Fast als ein Krimi ist aber auch das Kinderbuch „Til und der Körnerdieb“ von Barbara Kühl zu lesen. Eben jener Til wird darin vor eine schwere Entscheidung gestellt.
Dem Leben und der Kunst eines der bedeutendsten Maler der Gotik ist „Meister Bertram. Ein Künstlerroman“ von Ingrid Möller gewidmet. Eines seiner Bilder soll für ein Wunder gesorgt haben. Eine große Biografie.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Diesmal geht es um eine imperialistische Aggression und darum, wie sich ein mächtiger US-amerikanischer Konzern ein ganzes südamerikanisches Land untertan und zu einer „Bananenrepublik“ macht.
Erstmals 1959 erschien im Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung Berlin „Bananengangster“ von Wolfgang Schreyer: Die zeitgeschichtliche Reportage liest sich spannend wie ein Abenteuerroman. Sie entstand zu einer Zeit, in der die kubanische Revolution noch nicht gesiegt hatte und niemand die Ereignisse in Chile voraussehen konnte. Akribisch genau recherchiert und fesselnd geschrieben, informiert das Buch über ein kleines Land (Guatemala) und einen Vorgang scheinbar am Rande des Weltgeschehens, der nicht länger als zwölf Tage im Jahre 1954 Schlagzeilen machte – der von der CIA organisierte Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Jacobo Arbenz Guzmán.
Pressefreiheit, demokratische Wahlen, Gewerkschaften, Landreformen, Streikrecht, vier Kommunisten im Parlament, das alles hätte in anderen amerikanischen Staaten Schule machen können.
Heute erscheint uns dieser Vorgang in schärferem Licht; er gewinnt an Bedeutung, wenn man an die Verbrechen der chilenischen Konterrevolution denkt und an den Überfall der USA auf die friedliche Antilleninsel Grenada im Oktober 1983, der den von der CIA gesteuerten Putsch der Bananengesellschaft in Guatemala auf erschreckende Weise wieder aktuell werden ließ.
Das fast wie ein politischer Krimi zu lesende Buch ergänzt in hervorragender Weise den Roman „Das grüne Ungeheuer (Der grüne Papst). Hier der Beginn:
„1. Kapitel
Im Morgengrauen des 18. Juni 1954 wickelten sich nahe der zweihundertzwanzig Kilometer langen Nordwestgrenze von Honduras an dreißig verschiedenen Stellen fünftausend Männer aus ihren Zeltplanen, Decken und Gummimänteln, krochen fluchend unter den Riesenblättern der Corozopalmen hervor, aus denen sie sich regensichere Hütten gebaut hatten, aßen hastig eine Handvoll Kekse oder ein paar Brocken billiger Schokolade, formierten sich zu kompaniestarken Gruppen, schulterten deutsche Maschinenpistolen – Modell 40 –, setzten leichte helle Hüte auf und fielen in die Republik Guatemala ein.
Sie überschritten die Grenze pünktlich um fünf Uhr zentralamerikanischer Zeit, ohne auf Widerstand zu stoßen. Sie mussten sich nur der Mücken erwehren, die in grauen Wolken dem Zuge folgten. Über ihren Köpfen hingen Goldamselnester, schnatterten Papageien; flinke Eidechsen, bis zu zwei Meter lang, huschten vor ihrem Marschtritt ins Unterholz. Nicht überall gab es Wege; von Straßen ganz zu schweigen. An manchen Stellen ging es quer durch die Wildnis der Schling- und Kriechpflanzen, und der Vorhut oblag es, die fleischig verwachsenen Arme der Lianen, Orchideen, Bromeliazeen mit Macheten – schweren zweischneidigen Haumessern – passierbar zu machen.
Es war ein schwüler Morgen, die Sonne schien, der Urwald dampfte vor Feuchtigkeit. Entlang der gesamten Front fielen nicht mehr als zwei Dutzend Schüsse; sie kamen meist von denen, die ihre iberoamerikanische Freude am Knall nicht hatten zügeln können. Die Männer stammten aus Kostarika, Nikaragua, Honduras, El Salvador, Panama, Kolumbien, Venezuela und von den Antillen; einige waren guatemaltekische Emigranten, andere ausgediente Unteroffiziere, entlassene oder entlaufene Häftlinge, Abenteurer, Tramps; nur ein paar kamen aus Deutschland, Italien, den USA. Zum Glück sprachen die meisten Spanisch und konnten den Kommandos folgen. Sie trugen verwaschene khakifarbene Hemden, eng sitzende Hosen, olivgrüne Gamaschen, gummibesohlte Schuhe aus überschüssigen Armeebeständen der Vereinigten Staaten; um den linken Arm eine blaue Binde mit weißem Schwert und Querbalken. Wenn zwei der Gruppen im Dickicht Flankenberührung bekamen, riefen die Flügelmänner: „Dios y honor!“ Denn „Gott und Ehre“, das war ihr Losungswort.
Es war ein Freitag; den Abergläubischen unter ihnen behagte das nicht. Aber schon gegen Mittag erreichten sie unangefochten die befohlenen Tagesziele: im Südabschnitt den berühmten, wenngleich armseligen Wallfahrtsort Esquipulas; im mittleren Sektor die Höhe 737 auf halber Strecke zwischen der hondurenischen Ruinenstadt Copán und dem guatemaltekischen Garnisonsort Zacapa; und in der atlantischen Küstenniederung des Nordens, wo jede Marschstunde Ströme von Schweiß und zehntausend Moskitostiche kostete, sichteten sie das rechte Ufer des Rio Motagua – zwei oder drei Kolonnen fingen sogar an, Behelfsbrücken zu bauen. Im Allgemeinen aber stellte man Posten aus und ließ sich im Schatten der Sapotill- und Mahagonibäume zum Mittagsmahl nieder. Wo die Truppen in Dörfern lagerten, machten sie Jagd auf Mitglieder des guatemaltekischen Landarbeiterbundes, stellten sie an die Wand, plünderten die Häuser der Ermordeten und Geflüchteten, ließen sich von den Daheimgebliebenen Bohnensuppe kochen, als Befreier feiern und Arm in Arm mit ihnen (für die Auslandspresse) fotografieren; nach dem Essen vergewaltigten sie ein paar Indiomädchen.
