Ebenfalls eine Einladung spricht auch Gisela Heller aus – eine Einladung zu Theodor Fontane. „Unterwegs mit Fontane in Berlin und der Mark Brandenburg“ lautet der Titel dieser aktuellen Wanderungen auf den Spuren des großen märkischen Wanderers.
In „Der Zug der Blinden“ von Peter Löw geht es um Konflikte in der Endzeit der DDR und um einen Fall von Kunstzerstörung.
Wieder einmal ist die Zeitreisende von Hardy Manthey unterwegs. Im 11. Teil „Zum Ursprung – 15 000 Jahre zurück“, der hier in der 2., überarbeiteten Auflage vorliegt. Und wie (fast) immer bei Manthey geht es auch diesmal und Verlockung und Lust pur.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Eines dieser Themen ist der Umgang der Menschen untereinander. Manche stellen sich über andere und begründen diese Art von Überheblichkeit mit angeblicher Minderwertigkeit der anderen. Das steckt auch hinter Rassismus, für den es unterschiedliche Definitionen gibt, solche in der engeren Bedeutung des Begriffs und solche in der weiteren Bedeutung des Begriffs. Laut der schweizerischen Internetseite habe in der neueren Diskussion auch ein Definitionsvorschlag von Albert Memmi viel Beachtung gefunden, der auch dem Autor der wöchentlichen Newsletter von EDITION digital als ein brauchbares Werkzeug erscheint: „Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen“, schrieb Albert Memmi in seinem 1987 in Frankfurt am Main erschienenen Buch „Rassismus“. Man kann auch vom Wahn des Auserwähltseins sprechen. Und genau darum geht es auch in dem heute vorgestellten Buch. Wie fühlt es sich an, wenn man aufgrund seiner Herkunft und Hautfarbe ausgegrenzt und diskriminiert wird, wenn man ständig Angst haben muss, weil man schwarz oder braun oder gelb ist, aber eben nicht weiß? Wie fühlt es sich an, wenn man als Jude Judenwitze anhören musste, wie es der Autor des heutigen Buches selbst erlebt hat? Stoff genug zum Nachdenken, zum engagierten Andershandeln und zum Widerstehen – gegen täglichen Rassismus, der oft scheinbar unbemerkt daherkommt.
Erstmals 1968 erschien im Hinstorff Verlag Rostock – und zwar in der Übersetzung aus dem Englischen von Helga Beranek-Zimnik – „Unter dem wechselnden Mond“ von Walter Kaufmann: In diesem Buch zeigt sich ein Meister der Short Story. In insgesamt 18 Geschichten entführt Walter Kaufmann seine Leser auch nach Übersee, erzählt von Seeleuten und Glückspielern, Gewerkschaftern, Schiffsoffizieren und von Frauen.
Seine Shortstorys erlauben Einblicke in dramatische und schöne, kämpferische und liebevolle Momente des Lebens, zeigen Menschen, die stark sind, Menschen, die scheitern, Menschen, die plötzlich mit Ereignissen in ihrer Vergangenheit konfrontiert werden.
Die ausgezeichnet erzählten Shortstorys von Walter Kaufmann sind exotisch und zugleich alltäglich, abenteuerlich und spannend, erzählen von Menschen in außergewöhnlichen Situationen.
„Es reizte ihn, dass die Deutsche Demokratische Republik in Ansteys Vorstellung von Europa überhaupt nicht zu existieren schien. Schließlich, dachte er, war der Entschluss, dorthin überzusiedeln, die wesentlichste Entscheidung meines Lebens – er könnte wirklich etwas Interesse zeigen, und sei es auch nur aus persönlichen Gründen. Er hätte Anstey gern erzählt, wie sich sein schneller Aufstieg vom Matrosen zum Kapitän vollzogen hatte, ohne zu verschweigen, auf welche Schwierigkeiten er gestoßen war und wie er in vielem hatte umdenken müssen – der Aufbau einer neuen Handelsflotte stellte die Menschen vor große Probleme. Aber was Noack auch über sein Leben seit seiner Abreise aus England zu berichten versuchte – es drang kaum in Ansteys Bewusstsein, sodass er es bald aufgab.“ Und hier der Anfang der 18 Short Storys, erzählt von einem Meister dieses literarischen Genres:
„Home, sweet home
Beide hätte ich in meinem Pokerklub brauchen können – den einen als Rausschmeißer, den anderen zum Schmierestehen. Aber darüber war mit ihnen nicht zu reden. Vor dem Unfall erwiderten sie mir stets, sie seien Seeleute und wollten es auch bleiben. Als ob es unter ihrer Würde wäre, sich auf bequemere Art ein paar Pfund zu verdienen. Seeleute – zum Lachen! Außer bei gelegentlichen Bergungsarbeiten war keiner von ihnen weiter aus dem Hafen herausgekommen als ein Hafenschlepper oder ein Baggerkahn. Schwimmende Landratten waren sie, weiter nichts, Decksmänner von Gnaden der Melbourner Hafenverwaltung, Seeleute nur, weil irgendein Gewerkschaftsfunktionär auf Draht war.
Na gut, das juckte mich nicht! Von mir aus konnten sie sich „Sindbad der Seefahrer“ nennen, bis sie blau anliefen, solange sie mir nicht die Polente auf den Hals hetzten. Ich hatte ihnen nämlich zu viel über mich erzählt. Das war entschieden ein Fehler gewesen! Sie wussten, dass ich Buck Richards heiße und mir als amerikanischer Matrose ein paar Jährchen den Wind zwischen Frisco und Japan, Indonesien und Australien hatte um die Ohren wehen lassen. Das ging noch an. Doch dass ich nach einem mächtigen Krach mit dem Ersten Offizier auf Nimmerwiedersehen von meinem letzten Dampfer verduftet war, hätte ich besser für mich behalten sollen. Und schon gar nicht hätte ich ihnen unter die Nase reiben dürfen, dass ich es eigentlich überhaupt nicht nötig habe, den Handlanger auf einem Schleppkahn zu spielen, und dass ich nur bei der Hafenverwaltung arbeite, um meine Spur zu verwischen. Die beiden waren mit dem Verein verheiratet und wollten unbedingt dabeibleiben, bis sie Rente bekamen, und natürlich passte es ihnen nicht, dass so einer wie ich sich da reindrängte und einen Teil der Prämien für die Bergungsarbeiten einheimste.
