Wirtschaftswachstum und dadurch ermöglichter Konsum sind wichtige Faktoren für die gesellschaftliche Entwicklung. Die Verteilung der Einkommen, die Wohlfahrtseffekte unbezahlter Arbeit, das Ausmaß der Umweltzerstörung und andere Aspekte von Lebensqualität sind es aber ebenfalls. Der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI), jährlich berechnet im Auftrag des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung, enthält diese und weitere Einzelkomponenten – insgesamt 21. Sie alle zusammen ergeben eine Kennzahl, die im Vergleich mit den Werten der Vorjahre erkennen lässt, in welche Richtung sich die Volkswirtschaft und die Gesellschaft entwickelt haben.
Der Wohlstand und das Wohlfahrtsniveau sinken im NWI beispielsweise, wenn der Konsum zurückgeht, die Luftverschmutzung und die ausgestoßenen Treibhausgase und der Verbrauch nicht-erneuerbarer Ressourcen zunehmen oder die Einkommensverteilung ungleicher wird. Gelingt es dagegen, gleichzeitig umweltfreundlich und rentabel zu produzieren, bei hohem Beschäftigungsstand und guten Löhnen, und kann die Bevölkerung eine möglichst intakte Umwelt genießen – kurz: geht es voran mit der sozial-ökologischen Transformation – so steigt der NWI. Da viele der für den Indikator nötigen Daten erst mit zeitlichem Verzug vorliegen, bezieht sich der NWI bislang immer auf das vorvergangene Jahr.
2021 ist der NWI um 1,8 Indexpunkte auf 94,6 gefallen. Das geht aus der neuen Auswertung hervor, die Dr. Benjamin Held, Dorothee Rodenhäuser und Prof. Dr. Hans Diefenbacher vom Institut für Interdisziplinäre Forschung (FEST e.V.) in Heidelberg erstellt haben. Was bedeutet 94,6? Der NWI ist so normiert, dass das Wohlfahrtsniveau des Jahres 2000 einem Indexwert von 100 entspricht. Seither hat die Wohlfahrt in Deutschland also abgenommen. Auch gegenüber 2020, als der NWI noch einen Wert von 96,4 erreichte, ist er gesunken. Das erklären die Forschenden vor allem mit der Flutkatastrophe an Ahr und Erft. Die Schäden von über 30 Milliarden Euro gehen negativ in den NWI ein und stellen "die größte wohlfahrtsmindernde Änderung" im Jahr 2021 dar. Außerdem negativ wirkten die "wieder ansteigenden Emissionen von Treibhausgasen", ein erhöhter Verbrauch fossiler Energieträger sowie die Tatsache, dass sich "eine leichte Erhöhung der Einkommensungleichheit abzuzeichnen" scheint.
Damit unterscheidet sich die Entwicklung des NWI deutlich von der des Bruttoinlandsprodukts (BIP), das im Jahr 2021 um 2,6 Prozent stieg. Hier werden die Schwächen des BIP als alleinigem Wohlfahrtsindikator sichtbar, so die Forschenden: Die Flutkatastrophe schlägt sich darin nämlich nicht umfassend nieder – oder möglicherweise sogar mit umgekehrten Vorzeichen. Denn sollten die Ausgaben für den Wiederaufbau die Produktionsausfälle durch die Zerstörungen überstiegen haben, wäre ein Teil des ausgewiesenen Wirtschaftswachstums gerade eine Folge der Katastrophe.
Auch bei der Betrachtung der längerfristigen Entwicklung zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen BIP und NWI: Betrachtet man die langfristige Entwicklung des BIP, so drängt sich der Eindruck eines beinahe kontinuierlichen Fortschritts seit der Wiedervereinigung auf, der nur durch Finanz- und Coronakrise unterbrochen wurden, so Held, Rodenhäuser und Diefenbacher. Der NWI, der sich rückwirkend für die Jahre bis 1991 berechnen lässt, hat sich ganz anders entwickelt: Auf eine deutliche Wohlstandsteigerung in den 1990er-Jahren folgt beim NWI eine 20-jährige Hängepartie; erst im Jahr 2019 erreicht er wieder knapp das Niveau der Jahrtausendwende. Verantwortlich für die lange Phase ohne Fortschritt waren vor allem höhere Ungleichheit und Umweltbelastung. Das BIP, das diese Faktoren nicht berücksichtigt, nahm hingegen im gleichen Zeitraum um fast die Hälfte zu (siehe auch die Abbildung in der pdf-Version dieser PM; Link nach der Quelle).
*Benjamin Held, Dorothee Rodenhäuser, Hans Diefenbacher: NWI 2022 – Corona-Pandemie und Flutkatastrophe führen zu sinkender Wohlfahrt, IMK Study Nr. 85, Februar 2023. Download: https://www.boeckler.de/…
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