Jedoch, es war zu heiß; die vom Marsch erschöpften Strauchdiebe hatten wenig Freude daran. Es gelang den Offizieren auch nicht, sie wieder auf die Beine zu bringen. Gegen vier Uhr nachmittags ging im Mittelabschnitt ein kurzer, aber verheerender tropischer Regenguss nieder; er weichte die Vormarschstraßen nach Chiquimula, Zacapa und Gualán dermaßen auf, dass der örtliche Befehlshaber beschloss, es für heute genug sein zu lassen. Seine Soldaten waren nass geworden, ihr Kampfgeist war dahin. Und da es keinen Sinn hatte, die Offensive an den Flanken fortzusetzen, wenn das Zentrum liegen blieb, kamen die Kommandeure auf dem Funkwege überein, erst am nächsten Morgen wieder anzugreifen. Zwölf Stunden nach Invasionsbeginn stand die „Befreiungsarmee“ auf breiter Front zehn bis fünfzehn Kilometer tief in Feindesland. Ihre Verluste beliefen sich auf siebzig Mann: sechs waren mit einem Proviantkarren desertiert, zehn hatten sich Blasen gelaufen, und einer hatte sich durch die Hand geschossen; zwei Dutzend waren der Hitze erlegen. Der Rest hatte sich in den Wäldern verirrt.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
Erstmals 1960 veröffentlichte Heiner Rank – damals noch unter dem Pseudonym Heiner Heindorf – im Verlag Kultur und Fortschritt Berlin, als 2. Augustheft in dessen Kleiner Jugendreihe, „Der grüne Stern. Eine Kriminalerzählung aus dem Orient“: Achmed führt seine Karawane sicher auf Schleichwegen durch die ägyptische Wüste. Sie müssen sich vor den Streifen des ägyptischen Frontier-Corps hüten, einer Spezialtruppe zur Bekämpfung des Rauschgiftschmuggels. Beinahe wären sie in der Wüste eingekreist worden, aber ihr Gewährsmann beim Frontier-Corps kann sie rechtzeitig warnen. Die Karawane verliert einige Männer und ein mit Rauschgift vollgepacktes Kamel, der Rest der Ladung kann abgeliefert werden.
Doch ihr Gewährsmann liegt verwundet im Kairoer Militärkrankenhaus. Er ist rauschgiftsüchtig und wird sicher alles tun, um das benötigte Opium zu bekommen. Achmeds Hintermänner wollen auf keinen Fall ihren Gewährsmann verlieren. Sie ahnen nicht, dass Ihnen das Frontier-Corps schon dicht auf den Fersen sitzt. Eine spannende Jagd beginnt. Aber treffen wir erstmal Achmed und seine Leute:
„1. Kapitel
Es ist Nacht. Kamele klettern in langer Reihe einen steinigen Pfad hinauf. Fast lautlos, wie große dunkle Schatten gleiten sie dahin, nur das leise Klirren des Zaumzeugs und das Knarren der ledernen Gepäckgurte dringt durch die Stille. An der Spitze der Karawane reitet Achmed. Etwa vierzigjährig ist er, groß und hager. Die schwarzen Augen im braunen Gesicht blicken kalt. Um den Mund spielt ein dünnes, verächtliches Lächeln. Am blauschwarzen Himmel glitzern unnatürlich hell die Sterne. Der Weg, der sich zwischen Felsbrocken hindurchwindet, liegt in tiefem Dunkel. Doch Achmed findet ihn mit Sicherheit. Er kennt das felsige Hochplateau zwischen dem Roten Meer und dem Niltal so genau wie die verwinkelten Gässchen seines Heimatdorfes. Und je dunkler die Nacht, um so lieber ist es ihm und seiner Truppe. Denn nicht zum ersten Mal sind sie auf diesen wenig bekannten Schleichwegen unterwegs, und oft schon hingen Leben, Erfolg und gute Belohnung nur von der tiefen Dunkelheit der Nacht, von Achmeds zuverlässiger Ortskenntnis und seinem hervorragenden Orientierungssinn ab. Scharfäugig mustert er die Felsen, deren schwarze Silhouette sich deutlich gegen den sternenübersäten Himmel abzeichnet. Seine Nasenflügel blähen sich — sogar den Geruch der Luft und der kümmerlichen, halbverdorrten Sträucher, die einigen weit verstreuten Schafherden karge Nahrung geben, scheint er zu prüfen und für die Bestimmung seines Standortes auszunutzen. Dann nickt er vor sich hin, und das verächtliche Lächeln wird für einen Augenblick selbstzufrieden . Er weiß jetzt, dass sie nur noch knappe fünfzig Kilometer von ihrem Reiseziel entfernt sind.
Am Golf von Akaba, an der Ostküste der Halbinsel Sinai, hat Achmed die Karawane übernommen und sie auf verschlungenen Wegen quer durch das felsige Hochland der Halbinsel zur Küste des Golfes von Suez geführt. Dort wurden sie bereits von Booten erwartet. In einer stürmischen Nacht wagten sie den Sprung von Asien nach Afrika. Die kleinen, wendigen Boote brauchten nur ein paar Stunden, den sechzig Kilometer breiten Golf zu überqueren.
