Bis wir 50 Jahre alt sind wandern wir den Weg hoch, mit einem Ziel vor den Augen: Den Gipfel. Hinter uns die Vergangenheit, die uns hierhergebracht hat. Bis dahin ist der Tod ein Unfall, ein Zufall, ein Element des Lebens, welches wir nicht zulassen – weit weg. Doch ab dem 50-igsten Lebensjahr fängt es an, dass die KollegInnen schwer erkranken, dass Elternteile sterben. Die Gesundheit wird für uns selbst ein Thema – die ersten «Bräschteli» wollen nicht mehr einfach verschwinden.

Unser Vater ist letzte Woche an einer heftigen und gnadenloser Krebserkrankung gestorben. Er war auch beim ensuite tätig, hat lange Zeit eine Seniorenkolumne in unserem Heft geschrieben. Wir wussten schon eine Weile, dass es nicht mehr lange dauern würde, und der Tod zeigte sich barmherziger als der Krebs und erlöste ihn schnell und ohne grosse Komplikationen im Schlaf. Und so traurig es ist: Wir hätten es ihm nicht mehr und schöner wünschen können. Das klingt grotesk, aber das Zusehen, wie ein Mensch innert einem halben Jahr von dieser Krankheit zerfressen wird, lässt keine bessern Option zu.

Und damit folgte mein Moment, wo ich den eigentlichen Gipfel von meinem Berg erreicht habe. Ich sehe jetzt nicht nur die Vergangenheit, sondern auch meine Zukunft. Ab hier sehen wir einen neuen Horizont hinter dem Berg. Selbstverständlich ist das noch lange nicht das Ende – im Gegenteil: Der neue Horizont zeigt neue Ziele, viel mehr noch als wir uns zuvor vorstellen konnten. Ich habe selbst immer ein Himalaya-Gebirge vor meinem inneren Auge, eine ziemliche Endlosschlaufe. In diesem Moment wird mir aber bewusst, was man noch alles erreichen kann in einem Leben und was nicht. Alles wird nicht mehr möglich sein. Und jetzt folgt erst mal ein erster Abstieg.

Das klingt schrecklich dramatisch. Doch der Deal war von Anfang an klar: Wir kommen auf die Welt, wir werden auch wieder gehen. Dazwischen ist Zeit, um zu Leben. Diese Zeit ist wild und illusorisch – wir stellen uns vor, was wir sind, sein wollen und bauen unsere Wunschbilder auf. Das machen alle individuell und für sich. Wir schaffen durch Definitionen Gesellschaften, Moral, Sprachen, … Kultur eben. Es gibt nur eine Konstante, die für alle gleich ist: Wir sind nicht allein hier, es gibt viele andere Menschen um uns herum, denen es gleich ergeht.

Damit erhalten diese Beziehungen zu anderen Menschen plötzlich neue Bedeutungen. Im Leben geht es um Beziehungen. Wir mit den anderen, die anderen mit mir, ich mit Dir. Das ist in der Kulturdefinition die höchste Stufe des Begriffs. Es gibt keine «Kultur» (zumindest bisher) mit Aliens – also sind die Beziehungen mit Menschen, unseren Mitmenschen, «die Kultur».

Und darum bin ich zum Schluss gekommen, dass ich meine zweite Hälfte meines Lebens nur noch mit Menschen verbringen möchte, die mich ebenso als Mensch wahrnehmen. Täglich werde ich von Maschinen (KIs), anonymen Newslettern, Anfragen bombardiert, wo ich nur als Funktion angesprochen werden. Wer interessiert sich für die Menschen hinter dem «ensuite – Zeitschrift zu Kultur & Kunst»? Wer kann mich als normalen Menschen sehen und nicht nur als Journalisten? Wer kontaktiert mich, weil ICH es bin und nicht ein Tor zur Öffentlichkeitsarbeit repräsentiere? Wir sind nicht wichtig, nicht wichtiger als andere, aber wir sind Menschen.

Liebe LeserIn, Sie müssen sich das so vorstellen: Täglich fragen mich Institutionen, Agenturen, KünstlerInnen, AutorInnen, MusikerInnen, ob ich Ihre Arbeit in der Öffentlichkeit redaktionell vorstellen könnte, sie als Menschen bekannt machen, auf sie aufmerksam machen könne. Gratis natürlich – weil man davon ausgeht, dass dies ein Menschenrecht sei. Fast alle Anfragen kommen von Menschen, die für diese Anfragen bezahlt oder später, wenn sie rennommiert sind, sich nicht an uns erinnern werden. Wir in der Redaktion erhalten nichts. Keine Anzeigen, keinen Lohn, keine Subventionen, keine Hilfe.Millionenschwere Unternehmen fragen uns genau gleich, wie einzelne KünstlerInnen an. Es fragt sich niemand, wie es uns geht, wie wir überleben. Im Verhältnis verstehen nur wenige Menschen, wer wir sind und was wir tun. Wer es verstehet arbeitet MIT uns zusammen. Ich danke hier auch gleich allen AbonenntInnen! Auch haben wir mit dem Verlag grossartige PartnerInnen in all den Jahren getroffen und wunderbare Zusammenarbeiten hinbekommen: auf Augenhöhe. Gemeinsam. Miteinander. Ohne diese Menschen würde es uns gar nicht geben.

Das sind Menschen, die erst fragen, wie es einem so geht, was man so tut und die sich wirklich dafür interessieren. Es sind jene Menschen, die einem Fragen, ob man was brauche, und es sind jene Menschen, die ich um Hilfe anfrage, wenn ich selbst in Not bin. Dieses Miteinander ist Lebensqualität. Es ist die höchste gelebte Kultur, die wir als Mensch erreichen können. Und es ist das Leben, welches ich mir immer gewünscht habe.

Auch wenn das alles etwas pathetisch klingt, es lohnt sich darüber nachzudenken. Und bevor mich jetzt alle Anfragen, was ich denn bräuchte, so sage ich es so klar wie immer: AbonnentInnen, Anzeigen und falls Sie können, Spenden. Wir können nach 21 Jahren noch immer nicht alle Schulden abbezahlen und haben noch den COVID-Kredit und anderen Darlehensschulden, die ich gerne los wäre. Das wäre die erste konkrete Hilfe, die ich bräuchte, denn ich bin müde geworden, mich laufend rechtfertigen und betteln zu müssen. Wir arbeiten hier viel und gut und tun einen wichtigen Anteil an der Gesellschaft und werden dafür von ihr nicht getragen. Das geht anderen Menschen so – insofern geht es nicht nur um mich/uns hier! Deswegen: Wir sollten unsere Leben mit Menschen verbringen. Kultur leben! Miteinander. Füreinander. Fragen Sie sich, wie Sie ihrem Gegenüber das Leben schöner und leichter machen könnten! Irgendwann ist es zu spät.

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