„Blödsinn“, versicherte ich ihnen immer wieder. „Die meisten Wracks werden nachts hereingeholt, da habe ich was Besseres zu tun, als auf See herumzugondeln.“
Trotzdem betrachteten sie mich mit Misstrauen – ich fuhr einen schnellen Wagen, trug elegante Anzüge und besaß eine moderne Wohnung in St. Kilda, wie sie wussten. Und dann mein Pokerklub in der Flinders Lane! Für sie war ich ein Schandfleck für die Hafenverwaltung, ein Mann, der mit einem Bein im Zuchthaus stand. Wie zwei alte Weiber lagen sie mir in den Ohren: „Überlass deinen Arbeitsplatz jemandem, der ihn braucht!“
„Kann mir nicht leisten, so eine verdammt gute Jalousie hochzuziehen“, erklärte ich ihnen.
Aber sie hörten nicht auf zu drängen: „Mach endlich Schluss hier, Mensch!“
Wie Zwillinge stimmten sie in allem überein – aus Opposition gegen einen dritten. Dabei konnte man sich ein ungleicheres Paar kaum vorstellen: Hugh Stanley war ein wahrer Hüne, muskulös wie ein Ringer, während Alec Sikes zum Umblasen dürr war. Obwohl sie schon fast sieben Jahre zusammen arbeiteten, gerieten sie sich ständig darüber in die Haare, wie man ein Schlepptau festmacht oder eine Wurfleine an Land befördert – kurz, über jeden nautischen Trick. Wahrlich, prächtige Seeleute!
Übrigens, das mit dem In-die-Haare-Geraten ist rein literarisch zu verstehen. Weder Hughs kurz geschorene Bürste noch Alecs drei Strähnen, die sich wie dünne Pinselstriche über seinen Schädel zogen, eigneten sich dazu. Außerdem fing Hugh selten mit der Ankratzerei an. Gewöhnlich war es Alec, der bei jeder Gelegenheit wie ein Terrier kläffte: „Hugh! Die Spring holt über Eck, die Lippe bricht aus! – Die Leine steht auf Kraft, stopp sie ab! – Führ das Auge um den Poller!“ Oder: „Verdammt noch mal, Hugh, halt den Eimer auf Kurs, du landest uns alle noch in den Dreckl“
Wirklich, der mickrige Alec hetzte seinen Partner schlimmer herum als ein Liverpooler Bootsmann eine indische Besatzung. Dabei war er mit seinen einunddreißig zwei Jahre jünger als Hugh, Wenn jenseits der Hobsons Bay der Schlamm ins Meer gelassen werden musste, schwang Hugh den schweren Hammer, um die Flügelschrauben von den Falltüren zu schlagen. Er drehte auch die Winschkurbel, wenn die Falltüren wieder hochzuleiern waren. In der Zeit zwischen den Ruderwachen trabte er an Deck herum und schrubbte die Planken mit Meerwasser, das er in einer Schlagpütze aufholte. Sogar in der Mittagspause, wenn sie wieder am Ann Street Pier lagen, forderte Alec: „Brat ein anständiges Steak, Hughie, und gib ordentlich Zwiebeln dran, hörst du?“
Hugh hätte Alec mit einem Hieb seiner Pranke sämtliche Knochen brechen können, aber nein, er gehorchte stets. Höchstens, dass er manchmal vor sich hin brummte wie ein gekränkter Bär. aber nie ging er so weit, Alec auch nur anzutippen. Es war ein Bild für die Götter, wie dieses mickrige Kerlchen diesen Schrank von einem Mann herumkommandierte. Dabei war Hugh durchaus kein Trottel. Ich fand ihn nicht halb so tollpatschig, wie Alec ihn hinstellte – er war fleißig und keineswegs ungeschickt. Das Verhältnis zwischen den beiden blieb mir unverständlich, bis ich erfuhr, wie es zustande gekommen war: Hugh Stanley war ein ehemaliger Zuchthäusler, und Alec hatte ihm Arbeit und ein Dach überm Kopf verschafft.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
Erstmals 1983 veröffentlichte Gisela Heller in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung Beuermann Berlin „Unterwegs mit Fontane in Berlin und der Mark Brandenburg“: 100 Jahre nach Fontane scheint es aktueller denn je, auf seinen Spuren durch Berlin und die Mark Brandenburg zu wandern, die von ihm beschriebenen Wege nachzuvollziehen. Was für viele Jahrzehnte als „verlorene Provinz“ galt, wird dabei als historische Landschaft (wieder) entdeckt. Dieses Buch nun führt den Leser zu den (alphabetisch geordneten) Stätten, die für Fontanes Leben und Werk von Bedeutung waren. Berlin nimmt dabei – nicht nur als geographischer Mittelpunkt – den größten Raum ein. Immer an bestimmte Örtlichkeiten geknüpft, ist hier Fontanes Lebensbogen ablesbar, seine Irrungen, Wirrungen, sein Ärger mit Chefredakteuren, Ministern, Hausbesitzern und der leidigen „Commodite“; seine Mühen bis hin zum „Eigentlichen“, dem Romanwerk, das er erst mit 60 Jahren begann.