Doch erst dann, am Ufer des afrikanischen Festlandes, begann der schwierigste Teil des Unternehmens. Es galt, in höchster Eile die Spuren zu verwischen, welche die dreißig Männer und die neunzig Kamele bei der Landung im weichen Ufersand hinterlassen hatten. Bevor die berittene Streife des ägyptischen Frontierkorps (ägyptische Spezialtruppe zur Bekämpfung des Rauschgiftschmuggels) in Sicht kam, mussten sie hinter der ersten Bergkette des Festlandes verschwunden sein. Aber selbst nach vielen Stunden, wenn das Wasser und der schneidende Küstenwind für ein gewöhnliches Auge die Spuren völlig eingeebnet haben, können die tüchtigen, aus Oberägypten stammenden Kamelreiter des Frontierkorps an einer kleinen Vertiefung, an der unnatürlichen Lage einer winzigen Muschel, an einem Stückchen Seetang, das von einem Kamelhuf über den Bereich der an den Strand rollenden Wogen hinausgetragen wurde, erkennen, dass hier eine Schmugglerkarawane gelandet ist.
Auch die Spuren von Achmeds Kamelen sind ihren geübten Blicken nicht entgangen. Sofort setzte ein gewaltiges, sich über Hunderte von Quadratkilometern erstreckendes Kesseltreiben gegen die Schmuggler ein. Aber Achmed konnte seinen Verfolgern ein Schnippchen nach dem anderen schlagen und schüttelte sie schließlich ab. In der glühenden Hitze des Tages pflegte die Karawane, gut versteckt vor möglicherweise auftauchenden Suchflugzeugen, zu rasten. Erst in den kühlen Abendstunden ergänzte sie aus geheim gehaltenen Brunnen ihren Wasservorrat und zog dann bei Nacht weiter! Zweihundert Kilometer hatte sie auf diese Weise von der Küste aus zurückgelegt.
Achmed ist mit seiner Leistung zufrieden. Er schiebt die englische Maschinenpistole, die am Knauf seines Sattels baumelt, weiter nach vorn, schlägt seinen aus kostbarer Seide gearbeiteten Kaftan zurück und holt aus der Tasche seiner Galabieh (Talarähnliches Obergewand) ein goldenes edelsteinverziertes Feuerzeug hervor. In seinem Mundwinkel klebt bereits die Zigarette. Im selben Augenblick, da er sie anzünden will, steigt zischend, wie durch den Funken des Feuerzeugs ausgelöst, von der mit Felsgeröll übersäten Seitenwand des Tales, einen gleißenden Schweif hinter sich herziehend, eine smaragdgrüne Leuchtkugel in die Luft. Sekundenlang steht sie als grüner Stern über der leblosen Felsenlandschaft und füllt mit ihrem grellen Licht jeden Winkel und jede Spalte der Talsohle. Für einen Augenblick stehen Mensch und Tier in der unerbittlichen Helle wie versteinert da. Doch als dann an den steil abfallenden Talhängen Gewehrfeuer aufblitzt und das Echo der Schüsse donnernd durch die Schlucht rollt, kommt urplötzlich Bewegung in die Überraschten. Sie reißen ihre automatischen Waffen von den Sätteln, suchen, so gut es geht, Deckung hinter ihren Reittieren oder hinter Steinbrocken und erwidern das Feuer.
Ein echter Beduine ergibt sich nicht. Er ist an ein hartes Leben voller Entbehrungen und Kämpfe gewohnt. Seit eh und je durchstreift er ungebunden das Land und ist stets bereit, seine persönliche Freiheit bis zur letzten Patrone zu verteidigen. Der mohammedanische Glaube hat ihn gelehrt, dass Tod und Leben in Allahs Hand liegen, dass Gott das Schicksal jedes einzelnen vorausbestimmt hat. Darum wäre es ganz sinnlos zu lamentieren; wenn es Allahs Wille ist, bleibt eben nichts weiter übrig, als in Ehren zu sterben.
Achmed hat sich hingeworfen. Seine scharfen Augen spähen umher. Alles hängt jetzt davon ab, wie seine Todfeinde vom Frontierkorps ihre Stellung gewählt haben. Im letzten Licht der sinkenden Leuchtkugel richtet er sich halb auf und schreit durch den Kampflärm und das schrille Blöken eines tödlich getroffenen Kamels seine Befehle. Triumph und Zuversicht klingen aus seiner Stimme, denn er hat eine Möglichkeit zur Rettung entdeckt.“
Erstmals 1981 erschien im Leipziger Prisma-Verlag Zenner und Gürchott „Meister Bertram. Ein Künstlerroman“ von Ingrid Möller: Der menschliche und künstlerische Werdegang dieses bedeutenden Malers an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit wird für den Leser eine ereignisreiche Fahrt in die Kulturgeschichte. Prunkvolle Prozessionen, Mirakelspiele auf den Märkten, Geschäftigkeit der Hansestadt Hamburg, Pilgerfahrten und Piraterie – alles prägt die Welt Meister Bertrams und die literarische Szene dieses Romans. Noch verwurzelt in der künstlerischen Tradition des gotischen Nordens, zeugen Bertrams Altarschreine bereits vom neuen, aus Italien stammenden Denken einer die eigene Kraft und den Wert des Irdischen entdeckenden Menschheit. Wir befinden uns in einem Kloster:
„1. Kapitel
„Stel — Ia Ma — ri — a ma — ris …“ Der monoton gedehnte Sprechgesang der Mönche füllt den hohen Kirchenraum wie etwas Wesenhaftes. Er schwillt an, verstärkt sich und bricht sich in den Nischen und Wölbungen und kehrt widerhallend als Echo zurück, das sich — mit der Verzögerung einer knappen Tonlänge — mit dem tatsächlichen Gesang mischt, als ob es ihn in vergeblichem Wettlauf einholen wolle. So verfremdet das Echo die menschlichen Stimmen und hebt sie gleichsam über sich selbst hinaus. Gerade, steil und unerschütterlich wie die Säulen des Chorrunds hinter ihm steht der Prior den Mönchen gegenüber. Ganz Würde, ganz Majestät, ganz Disziplin — Wahrer und Vollstrecker eines unanfechtbaren Zeremoniells.
