostprobe:

Ich sagte: „Och, es war ganz nett, von Tante Gretes Leber hab ich nix gemerkt, sie haben ’ne ganze Menge Hühner, ein paar Enten und Gänse, eine Ziege, drei Schafe und zwei Schweine, und ich soll auch schön grüßen, und du sollst sie doch auch mal besuchen.“ Damit hatte ich wohl alles beantwortet, und die Grüße hatte ich auch angebracht. Über das Haus brauchten wir wohl nicht zu reden, das würde noch seine hundert Jahre mitmachen. „Und Tauben haben sie auch“, sagte ich. Ich merkte schon, dass meine Mutter damit noch nicht zufrieden war. Sie guckte mich an, als wenn ich man gerade erst gesagt hatte: Es war einmal … Und mit dem Kuchen hatte sie sich auch große Mühe gegeben. Aber was sollte ich ihr erzählen? Natürlich, über das Allerallerwichtigste hatte ich noch kein Sterbenswörtchen verloren. Ich wusste aber nicht, ob es Zweck hatte, darüber zu reden. Wie sollte ich das anfangen? Sollte ich mich in die Brust schmeißen und sagen: Ich habe jetzt eine erstklassige Freundin, sie wohnt neben Kuhnerts, hat sieben Zweien auf dem Zeugnis, heißt Hanna und sieht unheimlich nett aus? Ich weiß ja nicht. Was konnte meine Mutter dazu sagen? Eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten. Sie konnte freundlich schmunzeln, mir so niedlich mit dem Finger drohen und soso sagen, oder sie konnte mich ernsthaft fragen, ob das auch wirklich ein ordentliches Mädchen ist und ob ihre Eltern anständige Leute sind. Dann konnte ich nur antworten: Ja, sie ist sehr ordentlich, denn in Ordnung hat sie sogar eine Eins, ihre Mutter ist so eine Drahtige, die einen mit prima selbst gemachtem weißem Käse füttert, und ihr Vater ist ein friedlicher Geselle, der sich nur beim Fernsehen die Gesichter ziemlich schlecht merken kann.

Ich sagte: „Prima Kuchen.“

„Ja, ja“, sagte meine Mutter, „nun erzähl doch mal.“

„Ja, also, es war wirklich alles ganz nett“, sagte ich kauend, „Onkel Kuhnert hat mich gleich vom Bahnhof abgeholt, sie haben einen ,Trabant‘. Ich habe ihnen ’ne ganze Masse Holz gehackt, das macht vielleicht Spaß, man muss bloß erst den Bogen raushaben. Tante Grete ist auch in Ordnung, die hat mir immer Milchsuppe gekocht, und ich hab ihr beim Viehfüttern geholfen. Außer ihrem eigenen haben sie noch Kälber von der LPG im Stall. Abends haben wir Kreuzworträtsel geraten oder gelesen. Na ja, und Fernsehen. Und rodeln.“

Und dabei hab ich ja meine Freundin kennengelernt, hätte ich nun sagen müssen. Ach, das war eine verzwickte Sache. Hatte ich vielleicht gesagt: Willst du meine Freundin sein? Und hatte sie vielleicht geantwortet: Aber sicher doch, mein Schatz? Nicht die Spur. Ich hatte sie ja nicht mal geküsst, obwohl ich es mir vorgenommen hatte und gedacht hatte, es würde schon klargehen. Damit ging es schon los. Konnte ich überhaupt „Freundin“ sagen? Ach Gott, sagen konnte ich das bestimmt, zu mir selbst bestimmt. Ich wusste doch, dass es nicht gesponnen war. Und ich konnte es auch sagen, wie es Christoph Höhne jedem sagte, was für eine enorme Freundin er hatte. Da war weiter nichts bei, das war Angeberei. Und angeben konnte ich auch, wenn ich wollte. Aber ich hatte keine Freundin zum Angeben. Wie sollte ich das nun erklären? An Ort und Stelle, ich meine in Schlate, war das eine einfache und klare Sache gewesen. Aber in der Bahn, bei der Heimfahrt, fing es schon an wegzurutschen. Rudi Helm ist mal mit seinen Eltern ein Wochenende über in Prag gewesen. Zuerst hat er immerzu davon erzählt. Was für Sachen sie da zum Mittag essen, wie die Straßenbahnen aussehen, wo die Sache mit dem Fenstersturz passiert ist und wie viel Schlagsahne er gegessen hat. Das war richtig schlimm. Es hat nicht viel gefehlt, und er hätte gesagt: „Bei uns in Prag …“ Dann wurde es allmählich besser, und jetzt hat er schon ganz und gar damit aufgehört. Ich möchte aber nicht gerne, dass mir das mit Schlate und Hannchen auch so geht. Ich habe nicht einmal ein Bild von ihr. Ich habe sie richtiggehend gefragt, ob sie mir nicht eins mitgeben kann. Das war am vorletzten Tag, im Stall. Da konnte man sich wenigstens in Ruhe unterhalten. Denn man muss nicht denken, dass ich wie so’n oller Spanier vor ihr auf den Knien rumgerutscht bin, bloß weil ich gern das Bild haben wollte. Wir haben da also so gesessen, jeder auf einem Melkschemel, und uns einen Schlag erzählt. Das heißt, sie hat wenig gesagt, aber ich habe eine gehörig lange Rede gehalten. Ich habe gesagt: „Hier ist es wunderbar gemütlich, nicht? Ich könnte gut hier sitzen bleiben und überhaupt nicht wegfahren, die könnten meinetwegen die Schienen abreißen. Mit den Kälbern würde ich schon zurechtkommen. Und dann müsste ich da in der Ecke ein Feldbett mit Strohsack und ein paar alte Decken haben und unterm Bett ’ne Flasche Rum, das wäre dir ein Leben.“