Er hat noch „das vernobelte Berlin“ kennengelemt und die Anfänge des Bombasmus; die Verwüstung erlebte Fontane nicht mehr. Von seinen 18 (!) Wohnstätten blieb keine erhalten, dennoch fand die Autorin eine Vielzahl von Plätzen, an denen man sich sagen kann: Ja, hier könnte es gewesen sein …, hier könnte die Witwe Pittelkow, hier Effi Briest gewohnt haben … oder auf diesen jüdischen Friedhof konnte er von seinem Fenster aus sehen … Ein Spaziergang durch Berlin und Umgebung mit diesem Buch wird unversehens zur Entdeckungsreise. Worum es der Autorin geht, das erläutert sie im April 1992 in einem gleichsam hoffnungsvollen …
„Vorwort
„Wer in der Mark reisen will, der muss zunächst Liebe zu ‚Land und Leuten‘ mitbringen, mindestens keine Voreingenommenheit. Er muss den guten Willen haben, das Gute gut zu finden, anstatt es durch krittliche Vergleiche totzumachen.“ 1864 gab Fontane den Wanderern in der Mark diesen Rat. Wie gegenwärtig klingt er heute, da unzählige „Wanderer“ ausziehen, ein Land zu entdecken, das jahrzehntelang als „verlorene Provinz“ galt.
Wer dieses Land „mit der Seele suchen“, wer das Wesen von Mark und Märkern verstehen will, ist noch heute mit Fontane gut beraten, denn er hat beide „liebevoll geschildert, aber nirgends glorifiziert“. Wie ein Wünschelrutengänger berührte er den Boden und ließ historische Gestalten erstehen, und in dieses Zauberspiel der Fantasie wird der Fontaneleser auch heute hineingezogen: In Wustrau wird ihm Zieten aus dem Buch lebendig, in Rheinsberg Prinz Heinrich, in Meseberg der ‚tolle Kaphengst’; in Molchow wird er schmunzelnd bestätigen, dass der hölzerne Glockenturm wirklich so aussieht, „als habe ihn ein Schilderhaus mit einer alten Windmühle gezeugt“; eine Blumenwiese in Hankels Ablage wird ihn an Lene und Botho erinnern; und obwohl es nie ein Schloss Stechlin gegeben hat, wird man am Großen Stechlinsee, vielleicht in einer knorrigen Eiche, den alten Dubslav raunen hören: „Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig.“
Etwas von der ungeheuren Zauberkraft, die von Fontanes „Wanderungen“ und Romanen ausgeht, ist in diesem Buch eingefangen; der Leser scheint Fontane über die Schulter zu sehen, er erfährt, warum es ihn an diesen oder jenen Ort zog, was ihm dort widerfuhr und wie es sich in Leben und/oder Werk niederschlug.
„Unterwegs mit Fontane“ heißt aber nicht nur reisen zu den Stätten, die für ihn von Bedeutung waren, sondern auch reisen zum Menschen Fontane. Die Neuruppin- und Berlinkapitel ergeben so etwas wie eine Fontane-Biografie: Kinderjahre, Schulzeit, Sturm und Drang in Berlin, Reifezeit, Familienleben, Ärger mit Chefredakteuren, Ministern, Hausbesitzern und der leidigen „Commodite“, kurz, sein ganzer Lebensbogen bis zu dem großen Romanwerk, das er mit 60 begann.
Berlin nimmt verständlicherweise den größten Raum ein und ist allen anderen Kapiteln vorangestellt. Fontane erlebte, wie die Stadt sich aus provinzieller Enge befreite und „vernobelte“; er beobachtete die Anfänge kaiserlichen Bombasmus, … die Folgen mit all den schrecklichen Verwüstungen sah er nicht mehr.
Keine seiner 18 (!) Wohnstätten blieb dort erhalten, und doch wird der Leser eine Vielzahl von Plätzen finden, an denen er überrascht innehält und sich sagt: Ja, hier muss es gewesen sein, auf diesen jüdischen Friedhof konnte er von seinem Fenster aus sehen, oder hier, in der Invalidenstraße, könnte die Witwe Pittelkow oder hier, in der Keithstraße, könnte Effi Briest gewohnt haben; und die Poggenpuhls, schwärmten sie nicht von dem Ausblick auf den stillen Matthäikirchhof? Wirkliche und Romangestalten laufen einem durcheinander, und gerade das war von Fontane gewollt.
Erich Kästner schrieb 1959 in einer Hommage à Fontane: „Er schuf Berlin zum zweiten Male. Er schenkte uns die Stadt an der Spree, wie uns Balzac die Stadt an der Seine und Dickens die Stadt an der Themse schenkten. Diese Städte und ihre Gesellschaft mögen sich wandeln, sie mögen wachsen, verfallen oder gar zerstört werden – ihr Herz und eigentliches Wesen lebt im Oeuvre der großen Romanciers fort.“
Und was die Mark Brandenburg betrifft, so hoffe ich, dass der Leser am Ende seiner Reise mit Fontane sagen kann: „Ich bin die Mark durchzogen und habe sie reicher gefunden, als ich zu hoffen gewagt hatte.“ Zwar muss sich der Reisende – wie zu Fontanes Zeiten – auf manche Unebenheiten gefasst machen, aber: „Es wird einem selten das Schlimmste zugemutet“.
Mögen nun die vorliegenden Kapitel „in andern jene Empfindungen wecken, von denen ich am eigenen Herzen erfahren habe, dass sie ein Glück, ein Trost und die Quelle echtester Freuden sind“ (Theodor Fontane, November 1861).“
Erstmals 2005 erschien im Lions Verlag Mittweida „Der Zug der Blinden“ von Peter Löw: Schäfer, der alkoholkranke Baubrigadier, macht sich auf eine Grenzerfahrung hin auf Sinnsuche. In den Konflikten der DDR-Endzeit dennoch suchtrückfällig geworden, fällt sein zerstörerischer Angriff auf die Werkausstellung Maler Janssens, in der er sich als sozialistischer Arbeiter-Sieger dargestellt findet, mit den „Wir-sind-das-Volk“-Rufen der sich erhebenden Massen zusammen. Von den Vorgängen betroffen alle Romanfiguren, die in widersprüchlichem Beziehungsgeflecht noch ansässig sind im großstädtischen Rekonstruktions-Wohngebiet Brühl. Ein Neues steht nur bevor: der Aufbruch in eine andere Welt. – Eine Fata Morgana des Überflusses lockt den Zug der Blinden in Janssens gleichnamigen Tafelbild an. Werden die Leute vom Brühl im Neuen auch mit Herzen und Seelen ankommen? Hier der Anfang dieses spannenden Romans, der schon andeutet, dass vieles im Wandel zu sein scheint – eine Art „komplexer Rekonstruktion“, allerdings ganz anders als damals noch gedacht:
„1. Kapitel
Wütend warf Janssen den Pinsel hin, er konnte nicht mehr. Um sich aufzuwärmen, trat er zum Kanonenofen. Kein Bauhandlanger, dachte er, hätte mit ihm getauscht. Und noch pfeifen würde auch er auf die Kunst, blieb es beim Jetzigen.