Doch seinem scharfen, stets wachen Blick entgeht nichts, und während sein Gesicht im grellen Fackelschein etwas von der Reglosigkeit eines Raubvogels hat, arbeitet sein Hirn ohne Pause, und sein Gedächtnis vermerkt erbarmungslos:
‚Chrysostemus — der verruchte — hat wieder getrunken! Wie er nur an den Branntwein kommt? Der Sache muss nachgegangen werden. Aber schlimmer, wenn er Weiberröcken nachrennt und das ganze Kloster in Verruf bringt! … Bruder Martin! Sieh an, er trägt einen kostbaren Ring! Was soll ihm dieser Ring im Kloster! Sind wir nicht ein Bettelorden? Wofür mag er ihn eingehandelt haben? Schändliche Eitelkeit! ..‘
Das schmale Gesicht des Priors wird durch die Schlagschatten des Fackelscheins noch schmaler und fast Furcht gebietend. Plötzlich vertieft sich die Steilfalte über der Nasenwurzel, der Blick weitet sich und bohrt sich auf einen Punkt fest.
‚Wo ist Bruder Meinardus?, grübelt er, und die Frage bringt ihn fast aus der Fassung. ‚Sollte nicht einmal mehr auf ihn Verlass sein? Auf ihn, auf den ich meine ganze Hoffnung setze!‘
Unverwandt starrt der Prior auf den leeren Platz, an dem Bruder Meinardus zu sein hätte. Nichts anderes mehr beschäftigt ihn. Wie etwas von ihm selbst Abgelöstes und von seinem Willen Unabhängiges dringt seine Stimme durch den Raum: „… Ho — di — e pro — ces — sit ad or — tum …“
Er dehnt den letzten Ton aus, bis der Chor zur Wiederholung ansetzt.
Kaum verhallt die letzte Zeile des Frühen Morgengrußes im Raum, als der Prior geraden Weges auf die Zelle des Bruders Meinardus zugeht. Seine Augen flammen, seine Bewegungen sind heftig, in seinem Hirn sammeln sich niederschmetternde Worte einer Strafrede. Zu Lieblingskindern muss man doppelt streng sein! Er reißt die Tür auf, dass die handgeschmiedete Eisenangel jäh aufkreischt. „Leuchte mir!“, herrscht er den Mönch an, der als nächster herbeikommt. Denn in der Zelle ist es dunkel.
Die Pritsche ist leer! Das ist das Erste, was er feststellt. Unwillig reißt er dem Mönch die Fackel aus der Hand und ist mit drei schnellen Schritten mitten im Raum. Noch schneller sind seine Augen: Dort, ja — tatsächlich! — dort in der Ecke unter dem Bild der Madonna liegt etwas. Schwarz und unbeweglich. Der Prior richtet die Fackel darauf: kein Zweifel! Bruder Meinardus.
‚Ist er ohnmächtig? Oder etwa tot?‘ Der Prior erschrickt heftig bei dem Gedanken.
„Hol Hilfe!“ Heiser bringt er die Worte heraus.
Der Mönch rennt los, ohne Fackel, und stößt sich vor Hast an der Mauerkante.
Währenddessen leuchtet der Prior das Gesicht des Leblosen ab. Es ist gespenstisch blass. Oder belebt es sich rötlich? Nein, es ist nur der Schein der Fackel! Keine Wimper rührt sich.
Tiefer beugt sich der Prior hinab, vergisst selbst die Sorge um den untadeligen Sitz seiner Ordenstracht. Er muss Gewissheit haben. Sofort. Hastig nimmt er das Kreuz von seiner Brust und hält die glatte Unterseite vor die Lippen des Kranken. Beschlägt das blanke Metall?
Die innere Unruhe lässt den Prior im Ungewissen. Er wird misstrauisch gegenüber der Zuverlässigkeit seiner Sinne. Sieht er nicht etwa nur, was er zu sehen wünscht?
Er kniet auf den Backsteinboden nieder und tastet nach der Schlagader am Hals. Kein Zweifel, Gottlob! — das Blut pulst.
Schritte kommen auf die Tür zu. Eilig richtet sich der Prior auf, klopft den Staub von den Kleidern, rückt das Kreuz auf die Brustmitte und gibt seinem Gesicht den überlegen-unerschütterlichen Ausdruck, den die Würde des Amtes von ihm verlangt.
„Legt ihn aufs Bett, holt Decken und Felle … und schickt mir Bruder Stefan!“ Die Stimme klingt weder heiser noch belegt.
„Bruder Stefan wurde zum Bischof gebeten …“
„Dann bringt den Gärtner!“
Der Prior handelt rasch. Es darf keine Zeit verloren werden. Wo bleibt der Gärtner!
Verschlafen tritt er ein, sichtlich bemüht, zu begreifen, was hier vorgeht und was man von ihm will. Seine Augen wandern fragend von einem zum andern, bis er den totenbleichen Meinardus auf der Pritsche entdeckt. Ein Unfall?
