Eine interdisziplinäre Gruppe von Heidelberger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat eine Stellungnahme zur sekundären Forschungsnutzung von Behandlungsdaten veröffentlicht. Beteiligt sind das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg, das Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD), das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) und die Universität Heidelberg. Die Wissenschaftler fordern ein Umdenken beim Umgang mit Behandlungsdaten und eine gesetzliche Grundlage für die standardmäßige Datennutzung mit Widerspruchslösung.

Die Corona-Pandemie hat auf drastische Weise gezeigt, wie wichtig es ist, zu wissen, was in Krankenhäusern passiert und wie es den Patienten geht. Diese Informationen sind unverzichtbar – für die biomedizinische Forschung, die Epidemiologie und somit auch für fundierte politische Entscheidungen in schwierigen gesellschaftlichen Situationen. Statt auf Daten aus deutschen Krankenhäusern zu setzen, mussten Wissenschaft und Politik für eine ungefähre Orientierung auf Daten aus anderen Ländern zurückgreifen.

Das Beispiel stützt die kritische Einschätzung, zu der ein interdisziplinäres Team Heidelberger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf Basis eigener Studien in einem Verbundprojekt kommt: Die gegenwärtige sekundäre Forschungsnutzung von Behandlungsdaten in Deutschland lässt wichtige Potenziale für die Wissenschaft und Krankenversorgung brachliegen und ist deshalb unbefriedigend. In einer jetzt veröffentlichten Stellungnahme geben die Experten aus Medizin, Rechtswissenschaften, Ethik und Sozialwissenschaften Antworten auf die Frage, was notwendig ist, damit die Daten von Patienten systematisch für die Analyse der klinischen Versorgungsqualität und die medizinische Forschung verwendet werden können.

Demnach ist es ethisch und politisch geboten, die Forschungsnutzung von Behandlungsdaten und den Ausbau der dafür notwendigen Strukturen in Deutschland zu intensivieren. So lassen sich die Sicherheit, Qualität und Wirtschaftlichkeit der medizinischen Versorgung verbessern und neue medizinische Erkenntnisse und Therapien zu entwickeln.

Eva Winkler, Geschäftsführende Direktorin am NCT Heidelberg und Leiterin der Sektion Translationale Medizinische Ethik am UKHD, leitet das Verbundprojekt. Sie sagt: "Wir wissen, dass Patientinnen und Patienten von uns erwarten, das Potenzial zum Wissens- und Forschungsgewinn aus Behandlungsdaten zu nutzen. Daher machen wir ganz konkrete Vorschläge, wie eine solche Nutzung in ethisch und rechtlich umsichtiger Weise Praxis werden könnte."

Die Wissenschaftler legen in der Stellungnahme zehn zentrale Bewertungen und Forderungen vor. Sie fordern alle Akteure des Gesundheitssystems – von den Regierungen im Bund und in den Ländern über die Krankenkassen, Kliniken bis zu Ärzten und Patienten – auf, eine Kultur zu etablieren, die die sekundäre Forschungsnutzung von Behandlungsdaten unterstützt. Die Autoren kritisieren, dass bisher Bedenken und Risiken insbesondere in Bezug auf Datenschutzaspekte zu sehr im Vordergrund stehen. Hingegen sollte den Potenzialen und dem möglichen Nutzen mehr Gewicht eingeräumt werden.

Christoph Schickhardt, Sektion für Translationale Medizinethik, DKFZ und NCT Heidelberg, ist wissenschaftlicher Gesamtkoordinator der Stellungnahme. Er sagt: "Auch wenn das Thema des Datenschutzes selbstverständlich umfangreiche Beachtung und Würdigung verdient, so nimmt es aus ethischer Sicht in der Debatte und Regulierungslandschaft zur sekundären Forschungsnutzung klinischer Daten ein unverhältnismäßig großes Gewicht ein und bereitet enormen Aufwand – auf Kosten der Forschung und ihrer Nutzenpotenziale."

Weiterhin fordern die Wissenschaftler den Gesetzgeber auf, die rechtliche Grundlage für eine standardmäßige Datennutzung ohne Einwilligung, aber mit Widerspruchslösung zu schaffen. Das bedeutet, dass als Standard die Daten der Patienten für Forschung unter bestimmten Bedingungen genutzt werden können, die Patienten der Nutzung ihrer Daten aber jederzeit und ohne Angabe von Gründen widersprechen können. Bis zur Schaffung dieser neuen Gesetzeslage soll der Gesetzgeber Rechtssicherheit in Bezug auf die Nutzung einer allgemeinen breiten Einwilligung ("Broad Consent") für die sekundäre Forschungsnutzung von Behandlungsdaten herstellen. Zur Umsetzung ihrer Forderungen sprechen die Wissenschaftler 23 Empfehlungen zu konkreten Maßnahmen für die unterschiedlichen Akteure aus.