Hoffnung setzte er auf den „Zauberer“. Das Opus in Öl, mit dem er immer noch rang. Mit dem vielleicht er hätte längst fertig sein können, sagte er sich, bei anderer Werkstatt.
Es klopfte an die Tür.
Draußen stand eine in Pelzjacke und Tschapka. Er wusste das Gesicht nicht einzuordnen; es war hübsch.
Lächelnd kam sie ihm zu Hilfe: „Didoni“, nannte sie ihren Namen, „Didoni, Bezirkskunststelle.“
Er war im Bilde. Der Mitgliederversammlung des Künstlerverbandes hatte sie sich als die Neue vom Bezirk vorgestellt. – Er bat herein. Und fragte sich, was sie wohl wollte. Verbandsterrain sondieren – oder hatte Bernert, ihr Meister, sie auf den „Zauberer“ angesetzt: „Schau’s dir an, Janssens neues, ideologisch verqueres Machwerk!“?
Ihr Blick wanderte über die Wasserflecken an der Decke, über salpeterblühenden Putz. – Ja, so sieht’s aus, kleine Beauftragte, dachte er, präg’s dir gut ein. Sein Antrag auf anderen Raum war Legende, lief seit einem Jahrzehnt. Lief, so sehr auch er hier verwurzelt war. Verwurzelt in der Leihbücherei zum Goldborn. Wo sein Senior Bücher verliehen, er selbst sie geschwartet hatte. Sein Werden, es war mit dem Gemäuer verbunden; gleichwohl musste er raus. Raus aus Nässe und Kälte. Investitionen lohnten nicht: In ein, zwei Jahren kam komplexe Rekonstruktion. Würde er ohnedies, dann immer noch hier, hinausgesetzt werden. Lieber heute als morgen wäre er umgezogen. Ein Königreich für einen freien, beheizbaren Gewerberaum. Vergebens all sein Inserieren und Suchen. Wo nicht einstige Backstuben zu Wohnraum umgebaut werden sollten, drohte Einsturzgefahr. Janssen sieh, wo du bleibst – vielleicht bis Räumkommandos anklopfen.
Er rieb sich die klammen Hände. Über seine Wattejacke hin ging der Blick der Didoni. Ja, so schaut’s aus, kleine Beauftragte, dachte er. Er riss den Ofen auf, warf Briketts hinein – nützen, wusste er, würde es nichts. Ohnehin war ihm nicht nach langem Palaver,
Sie standen vor dem Bild. Der Menschenzug war lang und gedrängt. Bewegte sich auf einen Hintergrund zu und in ihn hinein, der sich wirr zusammensetzte aus Merkmalen der Industrie- und Wohlstandsgesellschaft: aus Kraftwerksschloten und Destillierkolonen, aus Wolkenkratzern und Straßenkreuzern, aus Baukränen und Villenprunk und Bananen-Füllhörnern, aus Computern und pompös anmutenden Mammut-Maschinen. Eine visuelle Verheißung der Fülle. Eine des Blendwerks dabei, darin des Zuges Vordere, hineindrängend, zu vergehen schienen zu Schemen. Ein Blickfang die Steine, die Verwandlung durchmachten, zu Brotlaiben wurden. Vorn seitlich ihrer der Junge. Der Blondkopf, der sich gegen den An- und Hineindrang stemmte, ihn ins Stocken brachte. Sein Blick Durchschauen, Erkennen. Begreifen des Trugs, der ins Verderben, ins Nichts hineinzog.
Im Halblicht der Zauberer, dem des Jungen wegen das luziferische Lächeln gefror.
Ja, dachte Janssen, das war es. Erwachen von Mario. Das Ganze, ohne Mario wäre es zu statisch geblieben, auch kompositorisch.
„Nun, findet es Gnade?“, wollte er wissen.
Die Didoni erwiderte nach Sekunden: Nur interessant, könne sie sagen.
Wenn das alles ist, dachte er. Bisschen wohlfeil für dich, Frau Bezirkskunststelle. Interessant, das Kinoplakat.
„Ich mein auch den Bezug“, sagte sie. „Zur Literatur. Dostojewski, nicht wahr?“
Hintersinnig stellte er fest: Es gäbe noch Kenner.
Von der Seite sah sie ihn an. „Kommen gleich nach den Sehern.“ Ihre Stimme warnte.
Du zeigst ja Krallen, dachte er. Du wirkst eher warmblütig. – Er behielt für sich, dass er hoffte, das Bild werde seine Wirkung auch dann nicht verfehlen, wurden die Zitate nicht entschlüsselt. Er fand es sein bestes: Malerei, die allein schon mit Gestalten, Farben und Formen beeindrucken musste. Den meisten verborgen bleiben würde sein Geisteskern, die Essenz. Verborgen bleiben wie des Werkes Entstehungsgrund. Der hinabreichte zu Rudolf, seinem verstorbenen Vater. „Der Mensch erlegen der eigenen, der technischen Schöpfung“, hörte er ihn. „Ihr erlegen aus Gier nach dinglichem Reichtum – im Sog hin zur Wüste, zum Orkus.“ – Dass solche Bildbotschaft ankommen werde, Janssen bezweifelte es. Zu wenige Marios dazu, dachte er, in der Menge. Eine Art Spiegel würde das Opus gleichwohl allemal sein. Mehr, meinte Jansen, war nicht seines Berufs.