Ein Gärtner hat nichts zu fragen. Er muss warten, bis ihm erklärt wird, was er wissen soll. Jetzt, der Prior selbst wendet sich ihm zu!
„Du kennst dich aus in der Heilkraft der Kräuter. Schaff etwas herbei, dass Bruder Meinardus ins Leben zurückkehrt, und sorge für einen Sud, der ihn wärmt und stärkt!“
Der Gärtner erschrickt. Was weiß denn er schon von der Heilkraft der Kräuter! Welche Verantwortung wird ihm da auferlegt! Er ist ein einfacher Mann, der sät und erntet, was das Kloster braucht, mehr nicht! Doch er weiß: Widerspruch wäre fehl am Platze, selbst Zögern. Und so versucht er keinen Einwand. Unschlüssig läuft er hinaus, kehrt verwirrt im stockfinsteren Kreuzgang wieder um, sucht sich ein Windlicht, läuft den Weg zurück und bedenkt jetzt erst, was ihm da zugemutet wird. Bei Dunkelheit soll er auf den Kräuterboden! Ihn graust. Hätte nicht der Prior selbst den Auftrag gegeben, keine zehn Pferde könnten ihn dorthin zerren! Jeder im Kloster weiß, dass es auf diesem Dachboden nicht geheuer ist, dass es hier nachts tobt und springt und trampelt und jault! Dass Geister herumhuschen und einen mit den Flügeln streifen, mit Flügeln, die weich sind wie Flaum, und ganz ohne Geräusch.
Der Gärtner bekommt eine Gänsehaut. Zu jedem Schritt auf der ausgetretenen Wendeltreppe muss er sich zwingen und Mut zureden. Schließlich erreicht er die schwankenden Bretter des Bodens. Leuchten nicht Phosphoraugen aus dem Winkel? Huscht nicht etwas hinter dem Balken?
Der Gärtner kneift die Augen vor dem grellen Licht der Windleuchte zusammen und starrt auf die Kräuterbündel, die aufgereiht an einer Schnur unter der Decke hängen. Hätte er sie nicht selbst gesammelt oder im Klostergarten gezogen, wie sollte er sie auseinanderhalten? Welches Bündel ist richtig und hilft? Das da müsste Thymian sein — ein Gewürz also — das da Baldrian, das Kamille, Minze … Blinzelnd kneift er die Augen zu einem engen Spalt zusammen. Und auf dem Boden, auf Laken ausgebreitet, Lindenblüten und Fliedertee …
„Ach was“, murmelt er halblaut, „nehm ich einfach Fliedertee. Schaden kann er nicht, und was wirklich hilft, weiß allein Gott.“ Erlöst über seinen schnellen Entschluss, rafft er zwei Hände voll in die Schürze und läuft behände die Schneckenstufen hinab, in den Knien federnd und krummbeinig. Das Windlicht hält er ein Stückchen vorweg, man könnte sonst fehltreten, weil keine Stufe der anderen gleich ist.
Unten wird er mit Unmut empfangen, das Wasser kocht längst.“
Erstmals 1995 erschien im Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek „Bleib cool, Franzi. Krimi für Kinder, Eltern und Großeltern“ von Klaus Möckel: Franzi traut ihren Augen nicht. Beim Baden in einem See nahe Berlins beobachtet sie, wie ein Schwimmer von einem Motorboot überrollt wird. Ist er verletzt oder gar tot? Der Fahrer jedenfalls schert sich nicht um ihn, braust einfach davon.
Der Verunglückte könnte ein Obdachloser aus dem Dorf sein, denn der ist seit dem Unfall verschwunden. Franzi kannte ihn, sie hat manchmal seinem Mundharmonikaspiel gelauscht. Gemeinsam mit einer Freundin stellt sie Nachforschungen an, die zu kritischen Situationen führen. Als der Bootsführer bemerkt, dass ihm die Mädchen auf der Spur sind, zeigt er seine ganze Gefährlichkeit.
Eine Geschichte voller Abenteuer, die in der Rotfuchs-Reihe bei Rowohlt veröffentlicht wurde. Noch aber ist das Unglück nicht geschehen. Und Fanzi ist noch im Wasser:
„1. Kapitel
Franzi beginnt zu frieren, Franzi bibbert schon ein bisschen, Franzi hat blaue Lippen.
Das ist kein Wunder, sie war viel zu lange im Wasser. Nach einer endlosen Schulwoche in Berlin ist sie hier draußen vom Grundstück aus gleich zum See gerannt, hat sich in die Fluten gestürzt. Trotz des kühlen Wetters und obgleich sie die Einzige an der Badestelle war.
Sie ist weit hinausgeschwommen, hat gepaddelt, geplanscht, sich auf dem Rücken treiben lassen.
Sie hat alles gemacht, was man allein im Wasser anstellen kann, und sich dabei pudelwohl gefühlt.
Eine Stimmung, die jetzt noch anhält, obwohl Franzi merkt, dass es nun genug ist. Deshalb gleitet sie von der Rücken- in die Brustlage, schiebt eine großblättrige Pflanze zur Seite, die ihr an den Bauch glitscht, und erreicht mit ein paar Armzügen Ufernähe. Wenn sie auch nicht so ein Superstar ist wie ihre Namensvetterin, Franziska van Almsick – schwimmen kann sie für ihre elf Jahre ausgezeichnet.
Links auf schlammigem Boden Schilf, rechts am Grund der Badestelle aber weißer, körniger Sand. Ein Strand, wie man ihn sonst nur am Meer, an der Ost- oder Nordsee, findet. Franzi watet an Land, wo ihre Sachen liegen, streift den Badeanzug ab und rubbelt sich trocken. Wohlige Wärme durchzieht ihren ganzen Körper, als sie in die Latzhose und den Pulli schlüpft. Sie bindet ihre weiße Plastikuhr um und stellt fest, dass es gleich eins ist. Höchste Zeit, zurück zum Häuschen zu laufen, wo die Mutter bestimmt schon mit einem Imbiss wartet.