„Ja, ja“, sagte Hannchen, „wenn der Wind auf den Stall steht, bekommst du Rheumatismus, Mensch.“

Ich sagte: „Das kann ich mir schon vorstellen, und waschen kann man sich hier auch nicht richtig, und Kuhstallnachtwächter oder was ist auf die Dauer auch nicht die Beschäftigung fürs Leben. Ich sag auch bloß so. Ich meine, weil es mir hier ganz gut gefallen hat. Fernsehen und rodeln und alles. Und wir haben uns doch auch gut vertragen, nicht.“

Sie sagte kein Wort und guckte immerzu auf ihre Schuhspitzen.

„Hast du schon mal einen Freund gehabt?“ Das hatte ich schon ein paar Tage lang fragen wollen. Ich hatte mir gedacht, sie müsste nein sagen, und dann wollte ich sagen: Und wie wär’s mit mir? Das wäre ’ne elegante Art, hatte ich gedacht. Sie wurde rot, soviel ich sehen konnte, und sagte ganz entrüstet: „Ach wo.“ Jetzt hätte ich mit der eleganten Art kommen müssen. Aber es ging nicht. Mir war so, als ob ich über eine drei Meter hohe Hecke hopsen sollte. Sie hätte auch mal was sagen können, verdammt. Sie besichtigte nun nicht mehr ihre Schuhe, aber dafür guckte sie höchst interessiert auf das blinde Stallfenster, als ob sie auf die Heiligen Drei Könige wartete. Ich sagte: „Findest du das nicht auch, dass wir uns ganz gut vertragen haben? Ich hätte nicht gedacht, dass man mit einem Mädchen so gut auskommen kann. Die bei uns in der Klasse sind alle so, so, na, ich weiß auch nicht. Morgen um diese Zeit sitz ich schon in der Bimmelbahn, und Montag haben wir Chemie, wenn wir nicht einen neuen Stundenplan kriegen. Kannst du mir nicht, ich meine, hast du nicht ein Bild, was du mir mitgeben kannst? Ich zeig es nicht rum. Es soll so mehr ’ne Erinnerung sein, damit ich mich besser erinnern kann. Ich zeig’s wirklich keinem.“

1988 erschien in Der Kinderbuchverlag Berlin – DDR „Alfred und die stärkste Urgroßmutter der Welt“ von Uwe Kant.

Alfred Kieferberg hat geheime Wünsche, die sehen so aus: Einmal eine Torte ganz allein aufessen. Einmal so lange schlafen, bis man nicht mehr schlafen kann. Einmal einen Hund zu Hause haben. Einmal allein sein und es sich richtig gemütlich machen. Alfred hat eine Menge solcher Wünsche, aber immer, wenn er daran geht, sich einen dieser Wünsche zu erfüllen, passiert etwas. Ganz schuldlos ist eine gewisse Frau G., die stärkste Urgroßmutter der Welt, auch nicht daran. Alfred, den alle vernünftigen Leute Fredi nennen, hat es nicht leicht, wie diese Leseprobe zeigt.