„Übrigens, Ihr Chef ist anderer Meinung.“ Janssen lächelte. Bernert, er hatte das Bild als selbstherrlich charakterisiert. „Nicht nach meinem Geschmack“, hörte er ihn. „Die Gesellschaft sonst ausnahmslos korrumpiert – nur die Kunst scharfsichtig über den Dingen.“
Nicht immer ist sie’s, hatte Janssen bei sich entgegnet. Du, Bernert, jedenfalls siehst zu kurz. Siehst Konsumdenken gegeißelt, nicht mehr. – Argumentiert hatte er damit, dass Kunst nun mal verallgemeinere.
„Einseitig?!“, fragte daraufhin Bernert.
Janssen sah: Auch dieser sein „Zauberer“ würde den Erfolg ihm nicht bringen.
Und hatte Tage später den Einfall. Den Einfall, der Mario hieß. Mario, hatte er gesehen, die Zugabe für die einäugig Blinden.
„Ach, anderer Meinung.“ Die Stimme der Didoni rief ihn zurück. Eine Stimme, die den Willen zu eigenem Standpunkt betonte. Er verbiss sich eine Bemerkung. Werden sehen, wie lange du dich bei ihm, deinem Impresario, so eigensinnig behauptest, dachte er. – Dabei wusste er, dass nicht fair war, wie er ihn ins Spiel gebracht hatte. Bernerts Urteil, es hatte der Altversion des „Zauberers“ gegolten; die mit Mario kannte er, der bezirkliche Kunstpapst, noch nicht.
„Ich bin wegen anderem hier“, wechselte sie das Thema. „Etwas Erfreulichem.“ Sie lächelte wieder.
Abwartend sah er sie an. Wo nimmt sie jetzt, im Winter, fragte er sich, solchen Teint her?
„Vielleicht setzen Sie sich erst mal“, sagte sie bedeutsam. „Eine von den Atelierwohnungen wird Ihre. Am Brühl.“
Er reagierte, als habe er nicht verstanden. Auf der Straße schrien spielende Jungen.
„In den nächsten Wochen schon.“ Ihre Stimme klang wichtig. „Brühl Nummer siebzehn.“
Ihm fiel schwer, das Gehörte zu fassen. Fernheizung, dachte er, und aller Komfort. „Und wessen – Protektion hab ich so viel Glück zu verdanken?!“
„Keiner. Nur der Dringlichkeit. Die spür ich hier selbst“, scherzte sie etwas forciert und mimte ein Frösteln.
Bernert, dachte er. Mäzen Bernert; nur so war, was ihm geschehen sollte, erklärlich. Der dringliche Fall, er überwog im Verband bei weitem die Zahl, in der Atelierwohnungen entstanden. Mäzen Bernert: Es konnte anders nicht sein.
„Und auf wen im Verband fällt noch solcher Treffer?“, wollte er wissen.
Sie nannte fünf Namen. Es waren etablierte Namen. Er allein, sah Janssen, aus unterem Rang. Wo nicht Bernert, hatte er seinem Vorsitzenden Janke zu danken oder beiden zusammen.“
Erstmals 2013 veröffentlichte EDITION digital als Eigenproduktion das E-Book „Die Zeitreisende, 11. Teil. Zum Ursprung – 15 000 Jahre zurück. Ein fantastischer Roman. 2., überarbeitete Auflage“: Ein Leben voller Abenteuer liegt hinter unserer Zeitreisenden. Was musste Maria Lindström , die sich selbst stolz Aphrodite nennt, nicht alles überstehen! Auf dem Flug zum Pluto wurde sie ohne ihre Zustimmung als Versuchsperson benutzt und unfreiwillig schwanger. Das war aber nur der Anfang einer langen Leidensgeschichte. Der Sturz durch Raum und Zeit in die Vergangenheit sollte die Leidensfähigkeit der Zeitreisenden auf eine harte Probe stellen. Ihr Schicksal in der Sklaverei und ihre erzwungenen Hurendienste sind für sie unvergessene traumatische Erlebnisse. Es war ein ewiger Überlebenskampf, der sie tief in ihrem Herzen geprägt und für immer geformt hat. Dass sie später zu Macht und großem Reichtum gelangte, hat daran nichts geändert. Am Ende blieb ihr nur die Flucht. Ihr Leben danach auf dem Planeten der Frauen war ebenso spektakulär. Vielleicht hat sie es aber doch geschafft, dort das Rad der Geschichte ein Stück weiter zu drehen. Die Abenteuer in der Zukunft hätten sie beinahe das Leben gekostet. Doch ihr Wirken hat auch dort für ein Umdenken gesorgt und die Macht der Unsterblichen für immer gebrochen. Zurück in ihre Welt, die Welt des 23.Jahrhunderts, war ebenfalls kein Spaziergang. Die Freude, Bruder und Schwester zu sehen, wurde schnell von dunklen Machenschaften verschiedener Kreise getrübt. Für den Entschluss, zurück in die antike Zeit zu reisen, wurde sie nicht belohnt. Das Land der Pharaonen wollte sie ebenfalls nicht haben. Nun soll sie den Kampf gegen außerirdische Zivilisationen in einer fernen Vergangenheit, in der Steinzeit, aufnehmen. Wird ihr das gelingen? Hier der etwas überraschende und zumindest in Aphrodites Fall völlig hüllenlose Beginn, wie es der Autor offenbar nicht ungern hat:
„Die Einweisung
Aphrodite schlägt die Augen auf und sieht, wie sich der Sarkophag gerade öffnet. Wie gewohnt steigt sie aus und streift sich dabei mit den Händen den letzten Rest der grünen Flüssigkeit vom Körper. Dabei stellt sie überrascht fest, dass sie nicht die geringsten Spuren der Schwangerschaften und der Geburt der beiden Kinder an sich erkennen kann. Sie hatte sich damit abgefunden, dass eine hässliche Narbe vom Kaiserschnitt zurückbleibt. Doch ihr Körper erscheint perfekter denn je. Sind auf Wunsch der Männer ihre Brüste noch größer geworden? Nicht dass die Brüste ihr jetzt zur Last werden! Die Männer sind mit ihren Fantasien scheinbar maßlos geworden. Sie denken nicht daran, dass zu viel des Guten für eine Frau zu einer echten Belastung werden kann. Am Po hat sie auch zugelegt. Oder war sie schon immer so gebaut? Was solls, sie muss sich nehmen, wie sie eben ist. Sie schaut sich um. Überrascht stellt sie fest, dass die Sarkophage auf der anderen Seite auch schon offen sind. Hat sie etwas verpasst? Wo sind die Kinder?