Vielleicht liegt es an dem kalten Wind, der die Bäume zaust, an den Wolken vor der Sonne, vielleicht auch an der Mittagsstunde, jedenfalls ist Franzi nach wie vor allein. Kein Mensch auf der Wiese oder auf einem der Stege, kein Boot auf dem Wasser. Kein Segler, kein Surfer, niemand. Es stört sie nicht, aber sie ist ein wenig verwundert. Nun ja, morgen, am Sonnabend, ist bestimmt wieder mehr Betrieb.
Ein Reiher zieht mit schwerem Flügelschlag über den See, ihm gefällt die Ruhe natürlich. Franzi verfolgt seinen Flug, und da, ein ganzes Stück entfernt, entdeckt sie doch noch jemanden. Einen Schwimmer, der auf die Schlangeninsel zukrault. Ja, sie weiß sogar, um wen es sich handelt. Zwar sieht sie nur den Hinterkopf des Mannes, seine Arme, die er im Wechsel nach vorn führt, doch sie erkennt ihn an seinen unbeholfenen, ruckartigen Bewegungen. Kein Zweifel, das ist Kilian, der Mundharmonikaspieler aus dem Dorf.
„Kilian!“, ruft Franzi, denn sie freut sich echt. Ein Gefühl der Verbundenheit zwischen Leuten, die bei solchem Wetter den Mut haben, ins kühle Nass zu tauchen. Sie versucht, dem Schwimmer zuzuwinken. Er bemerkt sie aber nicht, und sie lässt es auch gleich wieder sein. Ihr fällt nämlich ein, dass die Eltern es gar nicht gern haben, wenn sie mit Kilian spricht. Der Grund: Er ist ein Obdachloser, vor ein paar Monaten erst in der Gegend aufgetaucht und in einer Scheune untergekommen, die früher der LPG gehörte, der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Die Leute im Dorf dulden ihn, mögen ihn im Grunde aber genauso wenig wie die in der Bungalowsiedlung, wo das Wochenendhaus von Franzis Eltern steht. Sie haben Angst, dass er irgendwo einbrechen und dann im Suff die Bude anzünden könnte. Vielleicht auch, dass er durch sein Beispiel andere „Assis“ anlockt. Die Mutter befürchtet sogar, dass er Franzi etwas antut. Sie hat ihr streng verboten, sich mit ihm abzugeben.
Dabei ist Kilian die Freundlichkeit in Person und besser als so mancher mit einer großen Villa, findet Franzi. Es stimmt zwar, dass er immer mal die Schnapsflasche beim Wickel hat, aber er stiehlt bestimmt nichts außer ein paar Kartoffeln vom Feld und tut keinem Menschen etwas zuleide. Ein paar Mal hat Franzi sich schon mit ihm unterhalten oder mit anderen Kindern neben ihm auf der Treppe vom Heimatmuseum gesessen. Dort hat er seinen Stammplatz, döst vor sich hin oder spielt seine Lieder. Die Besucher des Museums werfen ihm hin und wieder eine Münze in die Mütze, und er bedankt sich mit einem Kopfnicken. Den Kindern aber erzählt er sonderbare Geschichten. Zum Beispiel, dass er in einem früheren Leben ein indischer Maharadscha war oder ein Löwenbändiger.
Inzwischen hat Kilian fast die Spitze der Insel erreicht, die, mit Büschen und Bäumen bewachsen, mitten im See liegt. Näher zum gegenüberliegenden Ufer allerdings als zum diesseitigen. Er hat aber wohl nicht vor, an Land zu gehen, denn er hält einen Augenblick inne und kehrt dann in einem Bogen um. Franzi, die ihm lange genug zugeschaut hat, bückt sich nach ihren Badesachen. Doch gerade als sie losrennen will, passiert es.
Alles geht so schnell und überraschend, dass sie noch nicht einmal einen Schrei ausstößt. Sie hört vom See her ein Brummen, das plötzlich zum Geheul anschwillt, und sieht ein Motorboot hinter der Insel hervorschießen. Rot und weiß lackiert, einer der kleinen Flitzer, die über die Wellen springen, eine scharfe Furche ins Wasser schneiden. Der Himmel ist grau, weißer Gischt schäumt auf, und das Boot saust, ohne die Geschwindigkeit zu vermindern, geradewegs auf Kilian zu. Der überfährt ihn noch, denkt Franzi erschrocken.
Der Bootsführer scheint den einsamen Schwimmer tatsächlich nicht zu sehen, und Kilian, der zunächst suchend zum Ufer blickt, erkennt die Gefahr erst, als es zu spät ist. Jäh wendet er sich um, hebt einen Arm und schreit etwas. Dann wirft er sich zur Seite, doch da ist das Boot schon bei ihm. Vielleicht hat der Mann am Steuer, ein kräftiger Kerl mit Mütze, ihn in letzter Sekunde bemerkt, wollte ausweichen und überrollt ihn gerade deshalb. Täuscht sich Franzi, oder hat sie ein dumpfes Krachen gehört, einen Aufprall? Ein Wasserwirbel, der Motor des Flitzers stottert und spuckt. Plötzlich jedoch heult er erneut auf, und das Boot zieht in einer Schleife davon.
