Zehn Felchenarten haben Biologen des Wasserforschungsinstituts Eawag im Einzugsgebiet der Reuss identifiziert. Davon wurden sieben erstmals als eigene Art beschrieben – zwei allerdings nur noch mit Hilfe historischer Sammlungen. Denn wegen der Überdüngung der Seen im letzten Jahrhundert sind auch in der Innerschweiz Fischarten ausgestorben.

Der Edelfisch (Coregonus nobilis) war nach dem kleineren Albeli die zweithäufigste Felchenart in den Fängen der Fischer vom Vierwaldstättersee – bis Phosphat aus Haushaltabwässern und aus immer stärker gedüngten Böden das Algenwachstum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts explodieren liess. Im Vergleich zu den Mittellandseen blieb die Belastung im Vierwaldtättersee zwar bescheiden, und die Eutrophierung dauerte nur kurz; durch die Zersetzung der vielen Algen wurde der Sauerstoff in der Tiefe des Sees trotzdem knapp. Dem Edelfisch, der sich im Spätsommer auf Laichplätzen von 80 Metern Tiefe an abwärts fortpflanzt, bekam das nicht. Kurz bevor das Phosphatverbot für Waschmittel und der Bau von Kläranlagen Wirkung zeigten, brachen seine Bestände ein, und 1980 galt er als ausgestorben. Erst ab den späten 1990er Jahren wurden wieder einzelne Tiere gefangen, die der Felchenspezialist und Eawag-Forscher Rudolf Müller 2000 zweifelsfrei als C. nobilis identifizierte.

Fünf Felchenarten im Vierwaldstättersee

Heute ist der Edelfisch geschützt. Damit hat der Vierwaldstättersee keine seiner historisch belegten Felchenarten verloren. Und Eawag-Forschende haben neben den bereits bekannten Edelfisch, Albeli und Bodenbalchen sogar noch zwei neue Arten identifiziert: Zwei Grossfelchen, die sich in Lebensweise, äusserlichen Merkmalen und Erbgut von den bisher bekannten Arten unterscheiden. Der pelagische Schwebbalchen (Coregonus suspensus) lebt wahrscheinlich ständig im offenen Wasser, und zwar nicht nur zur Nahrungssuche, sondern auch zur Fortpflanzung – ein Laichverhalten, das man sonst nur von den Blaufelchen (C. wartmanni) im Bodensee kennt. Eine Position zwischen dem pelagischen Schwebbalchen und dem Bodenbalchen (C. litoralis) nimmt der litorale Schwebbalchen (C. intermundia) ein.
 

Sarnersee-Krimi

Ob der Sarnersee ein natürliches Felchengewässer sei oder die Felchen aus den fürs Ende des 19. Jahrhunderts dokumentierten künstlichen Besatz-Atkionen stammen, war im 20. Jahrhundert eine Streitfrage unter Zoologen. Mit kriminalistischem Spürsinn untersuchten nun Eawag-Forscher Sedimentbohrkerne aus dem Sarnersee. Dabei fanden sie Felchenschuppen in Ablagerungen aus einer Zeit vor den künstlichen Besatzmassnahmen. Genetische Untersuchungen der heutigen Sarnerfelchen zeigten zudem klare Unterschiede zu allen anderen Schweizer Felchenarten. Diese komplementären Informationen erlaubten es, die Sarnerfelchen als eigenständige Art, C. sarnensis, zu beschreiben. Ob die Balchen (C. litoralis), die neben dem Sarnerfelchen vorkommen, den Sarnersee über Besatz oder über die ehemals bestehende Verbindung mit dem Vierwaldstättersee besiedelt haben, konnte nicht geklärt werden und bedarf weiterer „kriminalistischer“ Untersuchungen.

Der Überlebende vom Zugersee

Schlimm traf die Eutrophierung die Felchen im Zugersee, der im 20. Jahrhundert wie andere Mittellandseen wesentlich stärker und während einer längeren Zeit überdüngt war als Gewässer, die näher am Ursprung der Flüsse liegen. Da nur noch die obersten Wasserschichten des 200 Meter tiefen Sees genug Sauerstoff für Fische aufwiesen, sind zwei Felchenarten, die in grösseren Tiefen des Sees laichten, ausgestorben: Das (Zuger) Albeli (C.zugensis) und der Zugeralbock (Coregonus obliterus). Der Zugeralbock wäre sogar völlig vergessen worden, hätten die Eawag-Forscher Oliver Selz und Ole Seehausen sie nicht in der historischen Steinmann-Eawag-Sammlung gefunden. Seine Merkmale und alte Berichte deuten darauf hin, dass der Zugeralbock auf das Leben in grosser Tiefe spezialisiert war – eine Spezialisierung, die man in diesem Mass nur vom ebenfalls ausgestorbenen Kilch (C. gutturosus) im Bodensee und vom noch existierenden Kropfer (C. profundus) im Thunersee kennt.