Sie hört eine unbekannte tiefe Stimme hinter sich sagen: „Hallo, Mutter. Wie geht es dir? Bist du wohlauf?“
Aphrodite dreht sich um und sieht einen jungen Mann vor sich stehen. Der hübsche schlanke junge Mann trägt eine Kombination aus einem silbrig schimmernden Stoff. Er hat einen prächtigen schwarzen Lockenkopf und strahlend blaue Augen. Aphrodite weiß, es sind ihre Augen, die sie ihrem Sohn mitgegeben hat. Der junge Mann vor ihr hat sehr viel Ähnlichkeit mit ihren anderen Söhnen. Nur hat dieser pechschwarzes Haar und scheint auch größer als ihre Söhne Alexander und Adam zu sein. Woher er wohl die schwarzen Haare haben könnte? Aber der junge Mann gefällt ihr auf den ersten Blick und darum sagt sie: „Hallo, Söhnchen! Hallo, Marotti! Du siehst gut aus. Wie geht es dir? Komm zu deiner Mama und lass dich umarmen!“
Jetzt geht sie auf ihren Sohn zu. Auch er kommt ihr entgegen und schaut sie dabei nur so komisch an. Aphrodite drückt ihn fest an ihre Brust. Sie spürt es jetzt ganz deutlich, das ist ihr Sohn. Plötzlich wird Aphrodite bewusst, dass sie immer noch völlig nackt ist. Aha, darum hat ihr Söhnchen so komisch geguckt. Er ist mein Kind, er darf mich so sehen, entschuldigte sie sich und genießt die Nähe des jungen Mannes.
Der junge Marotti bekommt einen roten Kopf, ihm gefällt aber auch spürbar ihre innige Umarmung und er sagt: „Mutter, du bist einfach nur umwerfend. Du fühlst dich richtig gut an. Alles an dir ist so herrlich weich und warm. Jetzt begreife ich, warum Männer in deiner Nähe den Verstand verlieren.“ Er löst sich zaghaft von ihr. „Aber du solltest erst einmal unter die Dusche gehen und dir dann etwas anziehen. Auch wenn du meine Mutter bist, bleibst du immer noch eine wahnsinnig schöne Frau. So eine schöne Frau, wie du es nun mal bist, darf nicht völlig nackt vor einem Mann herumlaufen. Du bist Verlockung und Lust pur. Auch oder gerade deshalb solltest du deinen Sohn nicht so sehr verwirren!“
„Ach, neuerdings stört es dich, wenn ich nackt vor dir herumlaufe? Ja, ich sehe es jetzt auch, du bist ein richtiger Mann geworden!“, sagt Aphrodite spöttisch, löst sich ganz von ihrem Sohn und geht unter die Dusche, die wie aus dem Nichts aus der Wand kommt. Sie genießt die Dusche und seift sich extra ein.
Ihr Sohn: „Soll ich dir den Rücken einseifen?“
„Das wäre lieb von dir, mein Sohn, ich meine Marotti!“, sagt sie und hält ihm schon ihren Rücken hin.
Mit viel Gefühl wird jetzt ihr Rücken eingeseift. An ihren Po traut er sich aber nicht heran. Aphrodite genießt seine sanften Hände. Nach der Dusche stellt sie wie immer die Luftdusche an. Der angenehm warme Luftstrom duftet nach Kräutern, die in den Bergen Siziliens gedeihen. Mit geschlossenen Augen glaubt sie, in ihrem Palast in Syrakus zu stehen. Für einen kleinen Moment fühlt sie sich gar ins antike Syrakus zurückversetzt. Doch die Illusion ist nur von kurzer Dauer. Etwas traurig steigt sie aus der Dusche. Ihr Sohn empfängt sie mit einem Tuch und reibt sie jetzt auch sorgfältig ab. Der junge Mann braucht dafür auffallend lange. Er nutzt das Tuch, um seine Mutter gründlich zu erkunden. Man merkt ihm an, dass er mit viel Genuss ihre Rundungen ergründet. Aphrodite nimmt es locker und genießt seine Aufmerksamkeit.
Plötzlich fühlt er sich ertappt und reicht Aphrodite, verlegen geworden, das Tuch: „Mutter, du bist wirklich eine schöne Frau!“
„Für deine Gefühle brauchst du dich nicht zu schämen. Dass eine Frau bei einem Mann allein durch ihre Erscheinung, ihre Anwesenheit Gefühle auslöst, ihn erregen kann, ist etwas ganz Natürliches. Für dich, der solange körperlos gelebt hat, ist es etwas Neues. Du musst lernen, damit umzugehen. Jeder Mann muss lernen, seine Gefühle zu kontrollieren und sich nicht wie ein Tier, nur vom Trieb gesteuert, auf die Frau, das Lustobjekt in seinen Augen, zu stürzen. So wie ich jetzt aussehe und beschaffen bin, das habe ich euren Künsten zu verdanken. Ich bin euer Fantasieprodukt. Ihr wolltet es doch so, dass ich als Frau mit allen weiblichen Attributen üppig ausgestattet werde. Die Macht, die ihr über mich habt, hat das möglich werden lassen. Oder irre ich mich?“, behauptet Aphrodite. Sie weiß nicht, ob es wirklich so gut ist, Produkt ausufernder Männerfantasien zu sein. Sie ist es, die mit diesem Körper leben muss.