Von Kilian ist nichts mehr auszumachen, Franzi, die jetzt richtig entsetzt ist, sieht, dass der Bootsführer zu der Stelle zurückschaut, wo der Zusammenprall stattgefunden hat. Für einen Moment glaubt sie, dass er umkehren wird. Doch nein, der Flitzer rast weiter und verschwindet wieder hinter der Insel. Erneut starrt das Mädchen zum Unglücksort. Die Bugwelle des Bootes hat sich verlaufen, und nur noch der Wind peitscht das Wasser.
Es ist wie in einem Traum, in dem man etwas Schreckliches beobachtet und kurz danach zweifeln muss, ob es wirklich stattgefunden hat. Treibt dort ein Körper, oder ist es bloß das Wellenspiel, das irgendwelche Schatten erzeugt? Kilians Kopf ist nicht mehr zu sehen, ebenso wenig die Schultern, die Arme, das ist eindeutig. Ich muss ihm helfen, denkt Franzi und weiß sofort, dass es unmöglich ist. Die Entfernung ist viel zu groß, selbst wenn sie hinschwimmen würde, sie könnte nichts tun. Wahrscheinlich ist Kilian betäubt oder schon tot, sonst würde er auftauchen und um Hilfe rufen. Verstört hält sie nochmals nach allen Seiten Ausschau, doch kein weiteres Boot ist in der Nähe.
Da rennt sie endlich los, den Weg entlang, der zur Bungalowsiedlung führt.“
Erstmals 1980 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Til und der Körnerdieb“ von Barbara Kühl: Til und die beiden Zwillinge Wiesel und Locke werden von einem aufziehenden Gewitter überrascht und flüchten sich in eine nahe Scheune. Dann aber kommt noch jemand in die Scheune und stiehlt Futterweizen. Als einziger weiß Til sofort, wer dieser Körnerdieb ist. Was soll er tun? Wie soll er sich verhalten?
Die Angelegenheit wird viel unangenehmer als schon gedacht, denn seine Freunde wollen den Körnerdieb aus der Scheune unbedingt überführen und anzeigen. Aber was bedeutet das für Til? Als er sich allein keinen Rat mehr weiß, offenbar er sich seinem Freund Stotter-Paule, dem etwas verrückten Gespannführer, den kaum einer so richtig ernst nimmt. Für viele ist er einfach nur ein Spinner. Aber gerade von Stotter-Paule bekommt Til den einzig richtigen Ratschlag. Doch den zu erfüllen erweist sich auf verschiedene Art schwieriger als gedacht.
Zwei Jahre nach seinem Erscheinen wurde „Til und der Körnerdieb“ von der DEFA in der Regie von Dietmar Hochmuth unter dem Titel „Mein Vater ist ein Dieb“ verfilmt. Hier aber erstmal der Anfang des spannenden Kinderbuches, das zu einer Zeit spielt, als es auf dem Lande noch Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPGs) gab:
„1. Kapitel
Der Sommer war in diesem Jahr ungewöhnlich heiß und trocken. Bereits am Vormittag lag über dem Dorf Beesel brütende Julihitze. Und immer, wenn ein Traktor einen der Feldwege entlangratterte, wirbelte er graue Staubwolken hoch.
Til stand auf dem Holzgatter, das die hintere Hofdurchfahrt zwischen Schuppen und dem ehemaligen Kuhstall verschloss. Er benutzte seine Hände wie ein Fernglas. Einzelne Gehöfte, ein Stück Straße, wieder ein paar Häuser und den Weg zum kleinen See konnte er erkennen. Dahinter lagen die bis zu den Seetannen ansteigenden Koppeln, auf denen die Kühe wie schwarzweiße Kleckse aussahen. Vor dem großen See, in dem das Baden verboten, das Angeln aber erlaubt war, fraßen Mähhäcksler wie riesige Raupen Streifen in das Grünfutterfeld.
„Kein einziger Halm und nicht ein Blättchen Viehfutter bleibt mir auf dem Feld!“, hatte der LPG-Vorsitzende Ernst Tümmler den Traktoristen eingeschärft. „Stellt die Schneidwerke so tief wie möglich, es wird schon keins zerschlagen werden. Die Steine habt ihr ja im Frühjahr vom Acker gesammelt und dabei tüchtig auf mich geflucht. Gibt es vielleicht bei uns was zu verschenken, he?“
„Nein, nein, natürlich nicht!“, stimmten die Beeseler Bauern ihrem Vorsitzenden zu.
Doch warum musste erst ein Ernst Tümmler kommen, um ihnen so Selbstverständliches zu sagen? Kein Wunder, dass die LPG „Freie Scholle“ die Jahre zuvor ihr Fleischsoll nur knapp oder gar nicht erfüllen konnte, weil die Traktoristen die hohen Grünstoppeln mit unterpflügten. Je mehr Futter die LPG aus anderen Betrieben kaufen musste, um so weniger konnte sie ihren Mitgliedern am Jahresende als Prämie auszahlen.
Til Burmeister erinnerte sich noch genau an die große Enttäuschung vor vier Jahren zum Schulanfang. Er hatte sich ein Fahrrad gewünscht und keins bekommen. Die neue Liege in seinem Zimmer gefiel ihm zwar auch ganz gut, aber mit der konnte er schließlich nicht durchs Dorf fahren. Sein Vater war damals mit ihm in den Schweinestall gegangen, hatte ihn hochgehoben und auf eins der drei Schweine gezeigt.
„Da liegt dein Fahrrad, mein Junge, aber bis Weihnachten musst du noch warten.“
Sein Vater hatte Wort gehalten. Til wurde ungeduldig und ließ die Hände sinken. Wo die Zwillinge nur blieben? Locke hatte fest versprochen, ihm beim Einbau der neuen Gangschaltung zu helfen, weil der Vater Til jetzt immer wieder vertröstete. Das hatte er im vergangenen Sommer nie getan. An warmen Abenden waren sie oft zum kleinen See geradelt, um zu baden. Sogar Schwimmen hatte Hanning Burmeister seinem Sohn vor fünf Jahren selbst beigebracht.
