In Deutschland ist der Anteil der Armen in der letzten Dekade deutlich gewachsen – das ergibt der aktuelle Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Gleichzeitig sind die privaten Vermögen im Vergleich zu anderen EU- und OECD-Ländern mit ähnlicher Einkommenssituation besonders ungleich verteilt. Die untere Hälfte der Bevölkerung hat nach Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung keine nennenswerten Vermögen. Dagegen besitzen die reichsten zehn Prozent rund zwei Drittel des gesamten Privatvermögens, das reichste Prozent der Bevölkerung bis zu 35 Prozent und allein die reichsten 0,1 Prozent der Bevölkerung verfügen über bis zu 20 Prozent. Zudem halten vor allem Reiche jene Vermögensarten, die in den vergangenen Jahren die höchsten Renditen abgeworfen haben, etwa Aktien, Immobilien und Betriebsvermögen. Haushalte mit weniger Habe konzentrieren sich hingegen auf risikoarme Anlagen, die aber besonders stark von einer hohen Inflation betroffen sind. Hinzu kommen erhebliche finanzielle Herausforderungen an den Staat. So müssen nicht nur die Milliardenkredite, die in den vergangenen Jahren zur Bewältigung der multiplen Krisen aufgenommen wurden, bedient werden. Zusätzlich besteht riesiger Investitionsbedarf, um eine erfolgreiche sozial-ökologische Transformation zu ermöglichen.
Angesichts dieser Entwicklungen gewinnt die Debatte über eine Wiedereinführung der Vermögensteuer wieder an Fahrt. Manche meinen, eine solche Steuer verstoße gegen die Verfassung, und halten die Debatte damit für beendet. In seinem Gutachten kommt Juraprofessor Thiele zum gegenteiligen Ergebnis. Nach Prüfung der verfassungsrechtlichen Lage unter Berücksichtigung der aktuellen Situation von Staat und Gesellschaft gelangt er zu dem Schluss: Eine Vermögensteuer ist nicht nur nicht verfassungswidrig. Im Gegenteil habe die Ungleichheit in Deutschland ein Ausmaß erreicht, das die Einführung einer Vermögensteuer auch verfassungsrechtlich eher nahelegt.
Richtig ist zwar, dass das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1995 die damalige Vermögensteuer für verfassungswidrig erklärt hat. Ebenso richtig ist allerdings, dass sich dieser Beschluss keineswegs gegen eine Besteuerung von Vermögen an sich, sondern lediglich gegen die damalige konkrete Ausgestaltung richtete. Das Grundgesetz steht einer Vermögensbesteuerung insofern nicht prinzipiell entgegen, betont Thiele, zumal sie dort sogar "ausdrücklich als eine prinzipiell zulässige Steuerart aufgelistet" wird.
Darüber hinaus würde die Vermögensteuer dazu beitragen, das Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung, das Prinzip der Leistungsfähigkeit, besser zu verwirklichen: Gleich Leistungsfähige müssen danach gleich, unterschiedlich Leistungsfähige unterschiedlich besteuert werden. Es liege auf der Hand, dass eine Person, die beispielsweise monatlich 5000 Euro verdient, zusätzlich aber ein Vermögen von einer Million Euro besitzt, leistungsfähiger ist als jemand, der "nur" 5000 Euro im Monat verdient. Die Einkommensteuer allein bildet diese unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten insofern nicht angemessen ab. Mit Blick auf das Fundamentalprinzip der Leistungsfähigkeit sei es daher auch kein Widerspruch, wenn der Staat sowohl eine progressive Einkommenssteuer als auch eine Vermögenssteuer erhebt. Eine Doppelbesteuerung könne darin nicht gesehen werden.
Auch das Sozialstaatsprinzip in Artikel 20 des Grundgesetzes liefert nach Thieles Analyse verfassungsrechtlich jedenfalls dann Argumente für eine Besteuerung von Vermögen, wenn die Ungleichheit ein nicht mehr zu rechtfertigendes Ausmaß erreicht hat. Eine zu hohe soziale Ungleichheit ist in einer demokratischen Ordnung ein Problem. Wenn die Vermögen derart ungleich verteilt sind, "droht die soziale Ungleichheit aufgrund der damit einhergehenden kränkenden Wirkung das einigende Band der Gemeinschaft zu zerreißen, da deren Mitglieder nicht mehr in der Lage sind, sich als politisch gleich und folglich als Angehörige der gleichen politischen Gemeinschaft (noch) zu erkennen", schreibt der Rechtswissenschaftler. In diesem Fall sei der Gesetzgeber verfassungsrechtlich gehalten, Maßnahmen zu ergreifen, um die Ungleichheit auf ein begründungsfähiges Niveau zu bringen.