„Du hast recht, Aphrodite. Es ist wahr, du bist unsere Schöpfung und zugleich der Inbegriff der vollendeten Schönheit. Wir halten den Körper der Frau für die Krönung der Schöpfung. Die Schönheit und die gleichzeitige perfekte Funktionalität des weiblichen Körpers halte ich für unübertroffen in der Natur!“
„Danke. Genug der Lobhudelei, sonst bilde ich mir darauf noch was ein. Kehren wir zurück in die Welt der objektiven Realität. Oder in die Welt, die wir für die Realität halten. So sicher bin ich mir nun nicht mehr. Sag mir bitte, wo ist deine Schwester?“, fragt Aphrodite und streift sich das von ihm gereichte Tuch endlich über. Es ist auch für sie ein unangenehmes Gefühl, so ganz nackt vor ihm zu stehen.
Marotti hat sich wieder gefangen und erklärt sachlich: „Weil du als Mutter ein Recht auf deine Kinder hast, haben wir keine Mühen gescheut und Maria kommen lassen!“
„Von woher ist sie denn jetzt gekommen? Nein, anders gefragt, wohin ist sie denn gegangen?“, fragt Aphrodite.
Der junge Marotti schaut auf ein Display an der Wand und sagt: „Perfekt, sie ist eben angekommen. Sie ist für ein paar Augenblicke aus dem fernen Joppe des Biblischen Judäa zu dir gekommen.“
Tatsächlich kommt in diesem Augenblick eine schöne junge Frau auf Aphrodite zu. Auch sie hat wie ihr Bruder langes schwarzes Haar und trägt ein einfaches Gewand, wie es in der Antike üblich ist.“
Erstmals 1976 veröffentlichte Klaus Möckel im Verlag Neues Leben Berlin – damals noch unter dem ein Wort kürzeren Titel „Die Einladung“ – seine Zukunftsgeschichte „Die geheimnisvolle Einladung“, wie sie bei der Wiederveröffentlichung im Jahre 2012 genannt wurde: Der Schriftsteller Rubin, angesehen und von sich überzeugt, erhält unter mysteriösen Umständen eine Einladung. Er soll in einem ihm unbekannten Klub aus Werken lesen, zu denen er nicht mehr steht oder die er noch gar nicht geschrieben, die er bestenfalls angedacht hat. Er sieht sich gefoppt und herausgefordert. Mit gemischten Gefühlen besteigt er den Wagen, der ihn zu einem fremden Ziel entführt.
Die Reise ins Jahr 2079 bringt dem Dichter ungewöhnliche Begegnungen und bizarre Überraschungen. Er wird mit einer Zeit konfrontiert, die er sich so nicht vorgestellt hat, vor allem aber mit sich selbst und einem Urteil der Nachwelt zu seinen Werken, das ihm überhaupt nicht gefällt.
Diese Konstellation „bietet dem Autor so viel Gelegenheit zu Verwicklungen und Verwirrungen“, schrieb nach dem Erscheinen des Buches ein Rezensent aus Bern, „dass man aus dem Schmunzeln nicht mehr herauskommt und voller Spannung auf den Fortgang der halb realen, halb surrealen Geschehnisse wartet … Dem Ostberliner Übersetzer, Lyriker und Erzähler ist mit diesem vom Umfang her kleinen Roman ein Volltreffer gelungen …“ Diesem Urteil ist nur noch hinzuzufügen, dass die amüsante Geschichte in der Zwischenzeit nicht das Geringste von ihrer Frische eingebüßt hat. Und davon können sich Leserinnen und Leser gleich selbst überzeugen, wenn sie zuvor die folgende ziemlich hintersinnige Anmerkung des Autors, also Klaus Möckel, zur Kenntnis genommen. Aber Achtung, bitte genau lesen:
„Der Autor versichert, alle Namen frei erfunden und Ähnlichkeit mit lebenden Personen nicht beabsichtigt zu haben. Sollte sich dennoch jemand getroffen fühlen, so ist er gemeint.
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Sie lag vor mir auf dem Schreibtisch – ein einfach gefaltetes Stück festen weißen Kartons, von dem ein schwacher silbriger Glanz ausging. Ein Schimmer, wie ihn bestimmte mit Perlmutt eingelegte Gegenstände besitzen. Sie lag da, eine bescheidene Klappkarte, und fiel unter den anderen Papieren auf. Sieh an, so etwas Schlichtes und zugleich Elegantes bringen wir also fertig, wenn wir nur wollen, dachte ich. Ich nahm die Karte zur Hand, las das schwarz gedruckte Wort EINLADUNG vorn auf der ersten Seite und betrachtete flüchtig die Skizze, die sich unterhalb dieses Wortes befand. Es war eine Federzeichnung, ein Plan vielleicht, von dem ich nicht wusste, was er darstellte, der mir aber irgendwie bekannt vorkam. Linien, Punkte, Kreise, schraffierte Flächen mit einer eigenartig leuchtenden Tusche ausgeführt – wäre ich mit meinen Gedanken mehr bei der Sache gewesen, mir hätte schon damals etwas auffallen müssen.