Kai Cornelius, Juristische Fakultät der Universität Heidelberg (jetzt Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg), Leiter des rechtswissenschaftlichen Teilprojekts, sagt: "Wir müssen Rechtssicherheit für die sekundäre Forschungsnutzung von Behandlungsdaten schaffen, sowohl in Bezug auf die Nutzung einer breiten Einwilligung als auch in Bezug auf eine mögliche Datennutzung ohne Einwilligung."

Die jetzt veröffentlichte Stellungnahme ist das Ergebnis des interdisziplinären und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Verbundprojekts Learning from Clinical Data (LinCDat). Sie beruht auf mehrjähriger sozialwissenschaftlicher, ethischer und rechtswissenschaftlicher Forschung, die in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht wurde.

Die Stellungnahme steht unter dem folgenden Link zum Download zur Verfügung:
https://journals.ub.uni-heidelberg.de/…

Über Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg

Das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg ist eine gemeinsame Einrichtung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD), der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg und der Deutschen Krebshilfe. Ziel des NCT ist es, vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung möglichst schnell in die Klinik zu übertragen und damit den Patienten zugutekommen zu lassen. Dies gilt sowohl für die Diagnose als auch die Behandlung, in der Nachsorge oder der Prävention. Die Tumorambulanz ist das Herzstück des NCT. Hier profitieren die Patienten von einem individuellen Therapieplan, den fachübergreifende Expertenrunden, die sogenannten Tumorboards, erstellen. Die Teilnahme an klinischen Studien eröffnet den Zugang zu innovativen Therapien. Das NCT ist somit eine richtungsweisende Plattform zur Übertragung neuer Forschungsergebnisse aus dem Labor in die Klinik. Das NCT kooperiert mit Selbsthilfegruppen und unterstützt diese!
in ihrer Arbeit. Seit 2015 hat das NCT Heidelberg in Dresden einen Partnerstandort. In Heidelberg wurde 2017 das Hopp-Kindertumorzentrum (KiTZ) gegründet. Die Kinderonkologen am KiTZ arbeiten in gemeinsamen Strukturen mit dem NCT Heidelberg zusammen.

Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ)
Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Über 1.300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können.
Beim Krebsinformationsdienst (KID) des DKFZ erhalten Betroffene, interessierte Bürger und Fachkreise individuelle Antworten auf alle Fragen zum Thema Krebs.
Gemeinsam mit Partnern aus den Universitätskliniken betreibt das DKFZ das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) an den Standorten Heidelberg und Dresden, in Heidelberg außerdem das Hopp-Kindertumorzentrum KiTZ. Im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK), einem der sechs Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung, unterhält das DKFZ Translationszentren an sieben universitären Partnerstandorten. Die Verbindung von exzellenter Hochschulmedizin mit der hochkarätigen Forschung eines Helmholtz-Zentrums an den NCT- und den DKTK-Standorten ist ein wichtiger Beitrag, um vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik zu übertragen und so die Chancen von Krebspatienten zu verbessern.
Das DKFZ wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Baden-Württemberg finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren.

Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Heidelberg: Krankenversorgung, Forschung und Lehre von internationalem Rang
Das Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD) ist eines der bedeutendsten medizinischen Zentren in Deutschland; die Medizinische Fakultät Heidelberg der Universität Heidelberg zählt zu den international renommierten biomedizinischen Forschungseinrichtungen in Europa. Gemeinsames Ziel ist die Entwicklung innovativer Diagnostik und Therapien sowie ihre rasche Umsetzung für den Patienten. Klinikum und Fakultät beschäftigen rund 14.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und engagieren sich in Ausbildung und Qualifizierung. In mehr als 50 klinischen Fachabteilungen mit fast 2.000 Betten werden jährlich circa 84.000 Patienten voll- und teilstationär und mehr als 1.000.000 Patienten ambulant behandelt.
Gemeinsam mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und der Deutschen Krebshilfe (DKH) hat das UKHD das erste Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg etabliert. Ziel ist die Versorgung auf höchstem Niveau als onkologisches Spitzenzentrum und der schnelle Transfer vielversprechender Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik. Zudem betreibt das UKHD gemeinsam mit dem DKFZ und der Universität Heidelberg das Hopp-Kindertumorzentrum (KiTZ), ein deutschlandweit einzigartiges Therapie- und Forschungszentrum für onkologische und hämatologische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter.
Das Heidelberger Curriculum Medicinale (HeiCuMed) steht an der Spitze der medizinischen Ausbildungsgänge in Deutschland. Derzeit befinden sich an der Medizinischen Fakultät Heidelberg (MFHD) rund 4.000 angehende Ärztinnen und Ärzte in Studium und Promotion.

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