„Bis zu mir!“, hatte der Vater, der im Tiefen stand, gerufen. „Komm, du schaffst das schon!“
Til sah nur seinen Vater und paddelte mit hastigen Bewegungen auf ihn zu.
„Prima!“, lobte der Vater, wenn Til ihn erreichte und sich an ihm festklammerte. „So, und nun noch einmal!“
Schon nach wenigen Tagen schwamm Til ruhiger, atmete richtig, und die Abstände zwischen Ufer und dem rufenden Vater wurden immer größer. Til verspürte keine Angst, sein Vadding war ja da. Später schwammen sie dann nebeneinanderher, und im letzten Sommer hatten sie zum ersten Mal die kleine Schilfinsel in der Mitte des Sees umrundet. Til platzte fast vor Stolz.
Locke und Wiesel bewunderten und beneideten Til darum. Ihr Vater, an der Ostsee aufgewachsen, ging nur ungern zum See und entfernte sich im Wasser nur wenige Meter vom Ufer.
„Wisst ihr was?“, sagte Til eines Tages großspurig zu seinen Freunden. „Mein Vater wird auch euch das Schwimmen beibringen. Bei dem braucht ihr keine Angst zu haben.“
„Klar mach ich das, wenn du mir deine beiden Tober anvertraust, aber gehorchen müssen sie, sonst wird nichts daraus“, sagte Hanning Burmeister zu seinem Freund Ernst Tümmler. Nun fuhren sie oft zu viert an den See.
„Dein Vater ist Klasse!“, sagte Locke anerkennend. „Soviel Geduld hätte mein Vater nie!“ Auch Wiesel strahlte ihren Freund an.
„Och…“, wehrte Til lässig ab, dachte aber stolz: Ist eben mein Vadding!
Doch in diesen Ferien war das anders. Noch nicht ein einziges Mal ist Hanning Burmeister mit am See gewesen. Seit die Sonne den Frost aus dem Boden getrieben hat, packte Tils Vater jeden Tag nach Feierabend Maurerkelle und Wasserwaage in den Rucksack. Bandelows, die in der strohgedeckten Lehmkate neben der Schmiede wohnten, bauten sich ein Haus. Der rothaarige Bruno Bandelow prahlte gern damit. Er und seine vier kleineren Geschwister sollten jeder ein Zimmer kriegen! Die Oma sogar eins extra, damit sie endlich den Fernseher so laut stellen konnte, wie sie wollte. Und das neue Spülklosett eine Attraktion!
Til sprang vom Gatter und ging zurück zum Schuppen. Eine richtige kleine Werkstatt hatte sich sein Vater hier so nach und nach eingerichtet, mit Werkbank und Schraubstock. In dem Holzregal auf der einen Seite lagen der Größe nach Schraubenzieher, Schraubenschlüssel, Zangen und Feilen, und ein Sortiment an Nägeln und Schrauben, Muttern und Metallscheiben befand sich in Holzkästen mit verschieden großen Fächern. Ja, der Futter- und Speichermeister Hanning Burmeister war ein ordentlicher Mensch. Ganz fuchtig konnte er werden, wenn Til ein Werkzeug nicht wieder an seinen Platz legte.
Trotzdem gab Til dem Schraubenschlüssel einen Fußtritt. Ärgerlich betrachtete er sein Fahrrad, das umgedreht auf Lenker und Sattel stand. Wenn Locke nicht kam, musste er es eben allein versuchen. Er arbeitete verbissen und war sich plötzlich sicher: Ich schaffe es. Leise pfiff er vor sich hin immer die gleiche Melodie von „Lütt Matten, de Has, de makt sick een Spaß…“
Das Hinterrad war eingesetzt, die Kette lief über den größten Zahnkranz. Til fasste nach dem Pedal, drehte schnell und schneller. Dann bückte er sich nach dem Ganghebel und schaltete. Es knackte, die Kette sprang ab und schlug gegen den Rahmen.
Vielleicht habe ich den Hebel zu schnell angezogen, dachte er und legte erneut die Kette auf. Wieder ließ er das Hinterrad schnurren, und wieder sprang die Kette ab. Doch diesmal verklemmte sie sich zwischen Zahnkranz und Rahmen. Til zog und zerrte, griff mit dem Schraubenzieher darunter. Es nützte nichts, die Kette saß fest.
„Oller Mist!“ Er schleuderte den Schraubenzieher durch den Schuppen und traf die klapprige Drillmaschine, mit der sein Großvater noch als Neubauer über den Acker gezogen war. Dann schlenderte er über den Hof, schwang sich über das Gatter und ging den sandigen Weg durch das Dorf.“
Zu diesem Zeitpunkt steht dem zehnjährigen allerdings noch einiges bevor, darunter eine für ihn schlimme Beobachtung, die mit seinem geliebten Vadding zu tun, Streit mit den beiden befreundeten Zwillingen und ein wichtiges Gespräch mit Gespannführer Stotter-Paule, der ihn als einziger zu verstehen scheint.
Viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen schönen Sommer und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
Ach, und falls Sie sich mal ein Werk des Meister Bertram anschauen und es bewundern wollen, dann schnappen Sie sich zum Beispiel ihr noch bis Monatsende gültiges 9-Euro-Ticket und fahren Sie mit der Bahn nach Hamburg. In der Hamburger Kunsthalle, die gleich hinter dem Hauptbahnhof liegt, werden Sie fündig …
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