Alfred als Erzieher

Eines denkwürdigen Tages beschloss Alfred, Erzieher zu werden.

Der Beschluss kam auch für ihn überraschend, aber er wunderte sich kein bisschen darüber, als es plötzlich soweit war. Fast sein ganzes Leben hatte er Erziehern bei der Arbeit zugesehen, und schon lange war er sicher, diese Tätigkeit im Notfall auch persönlich ausüben zu können.

Der Notfall aber trat ein, als Kosankes einen neuen götterspeisekirschgeschmackfarbenen Pkw des Fabrikats „Skoda“ erhielten, mit dem sie sogleich Penzoldts besuchen wollten, die kurz zuvor einen neuen Bungalow namens „Abendröte“ aufgestellt hatten. Alfreds Eltern, die gerade nichts Neues aufzuweisen hatten, sollten als Bewunderer mitgenommen werden. Zum Ausgleich dafür waren Kosankes bereit, ihren Sohn Sebastian übers Wochenende bei Alfred zurückzulassen.

„Nücht“, sagte Frau Kosanke, „kann doch Fredi bisschen auf aufpassen, nücht? Der ist ja nun schon bald erwachsen, siebente Klasse, na!“ Alfred gab der guten Frau Kosanke im Prinzip recht.

Den Ausdruck „im Prinzip“ und die Anwendung desselben kannte er von seinem Vater. Wenn man diesen alten Mann daran erinnerte, dass er doch versprochen hatte, mit einem zum Baden zu fahren, so antwortete er zum Beispiel: „Im Prinzip richtig, jedoch scheint mir das Wasser doch noch etwas kühl zu sein. Wir werden besser noch ein bisschen damit warten.“ Er wartete selbstverständlich nicht auf die Erwärmung der Binnenseen, sondern auf irgendeinen verflixten Film im Fernsehen oder auf Herrn Rühl und Herrn Pottersdorf, seine Skatbrüder.

Alfred gab der Frau Kosanke nur im Prinzip recht, weil er in ihren positiven Ausführungen über ihn die Nachtigall ganz schön trapsen hörte: nämlich diese listigen Erwachsenen erklärten einen immer dann für volljährig, weise und gut, wenn sie etwas Bestimmtes von einem wollten. Außerdem gefiel ihm das Wort „aufpassen“ nicht. Aber im Prinzip hatte Frau Kosanke recht. Er ging tatsächlich in die siebente Klasse, und er war wirklich so gut wie erwachsen, und er konnte jedenfalls mit dem sogenannten Sebastian auf alle Fälle fertig werden.

Das war der Augenblick, in dem er beschloss, Erzieher zu werden.

Pünktlich zur festgesetzten Stunde fuhren Kosankes am Freitag vor. Frau Kosanke schob ihren Sohn Sebastian in die Stube.

„So, Basti“, sagte sie, „nun sage auch schön guten Tag, und dass du mir auch auf Fredi hörst. Wir müssen gleich los, bei Penzoldts wird gegrillt.“

Herr Kosanke, im Gesicht vor Aufregung ähnlich gefärbt wie sein neues Auto (götterspeisekirschgeschmackfarben), stand bescheiden im Hintergrund und klapperte gedämpft mit den Autoschlüsseln.

Alfreds Mutter richtete den flammenden Appell an ihren Sohn, sich stets der Verantwortung bewusst zu sein. Alfreds Vater erhob die entschiedene Forderung, keinerlei Mist zu bauen.

Herr Kosanke, den die Belehrungen nervten, war bereits nach unten gegangen und hupte schon.

Basti – blödsinniger Name, dachte Fredi – beobachtete vom Fenster aus die Abfahrt des Elternkollektivs.

„Jetzt hopsen se ab“, verkündete Sebastian ohne jede Spur von Trauer, „habt ihr Farbfernsehen?“

Verdammt, dachte Alfred, schon geht es los mit der Erzieherei. Die richtige Antwort lautete nein, aber Erzieher sagen doch nicht einfach nein. Sie geben eine Begründung. Zum Beispiel: Nein, wenn wir Farben sehen wollen, schauen wir in die schöne Natur, welche uns umgibt. Oder: betrachten wir ein gemischtes Softeis. Oder: gucken wir uns das berüchtigte Auto von Kosankes an, in welchem immer der liebe Basti herantransportiert wird.

