Herr Dr. Englbrecht, 2022 war kein gutes Jahr für die Organspende in Deutschland. Ein Rückgang von 7,0 Prozent bei den postmortalen Organspendern bundesweit. Wie stellt sich das in Zahlen am UKM dar?
Im vergangenen Jahr 2021 hatten wir insgesamt 10 Organspender, was gerade im Hinblick auf die Corona-Pandemie eine zufriedenstellende Anzahl war. Immerhin haben wir damit doppelt so viele Spenden wie 2020. In 2022 haben wir, allerdings nur fünf Organspenden realisieren können, was einen deutlichen Rückgang bedeutet.
War die Pandemie eine Ursache für den deutlichen Rückgang? Immerhin war der Einbruch bei den Organspendern laut DSO vor allem im ersten Quartal aufgrund der hohen Inzidenzzahlen mit beinahe 30 Prozent dramatisch…
Die Gründe für die insgesamt niedrigen Zahlen und den auch am UKM deutlichen Rückgang sind sicherlich multifaktoriell. Immerhin konnten wir 2021 ja trotz der da schon herrschenden Corona-Pandemie einen deutlichen Zuwachs an Organspendern realisieren. 2022 hat sich aber gegenüber dem Vorjahr die Kapazität der zur Verfügung stehenden Intensivbetten weiter reduziert. Da eine Organspende nur nach Feststellung des Hirntodes in Deutschland möglich ist, kann diese auch nur bei Patienten realisiert werden, die auf einer Intensivstation versterben. Wenn die absolute Zahl an intensivmedizinisch behandelten Patienten sinkt, sinkt logischerweise auch das Potenzial an möglichen Spendern. Hinzu kommt: Grundsätzlich ist die Realisierung einer Organspende ein extrem zeit- und personalaufwändiger Prozess. Die Coronapandemie und der generelle Mangel an Personal im Gesundheitswesen erschweren zusammengenommen die Möglichkeiten, eine Organspende zu realisieren.
Aus Ihrer Sicht: Warum schafft es Deutschland nicht dauerhaft, mehr Spendenbereitschaft zu generieren? Ist das nur ein Problem der Zustimmungslösung?
Deutschland hat traditionell sehr wenige Organspender, jährlich sind es ungefähr 11 pro 1 Mio. Einwohner. In Spanien z.B. werden weit über 30 Spender pro 1 Mio. Einwohner realisiert. Allerdings ist die Organspendekultur in Spanien auch eine ganz andere. Dort wird die Widerspruchslösung angewandt, d.h. ein Patient ist potenzieller Organspender, es sei denn, er hat sich zu Lebzeiten aktiv dagegen entschieden. Auch ist das Thema Organspende dort ein fester Bestandteil in der schulischen Ausbildung. Mein Eindruck ist, dass dort die Organspende eher als eine selbstverständliche Sache angesehen wird, quasi als Beitrag zu einer funktionierenden, sich gegenseitig unterstützenden Gesellschaft. In Deutschland ist dagegen das Thema Organspende teilweise negativ behaftet oder zumindest herrscht ein unausgesprochenes gesellschaftliches Agreement, lieber nicht darüber sprechen zu wollen.
Die erklärte Bereitschaft zur Organspende ist in Umfragen immer hoch, aber schlägt sich nicht in hohen Organspendezahlen nieder.
Es werden in Deutschland jährlich repräsentative Umfragen über die Einstellung der Bürger zur Organspende veröffentlicht. Danach haben weit über 80% eine eher positive Einstellung zur Organspende. Über 60% der Befragten geben dabei an, eine Entscheidung zur Organspende für sich selbst getroffen zu haben, und von diesen würden über 70% einer Spende zustimmen.
Leider sieht die Wirklichkeit im klinischen Alltag anders aus. Wir analysieren am UKM seit Jahren die Einstellung zur Organspende bei Patienten, die potenziell die Voraussetzungen erfüllen, Organspender werden zu können. 2021 hatten wir zirka 60 potenzielle Organspender. Nur in 19 Fällen (32%) gab es eine Zustimmung zur Organspende und nur in 10 Fällen (17%) konnte diese dann auch realisiert werden.
Bisher sind die Zahlen der bis November 2022 ausgewerteten Fälle ähnlich. Bei insgesamt 41 potenziellen Spendern gab es 14 Zustimmungen (34%) und nur 5 realisierte Spenden (12%).
Was sind die Gründe, dass der in Umfragen geäußerte Wille am Ende keine Realität wird?
Eines der Hauptprobleme ist sicherlich, dass die Zustimmungsraten zur Organspende im klinischen Alltag nur dann vergleichbar hoch sind wie in Umfragen, wenn der potenzielle Spender zu Lebzeiten auch wirklich selbst eine Entscheidung getroffen hat. Wenn Angehörige für den Spender entscheiden müssen, fällt die Zustimmung deutlich niedriger aus.
Leider hatten aber von den 60 potenziellen Spendern in 2021 weniger als 30% ihren Willen selbst festgelegt, in 2022 sogar unter 20%. Mehrheitlich müssen also immer noch Angehörige entscheiden, und diese Entscheidung fällt sehr häufig gegen eine Spende aus. weil einfach nie darüber gesprochen wurde.
Es fehlt also an eindeutiger Dokumentation? Und wenn ja, wie könnte diese erleichtert werden?
Die in Deutschland angewendete Entscheidungslösung kann nur gut funktionieren, wenn jeder in der Bevölkerung auch wirklich eine gut dokumentierte Entscheidung für sich selbst trifft. Hier ist auch die Politik gefragt. Die geplante Einführung eines Online-Registers, in dem man seine persönliche Entscheidung zur Organspende eintragen kann, wäre ein wesentlicher Schritt zu mehr Organspenden. Wenn der Wille des Verstorbenen nicht klar bekannt ist, entscheiden die Angehörigen überwiegend gegen eine Spende.
Was muss getan werden, um den wachsenden Bedarf an Spendeorganen perspektivisch bedienen zu können? Immerhin stehen hinter den Zahlen auf beiden Seiten menschliche Schicksale.
Jeder Einzelne muss motiviert werden, eine gut dokumentierte Entscheidung über den eigenen Organspendewillen zu treffen. Nur dann können die Spendezahlen langfristig steigen. Dabei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass man seinen Angehörigen eine extrem belastende Entscheidung überlässt, wenn man sich nicht selbst entscheidet. Eine Alternative wäre sicherlich die Einführung der Widerspruchslösung in Deutschland, so wie dies auch aktuell in der Schweiz entschieden wurde. Ich fürchte allerdings, dass wir in Deutschland noch weit entfernt sind von dieser Entscheidung. Eine Situation, die für alle Beteiligten, und insbesondere für diejenigen, die dringend auf ein Spenderorgan warten, sehr unbefriedigend ist.
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