Das Projekt „Informatics for Life“ liegt vielen Menschen im wahrsten Sinne des Wortes am Herzen. Nicht nur Professor Hugo A. Katus, dem langjährigen medizinischen Direktor der Kardiologie des Universitätsklinikums Heidelberg und jetzigen Koordinator des Projekts, sondern auch der Klaus Tschira Stiftung, die es von Beginn an fördert. Es geht dabei um nicht weniger als den Brückenbau von der angewandten und derzeit üblichen Medizin hin zur digitalen Medizin und zum maschinellen Lernen und zurück in die Klinik. Und dabei steht stets das Wohl der Patientinnen und Patienten im Mittelpunkt aller Anstrengungen. Denn Krankheiten des Herz-Kreislaufsystems sind noch immer die Todesursache Nummer eins auf der Welt. Allein in Europa sterben 5.000 Menschen pro Tag daran.

„Informatics for Life“, also Informatik für das Leben, das klingt schon mal gut. Aber worum geht es dabei genau?

Katus: Es handelt sich dabei um ein Schlüsselprojekt für die Kardiologie der Zukunft. Erstens haben wir viele Herausforderungen in der Herzmedizin, die ungelöst sind: Die Herzerkrankungen verursachen nicht nur die meisten Todesfälle weltweit, sondern sind auch dafür verantwortlich, dass viele Menschen mit chronischen Krankheiten leben müssen und wir häufig keine optimalen Therapien für sie haben. Zweitens beobachten wir enorme Fortschritte sowohl in den Computerwissenschaften als auch der Datenverarbeitung und damit entstehen neue Möglichkeiten in den digitalen Technologien. Und drittens sehen wir, und das hat uns vor allem motiviert, die Chance, wie wir bisher getrennte Welten zusammenführen können.

Was verstehen Sie unter getrennten Welten?

Katus: Das bedeutet: Expertinnen und Experten in Informatik, Mathematik oder Modellierung sitzen in ihrem wissenschaftlichen Institut oder in der Industrie, haben aber keinen direkten Bezug zu Patienten und sehen deshalb nicht die emotionale Belastung, die eine solche Erkrankung erzeugt. Sie haben nicht diese innere Unruhe, die wir auf der klinischen Seite haben, wenn wir solch einen kranken Menschen sehen und nicht helfen können. Und wir Ärzte wiederum haben keinen ausreichenden Zugang in die Welt der Modellierer und Mathematiker.

Also ist dieses Projekt in erster Linie ein Brückenbau?

Katus: Genau. Entscheidend beim „Informatics for Life“-Konzept ist, dass im Projektteam immer Experten aus den Naturwissenschaften, der Mathematik und der Informatik mit klinisch tätigen Ärztinnen und Ärzten zusammenarbeiten. Nur so können wir an klinischen Problemen arbeiten, die von einer digitalen Lösung profitieren oder deren Anwendung sogar zwingend erforderlich machen. Dieser problembezogene Wissensaustausch fasziniert mich, weil durch die Zusammenführung der verschiedenen Welten wir schon jetzt eine ganze Menge verstanden haben und neue Ansätze in Forschung und Entwicklung entstanden sind. Dieses strukturierte Herangehen ist bislang noch weltweit einzigartig in der Herzmedizin. Wir sind unglaublich dankbar, dass die Klaus Tschira Stiftung uns ermöglicht, genau diese Brücke schlagen zu können.

Es klingt so, als sei auch für Sie selbst mit dem Projekt ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen.

Katus: Das ist tatsächlich so. Unsere Grundüberzeugung war schon immer, dass wir Innovation so umsetzen müssen, dass es den Menschen nützt. Digitale Transformation hat so viele Chancen und die Medizin war so weit weg davon, dieses Potenzial ausreichend zu nutzen. Da bietet „Informatics for Life“ einfach wunderbare Möglichkeiten.

Gibt es ein Beispiel, an dem Sie mir deutlich machen könnten, was ich heute als Herzpatientin schon davon hätte?

Katus: Da gibt es beispielsweise das ärztliche Training mit virtueller Realität, in dem eine Operation an der Herzklappe simuliert wird. Das Phantommodell, an dem geübt wird, ist unglaublich nahe dran an der Wirklichkeit und schult damit die Fertigkeiten der Operateure. Ein anderes Beispiel ist die Bildgebung des Herzens. Für uns ist es zur Beurteilung der Kraft des Herzens immer sehr wichtig, unter wie viel Spannung das Herz steht. Wir nützen beispielsweise die Magnetresonanztomographie (MRT), weil wir damit viel über die Struktur und die Bewegung des Herzens erfahren, aber wir können mit dem MRT nicht den Druck in der Herzkammer bestimmen. Da hilft uns jetzt ein Computerprogramm, das Daten aus mehreren Tausend Katheter-Messungen in die MRT-Datenbasis einspeist. So können wir nun mit Hilfe Künstlicher Intelligenz abschätzen, wie die Wandspannung in der Herzkammer ist; was uns wiederum hilft, die richtige Behandlungsstrategie zu finden und besser das Risiko für den Patienten einzuschätzen.

Wie kam es denn überhaupt zu der Idee von „Informatics for Life“?

Katus: Daran war noch Klaus Tschira selbst beteiligt. Für ihn waren, wie Sie wissen, schon immer Naturwissenschaften, Mathematik und Informatik vor allem förderwürdig. Den Zugang zur Medizin hatte er zunächst weniger. In vielen Gesprächen konnte ich ihm jedoch vermitteln, welches Potential die digitale Biomedizin in sich birgt.