„Eh, biste taub oder haste Hammer und Amboss abgegeben?“

Alfred erbleichte innerlich und dachte an Maulschellen, Kopfnüsse und Rippentriller. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass er selbst ein Gegner der Prügelstrafe in der Erziehung war. „Ach“, sagte er, „sei so gut, mein lieber Johann Sebastian, und mach die Gardine wieder richtig vor, ja?“

Basti drehte sich um und musterte Alfred, den Erzieher, voller aufrichtiger Verwunderung. Er war ein stämmiger kleiner Bursche von sieben Jahren. Er hatte Haare wie Engel auf Ölgemälden und dazu passende blaue Augen.

„Wozu sind eigentlich Gardinen?“, sagte er.

„Ja, ja“, sagte Alfred.

„Nee, sag mal, ehrlich.“

Alfred räusperte sich und sagte mit fester Stimme: „Gardinen dienen zum Schmuck des Fensters und verleihen dem Wohnraum ein schöneres Aussehen.“

„Zur Zierde, wa?“

„Ja, so könnte man auch sagen.“

„Und die Tiger im Tierpark – sind die auch zur Zierde?“

„Ja, ja“, sagte Alfred, „das heißt, eigentlich, eigentlich nicht, nein.“

„Aber die Affen!“

„Ach was“, sagte Alfred, „hör auf, ja.“

„Aber die Elefanten und diese, diese Adlers.“

„Adler“, sagte Alfred berichtigend.

„Ja? Die Adler, ja?“

„Nein, zum Kuckuck“, sagte Alfred, „und auch nicht die Stachelschweine und die Kängurus und der Direktor.“

„Nee?“

„Nein“, sagte Alfred, „warte mal, ich werde dir das mal erklären.“ Er winkte ihn in die Küche und nahm ein Glas Pflaumenmus aus dem Hängeschrank.

„So, nun guck her, was ist hier drin?“

Der engelhafte Sebastian machte ein schlaues Gesicht, kniff sogar ein Blauäuglein zu und sagte: „Nägel?“

„Jetzt werde ich aber gleich wahnsinnig, warum zum Donnerwetter sollen denn da Nägel drin sein?“

„Mein Pappi hat immer lauter kleine Nägel in son Glas.“

„So, aha, na, wir haben jedenfalls immer Pflaumenmus in den Pflaumenmusgläsern. Guck her, ich mach den Deckel ab. Das Mus – das ist der Inhalt, verstehst du, der Inhalt!“

„Mir schmeckt bloß Erdbeermarmelade, dir auch?“

„Jetzt rede nicht dazwischen“, sagte Alfred, „jetzt hör lieber zu: das Pflaumenmus ist keine Verzierung, sondern der Inhalt. Von dem Glas. Und die Tiger, die sind der Inhalt vom Tierpark. Verstehst du?“

Basti betrachtete misstrauisch das Marmeladenglas, das Alfred in die Höhe hielt, damit der Inhalt besser zu sehen war. „Ja“, sagte er, „habt ihr Farbfernsehen?“

Das offene Glas fiel aus Alfreds Hand senkrecht auf den Fußboden, und kaum war es aufgeschlagen, schoss auch schon ungelogen und aus ernsthaften physikalischen Gründen eine Fontäne Pflaumenmus daraus hervor. Die obersten Spritzer erreichten die Küchendecke, die Hauptmasse klebte am Küchenschrank.

Es dürfte sich gelohnt haben, diesen im besten Sinne des Wortes kantigen oder UWEKANTigen Newsletter bis hierher durchgelesen zu haben. Und ganz bestimmt dürfte auch mindestens eines der heute hier präsentierten Sonderangebote das Lese- und Kaufinteresse der geschätzten Abonnentinnen und Abonnenten der wöchentlichen Post aus Godern geweckt haben. Schließlich sind sie allesamt einfach gut und bis auf eine Ausnahme KANTig geschrieben.

Viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen schönen Mai und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

Ach, und auch in der nächsten Woche wird es wieder KANTig, zumindest zu drei Fünfteln des nächsten Newsletters. Außerdem geht es dann unter anderem um den Tod eines Chefs. Neugierig geworden?

Und ganz zum Schluss noch was ganz Persönliches: Uwe Kant, Jahrgang 1936 und gebürtiger Hamburger und aufgewachsener Parchimer, hatte gestern, am 18. Mai, Geburtstag …

 

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital war vor 28 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.300 Titel. E-Books sind barrierefrei und Bücher werden klimaneutral gedruckt.

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