Übrig geblieben ist der eher ufernah laichende Zugerbalchen. Der Fisch verkündet denn auch mit seinem neuen wissenschaftlichen Namen Coregonus supersum: „Ich habe überlebt“.

Jeder See hat eigene Arten

Neu sind auch die wissenschaftlichen Namen des Bodenbalchen (C. litoralis) und des Albeli (C. muelleri) im Vierwaldstättersee. Denn als Oliver Selz und Ole Seehausen die Innerschweizer Felchen für die Aktualisierung der Taxonomie morphologisch und genetisch untersuchten, zeigte sich, dass fast jeder See seine eigene Albeli- und „Bodenbalchen“-Art hat.

Vorher waren die Albeli des Zuger- und Vierwaldstättersees als derselben Art („Coregonus zugensis“) zugehörig beschrieben worden, die ufernah laichenden Balchen der verschiedenen Innerschweizer Seen als „Coregonus suidteri“. Die Namen dieser „Sammelarten“ haben nun die ausgestorbenen Albeli des Zugersees (C. zugensis) und die Balchen des Sempachersees (C. suidteri) geerbt.

Die Albeli des Vierwaldstättersees erhielten ihre neue Bezeichnung C. muelleri zu Ehren des Gewässerbiologen und Felchenspezialisten Dr. Rudolf Müller (1944-2023).

Ein Abbild der Schweiz

Die Seen im Einzugsgebiet der Reuss sind ein Abbild der Schweiz. In den Alpenrandseen sind seit der letzten Eiszeit mindestens 35 Felchenarten entstanden, meist zwei oder mehr im gleichen See. Einen Drittel davon hat die Schweiz während der Seeneutrophierung nach der Mitte des 20. Jahrhunderts verloren. Viele der verlorenen Arten kennen die Forscher nur dank historischer Sammlungen wie derjenigen, die der Naturforscher Paul Steinmann noch vor der Seenüberdüngung anlegte und die heute vom Naturhistorischen Museum Bern kuratiert wird.

Rudolf Müller – Namenspatron von C.muelleri

Die häufigste Felchenart des Vierwaldstättersees, das Albeli, wurde bei der Revision der Felchentaxonomie nach dem Felchenspezialisten Dr. Rudolf Müller Coregonus muelleri benannt. Der kürzlich verstorbene Rudolf Müller leitete den Forschungsbereich Fischereiwissenschaften der Eawag in Kastanienbaum, der in den späten 1990er Jahren in die Abteilung Limnologie und 2004 in die neue Abteilung Fischökologie und Evolution integrierte wurde. Nach seiner Emeritierung 2008 stellte er sein umfangreiches Wissen mit seinem Büro Limnos Fischuntersuchungen in Horw als selbständiger Berater zur Verfügung. 2000-2006 war der einflussreiche Fisch- und Fischereibiologe Vorsitzender der beratenden Kommission für europäische Binnenfischerei EIFAC in der Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen FAO. Mit seinen Forschungsarbeiten zur Fortpflanzung der Felchen in den Schweizer Seen war er massgeblich beteiligt an der Entdeckung der Mechanismen, die während der Eutrophierungsphase zum schnellen Verlust von Felchenarten führten. Rudolf Müller war es auch, der wesentlich zur Wiederentdeckung des ausgestorben geglaubten Edelfischs im Vierwaldstättersee beigetragen hat: Im Sommer 2000 identifizierte er ein Exemplar, das ihm Berufsfischer zum Bestimmen brachten, mit wissenschaftlichen Methoden eindeutig als C. nobilis; und 2004 gelang ihm in Zusammenarbeit mit dem Berufsfischer Gottfried Hofer der definitive Nachweis einer Edelfisch-Brutpopulation.

Namen

Sempachersee
C.suidteri = Sempacherfelchen, Sempacherbalchen

Zugersee
C.zugensis = Zugeralbeli (verschwunden)
C.obliterus = Zugeralbock (verschwunden)
C.supersum = Zugerbalchen

Vierwaldstättersee VWS
C.muelleri = Albeli
C.nobilis = Edelfisch
C.litoralis = Balchen, Bodenbalchen
C.intermundia = benthischer Schwebbalchen
C.suspensus = pelagischer Schwebbalchen

Sarnersee
C.sarnensis = Sarnerfelchen, Sarneralbeli
C.litoralis = siehe VWS: Balchen, Bodenbalchen

Originalartikel

Selz OM, Seehausen O (2023) A taxonomic revision of ten whitefish species from the lakes Lucerne, Sarnen, Sempach and Zug, Switzerland, with descriptions of seven new species (Teleostei, Coregonidae). ZooKeys 1144: 95–169. https://doi.org/10.3897/zookeys.1144.67747

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