Aber ich war nicht bei der Sache; ich hatte die Karte eher unbewusst in die Hand genommen; innerlich beschäftigte ich mich schon mit den Tagesarbeiten, und so bemerkte ich nichts. Ich kam auch nicht dazu, die Klappkarte aufzuschlagen und den Text zu lesen – irgendwas musste ja drinstehen -, denn ich wurde durch Maren, meine Frau, abgelenkt, die nach mir rief, weil sie zur Kosmetikerin wollte und wieder einmal ihre Wagenschlüssel nicht fand. Wenn Maren etwas suchte, war es vorbei mit der Konzentration. Ihre nichtigen, aber stets vorrangigen Probleme! Früher hatte ich das nicht gesehen, früher war ich in vielerlei Hinsicht blind gewesen, doch jetzt…
Leicht verärgert legte ich die EINLADUNG auf den Tisch zurück, verschob die Angelegenheit auf später. Dachte auch nicht mehr an sie, als das mit den Wagenschlüsseln geklärt war. Es war ein frischer, sonniger Herbstmorgen, und ich hatte es mir seit langem zur Gewohnheit gemacht, an solchen Tagen keine Zeit auf Nebensächlichkeiten zu verwenden. Auf Nebensächlichkeiten, zu denen ich vier Fünftel meiner Post zählte: Zuschriften irgendwelcher Nörgler, Zeitungskritiken, die mir der Verlag oder wohlmeinende Freunde zusandten, Invitationen. Nein, alles das konnte warten; meine Zeit war zu kostbar, um mit Kram vertan zu werden. Ich wollte gleich nach dem Frühstück ans Diktieren gehen, und wenn am Nachmittag Irene, die Schreibhilfe, kam, würde sie das zweite Band besprochen vorfinden. Denn ich war gerade in den letzten Tagen gut in Schwung gekommen und musste das Eisen hämmern, solange es glühte. Einen großen Anlauf hatte ich für dieses Bändchen, meine „II. Poetische Reise“, gebraucht – Dichtung war eben nichts, was man auf Bestellung schuf -, doch nun flossen mir die Gedanken und Bilder in die Feder. Zum Glück, denn durch Presse, Funk und Fernsehen war schon einiges über das Projekt an die Öffentlichkeit gedrungen. Noblesse oblige. Mein Publikum, eine, wie ich mit einigem Stolz vermerken darf, für einen Poeten relativ große und treue Leserschar, sah dem Buch mit Ungeduld entgegen. Ihnen, meinen Anhängern, wusste ich mich verpflichtet, und es wäre ungerecht gewesen, sie wegen zweitrangiger Dinge warten zu lassen.
Aus diesen verständlichen Gründen also vergaß ich die EINLADUNG, nachdem ich sie auf den Schreibtisch zurückgelegt hatte, sofort. Mitunter verhält man sich wie ein Briefmarkensammler, der über seinen mehr oder weniger wertvollen Stücken die für das Leben oft wichtigeren Dinge außer Acht lässt. Wenigstens so lange, bis er mit der Nase darauf gestoßen wird. Soll ich es Glück nennen, dass mir in der Folge mit dieser Klappkarte nicht widerfuhr, was mir mit so mancher Einladung des Schriftstellerverbandes, des PEN-Klubs, der Akademie der Künste passierte: dass sie sich von selbst erledigte? Dass sie wegen Terminüberschneidung in den Papierkorb wanderte, oder weil ich erst wieder an sie dachte, als der angegebene Zeitpunkt längst vorüber war? Glück, schicksalhafte Fügung – ich halte nicht viel von solchen Worten. Aber vielleicht muss man in dieser ersten Phase, da ich den Text noch nicht gelesen, den Stachel, der in ihm verborgen war, noch nicht gespürt hatte, darüber sprechen. Trotz der Stöße, des Schlägehagels, der später auf mich niederprasselte und den ich bis jetzt noch nicht völlig verwunden habe. Hätte ich jedenfalls gewusst, was sich hinter dieser EINLADUNG verbarg, ich wäre keineswegs so ruhig frühstücken gegangen, als Maren endlich verschwunden war. Und ich hätte in den nächsten Tagen kaum soviel Zeit auf die „II. Poetische Reise“ verwandt, ein Werk, das ich heute, nach dieser Erfahrung, trotz allen Lobs in der Presse nicht mehr für gar so wertvoll halten kann.“
Aber irgendwie reizt in diese geheimnisvolle Einladung dann doch, Rubin (welch schön ausgewählter Name!) reist in die Zukunft und erlebt dort doch rechts Unerwartetes. Und die Leserin und der Leser dürfen sich vergnügen. Viel Spaß dabei, weiter einen schönen Frühling und bleiben auch Sie im Monat des blauen Bandes (Achtung, lyrische Anspielung, die nichts mit einer gewissen TITANIC zu tun hat, die kam erst später zu zweifelhaften Ehren.) weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
Ach, da wir gerade bei Zeitreisen sind, kennen Sie eigentlich das Großvater-Paradoxon? Bei Wikipedia lesen wir unter diesem Stichwort dazu eingangs Folgendes: Das Großvaterparadoxon ist ein Paradoxon, das kausale Folgewidrigkeiten und Widersprüche bei Zeitreisen in die Vergangenheit zum Gegenstand hat. Es hat seinen Namen von einem bekannten Gedankenexperiment zu seiner Verdeutlichung: Angenommen, eine Person reist in die Vergangenheit und verursacht dort den Tod eines ihrer Großväter, noch bevor dieser das entsprechende Elternteil gezeugt hat; damit ist aber eine kausal notwendige Bedingung der Existenz der Zeitreisenden nicht mehr gegeben. Weiterhin ist aber auch die Kausalkette, die zur Zeitreise und zum Tod des Großvaters führte, unterbrochen. Damit wird auf eine grundlegende Problematik von Zeitreisen verwiesen. Es stellen sich z. B. die Fragen,
ob sich durch die Zeitreise eine neue Zeitlinie ergeben hat, zu deren Vergangenheit die Zukunft der alten Zeitlinie zählt, oder
ob sich damit die Unmöglichkeit von Zeitreisen insgesamt aufzeigt, oder
ob angenommen werden muss, dass eine Zeitreise die (isolierten) Bedingungen ihres Zustandekommens selbst nicht aufheben kann, oder
ob die Vergangenheit trotz Zeitreise unveränderlich ist.
Neben der direkten Diskussion der Möglichkeit von Zeitreisen und kausaler Paradoxien berührt das Paradoxon auch weitere Bereiche der philosophischen Logik, z. B. bzgl. der Identität über mögliche Welten. Schauen Sie mal nach …
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