Zum Wohle eines Menschen handeln − das kann manchmal auch bedeuten, eine lebenserhaltende Behandlung zu beenden. Die Entscheidung, das zu tun, fällt nicht nur den Angehörigen, sondern auch den Mediziner*innen schwer. Wenn die Meinungen im behandelnden Team auseinandergehen oder die Angehörigen sich etwas anderes wünschen, als das behandelnde Team rät, kann eine Ethikberatung hilfreich sein.

Entscheidungshilfe bei schwierigen Fällen

In amerikanischen Krankenhäusern ist ein Ethikkomitee schon seit 1991 Pflicht, in Deutschland gibt es seit 1997 lediglich die Empfehlung. „In den meisten Akutkliniken ist ein Ethikkomitee aber selbstverständlich, in Reha-Kliniken allerdings noch nicht. Dabei sind mittlerweile in vielen Reha-Kliniken Akutstationen mit intensivpflichtigen Patient*innen angegliedert, wie zum Beispiel die neurologische Frührehabilitation Phase B“, erklärt Tanja Zoller, Leitende Oberärztin der Fachklinik für Neurologie und Mitglied im Ethikteam im MEDICLIN Reha-Zentrum Gernsbach. Mittlerweile wurden die Strukturanforderungen für Weaning-Stationen – Stationen zur Beatmungsentwöhnung, die Teil der neurologischen Frühreha sind – angepasst: Es muss die Möglichkeit bestehen, ein Ethik-Gespräch anzufordern. 

Im MEDICLIN Reha-Zentrum Gernsbach gibt es bereits ein Ethikteam. Das interdisziplinäre Gremium besteht aus Mitarbeitenden der Bereiche Pflege, Therapie, Medizin, Verwaltung und Seelsorge. Neben den Fallbesprechungen zu schwierigen Situationen ist auch die Organisation von Fortbildungen zu ethischen Themen, sowie allgemein die Förderung der ethischen Grundsätze in der Patientenversorgung Aufgabe des Ethikteams.

„Eine ethische Fallbesprechung wird zum Beispiel einberufen, wenn abgewägt werden muss, ob eine lebensverlängernde Maßnahme noch vertretbar ist. Zum Beispiel bei einer unklaren Prognose oder, wenn nicht klar ist, was eigentlich der Wille des Patienten ist“, sagt Zoller.  Alle an der Behandlung beteiligten Personen sowie Angehörige können eine ethische Fallbesprechung anfordern und daran teilnehmen. „Dass Angehörige bei der Besprechung dabei sind, ist zum Beispiel  besonders wichtig, wenn wir das Gefühl haben, der Patientenwille und der Wille der Angehörigen stimmen nicht überein“, ergänzt Zoller.

Von allen Seiten beleuchten

Am Anfang der Besprechung stellt der behandelnde Arzt den Fall medizinisch dar. Anschließend erzählen Mitarbeiter*innen der Pflege und Therapie aus ihrer Sicht, manchmal auch jemand vom Sozialdienst oder Angehörige. Das Ziel ist es, den Fall von allen Seiten zu beleuchten und zu einer Lösung zu kommen, die dem Patienten gerecht wird. „Die pflegerischen und therapeutischen Teams sind zum Beispiel viel näher dran am Patienten als wir Ärzte, daher ist es wichtig, diese dabei zu haben“, sagt Zoller. Die Besprechung wird immer von zwei geschulten Ethikberater*innen aus dem Team moderiert und dauert im Schnitt 45 bis 60 Minuten. Je nach Fall ist die Zusammensetzung der Teilnehmer*innen unterschiedlich. Ist die Fragestellung zum Beispiel, ob eine Patientin jemals wieder schlucken kann, kann die Logopädin das am besten beurteilen und sollte bei der Fallbesprechung dabei sein. Bei anderen Patient*innen ist die Einschätzung einer Pflegekraft oder aus der Physiotherapie gegebenenfalls ausschlaggebender.  

Zu einer Einigung kommen  

„Nicht alle Maßnahmen, die heutzutage möglich sind, erscheinen ethisch und moralisch auch immer sinnvoll. Im Mittelpunkt stehen für uns das Wohlergehen und der Wille unserer Patient*innen“, betont Zoller. Anstehende oder bereits getroffene Entscheidungen werden bei den Fallbesprechungen in systematischer Weise ethisch reflektiert und aufgearbeitet.

Wie aber kommt man zu einer Einigung, wenn Angehörige die Maximaltherapie wünschen bei einem aus medizinischer Sicht aussichtslosen Fall? „Wir arbeiten mit den ethischen Kriterien Wohltun, nicht schaden, Autonomie und Gerechtigkeit. Wir gehen diese Schritt für Schritt durch und kommen so meist gut zu einer Einigung“, erzählt Zoller. Das Ethikteam spricht dann eine Empfehlung aus, das Protokoll kommt in die Patientenakte. Über das Ergebnis werden Patient*innen oder Angehörige vom behandelnden Arzt informiert. Was in der Fallbesprechung als beste Lösung beschlossen wurde ist aber nicht verpflichtend. Der behandelnde Arzt kann gemeinsam mit den Angehörigen und dem Patienten auch anders entscheiden.  „Das passiert aber eher selten“, sagt Zoller. „Das Ergebnis aus einer ethischen Fallbesprechung hat auf jeden Fall großes Gewicht und hilft sowohl den Behandlern als auch Patient*innen und Angehörigen, schwere Entscheidungen zu begründen, zu tragen und zu akzeptieren.“ 

In diesem Video über das Gernsbacher-Ethik-Team stellt Tanja Zoller sich und die Arbeit des Gremiums persönlich vor.

Über MEDICLIN

Das MEDICLIN Reha-Zentrum Gernsbach ist eine Rehabilitationsklinik für die Fachbereiche Neurologie, Geriatrie sowie Innere Medizin und Kardiologie. Daran angegliedert ist eine Fachklinik für die neurologische Frührehabilitation Phase B, in der Patient*innen mit schweren und schwersten Hirnschädigungen aufgenommen werden können. Außerdem bietet die Klinik eine interdisziplinäre Post-Covid-Rehabilitation zur Behandlung von Patient*innen mit Langzeitfolgen von Covid-19 an.
Die 1998 gegründete Klinik verfügt über 270 Betten und beschäftigt rund 325 Mitarbeiter*innen.

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