Der Gesetzgeber hat bei der Erhebung einer Vermögensteuer allerdings einen großen Spielraum, so Thiele. Eigentum ist zwar durch das Grundgesetz besonders geschützt, allerdings nicht uneingeschränkt. Steuern stellen nach weit verbreiteter Ansicht keinen Eingriff in die Eigentumsfreiheit dar, schon gar keine Enteignung. Schließlich heißt es auch im Grundgesetz: "Eigentum verpflichtet". Jeder soll, gemessen an seiner Leistungsfähigkeit, einen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten. Allenfalls die Frage, wie hoch dieser ausfallen darf, ist unter Expertinnen und Experten umstritten. Steuern dürfen indes keine "erdrosselnde Wirkung" haben.
Verfassungsrechtlich unproblematisch ist nach diesen Maßstäben die Besteuerung von Sollerträgen aus Vermögenswerten, analysiert der Juraprofessor. Besteuerungsgrundlage wären danach die aus dem Vermögen erzielbaren Erträge, zum Beispiel potenzielle Mieteinnahmen und Zinseinkünfte, nicht hingegen die Vermögenssubstanz. Aber auch eine darüber hinaus gehende Substanzbesteuerung sei nicht per se ausgeschlossen – zu rechtfertigen sei sie "in Zeiten erheblicher und nur schwer begründungsfähiger Vermögensungleichheit" – wenn durch die Ungleichheit also eine Gefährdung des demokratischen Versprechens der demokratischen Gleichheit drohe.
Bei der Ausgestaltung der Vermögensteuer sind jedoch weitergehende verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten, zeigt Thiele: So müssen neben den privaten Vermögen im Grundsatz auch Betriebsvermögen einbezogen werden. Allerdings müssen Betriebsvermögen nicht zwingend in der gleichen Höhe wie private Vermögen besteuert werden. Es sei möglich, Betriebsvermögen zu privilegieren, da diesem eine besondere Bedeutung für die Prosperität einer Gesellschaft zukomme, so der Rechtswissenschaftler.
Essenziell ist außerdem, dass Vermögensgegenstände so erfasst werden, dass sie annähernd dem Marktwert entsprechen. Werden bei der Erfassung unterschiedliche Maßstäbe angelegt, stünde dies im Konflikt mit dem Gleichheitsgrundsatz – genau hier lag das Problem der bis in die 1990er-Jahre erhobenen Vermögensteuer, über die das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hatte.
Eine Schwierigkeit damals wie heute: Bei Bargeld oder Aktien ist die Bewertung vergleichsweise einfach, komplizierter wird es beispielsweise bei Kunstgegenständen und anderen Sachgütern, ebenso bei Immobilien. Hier ist der Staat auf die Ehrlichkeit der Steuerpflichtigen angewiesen, wobei allerdings zu betonen ist, dass die unzutreffende Angabe von relevanten Steuersachverhalten eine Straftat darstellt.
Zudem seien gewisse "Unschärfen" bei der Bewertung von Vermögensgegenständen verfassungsrechtlich zulässig: Abweichungen von bis zu 20 Prozent vom "tatsächlichen" Wert seien verfassungsrechtlich denkbar, so Thiele. Außerdem ist es im Steuerrecht nicht unüblich, dass mit Pauschalierungen gearbeitet wird. Auch ist die Tatsache, dass eine Steuer nicht leicht zu erheben ist, kein sachgerechter Grund, sie nicht zu erheben, betont der Gutachter.
Abgesehen davon lassen sich die verfassungsrechtlichen Probleme entschärfen, wenn man lediglich eine Sollertragsteuer einführt, da sich zum einen Einkünfte einfacher ermitteln und besser bewerten lassen als Gesamtvermögen. Zum anderen bleibt dabei die Vermögenssubstanz dann prinzipiell unangetastet, sodass der damit bewirkte Eingriff in die Eigentumsfreiheit verfassungsrechtlich keine Probleme bereite.
*Alexander Thiele: Der grundgesetzliche Rahmen für die Wiedereinführung einer Vermögensteuer, Kurzgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Februar 2023. Download: https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008555
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