Und heute arbeiten Sie sogar mit dem Heidelberger Institut für Theoretische Studien (HITS) zusammen, dessen Arbeit indirekt ja auch von der Stiftung ermöglicht wird?

Katus: Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist ein integraler Bestandteil von „Informatics for Life“. Integral heißt, dass wir am Campus versuchen, alle Kompetenz zu integrieren, die sich mit Naturwissenschaft, Informatik und Medizin befasst. Dabei geht es beispielsweise auch um Computersimulationen, die am HITS erstellt werden und zeigen, wie neue therapeutische Substanzen auf das Herz wirken können.

Sie sagen, die Zukunft der Medizin ist die Datenmedizin. Was heißt das?

Katus: Die Zukunft der Medizin wird durch die Digitalisierung maßgeblich beeinflusst werden. Wenn wir bisher wissenschaftlich arbeiteten, stellten wir eine Hypothese auf. Von dieser ausgehend versuchten wir dann, das biologische Phänomen zu verstehen. Wenn man aber beispielsweise die klinischen Daten von hunderttausend Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation in den Computer eingibt und durch künstliche Intelligenz untersucht, welche Variablen die Gefahr eines Nierenversagens erkennen lassen, dann kommt man zu ganz neuen Parametern, die wir durch unsere bisherige hypothesengetriebene Vorstellung von Krankheitsprozessen nicht erfassen konnten. Dafür benötigen wir Künstliche Intelligenz und enorme Rechenkapazität.

Wie viele Menschen stehen denn hinter „Informatics for Life“?

Katus: Gestartet sind wir mit acht Forschungsgruppen. Zwischenzeitlich sind es elf leitende Forschende, die Gruppen mit insgesamt mehr als 40 beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern betreuen. Und wir werden beständig mehr. Das wirklich Schöne ist darüber hinaus, dass wir unsere Erkenntnisse gleich an die Studierenden weitergeben können. Die sind bereits in einer digitalen Welt aufgewachsen, da können wir mit unseren Ansätzen viel Begeisterung wecken. Das ist wichtig, denn die digitale Transformation in der Medizin erfordert nicht nur die technischen Voraussetzungen, sondern auch die Menschen, die sie anwenden können und wollen.

Herz- und Kreislauferkrankungen sind immer noch Todesursache Nummer eins. Warum ist das so?

Katus: Die Herz-Kreislauferkrankungen führen in Deutschland seit Jahrzehnten die Mortalitätsstatistiken an. Eine Fehleinschätzung vieler ist, dass vor allem ältere Menschen an diesen Erkrankungen versterben. Diese Sichtweise ist nicht korrekt, denn 20 Prozent aller Menschen sterben am Herzen schon vor dem 65. Lebensjahr. Es sterben drei Mal so viele Frauen am Herzinfarkt als an Brustkrebs. Darüber spricht kaum jemand.

Herzerkrankungen werden häufig als Folge eines ungesunden Lebensstils angesehen. So, als wären die Leute selbst an ihrer Krankheit schuld. Das ist nicht richtig, denn viele Herzerkrankungen sind nicht vermeidbar. Natürlich ist die Vermeidung von Risikofaktoren trotzdem wichtig, denn mangelnde Bewegung oder falsche Ernährung begünstigen, dass Herz-Kreislauf- wie auch Krebserkrankungen früher ausbrechen. Was oft auch nicht verstanden wird, ist, wie sehr Herzerkrankungen die Lebensqualität einschränken. Letztlich mögen wir Herzmediziner selbst mitverantwortlich sein, dass die Herz-Kreislauferkrankungen nicht die Aufmerksamkeit erfahren, die notwendig wäre. Wir vermitteln oft, dass wir alles im Griff hätten. Wir setzen einen Stent, und dann fließt das Blut wieder durch die nun beseitigte Engstelle, oder wir ersetzen ohne Operation eine Herzklappe. Und das stimmt ja auch alles irgendwie, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Denn mit der momentanen Symptombeseitigung ist die Krankheit ja nicht weg.

Sagen Sie deshalb, dass Herzerkrankungen therapierbar, aber nicht heilbar sind?

Katus: Wenn Sie heute einen Herzinfarkt haben, dann werden sie gut behandelt und das verschlossene Gefäß durch einen Stent wieder geöffnet. Dadurch konnte die Sterblichkeit im Herzinfarkt um 50 Prozent gesenkt werden. Aber die Krankheit in den Gefäßen, die Atherosklerose, die zum Infarkt geführt hat, wird trotzdem nicht behoben, sondern schreitet in der Regel fort. Das Gleiche gilt für die Herzschwäche oder Rhythmusstörungen: Wir können diese Krankheiten therapieren, aber ganz selten heilen. Auch die Hälfte der Menschen, die an Krebs leiden oder vom Krebs geheilt sind, sterben am Herzen, weil die Tumortherapien so viele Nebenwirkungen und langfristige Folgen für das Herz haben können. Das zeigt, dass wir umfassender denken müssen. Das Herz ist eng mit dem Leben verknüpft und seine Erkrankungen beeinflussen alle Organe des Körpers und seine Funktionen. Auch um solche Zusammenhänge zu verstehen, haben wir „Informatics for Life“ gegründet.

Wenn es weiterhin so gut läuft mit dem Projekt – was haben wir dann in ein paar Jahren?

Katus: Dann haben wir folgendes: eine hochmoderne Herzmedizin 4.0, in der alle Möglichkeiten des Datentransfers vorhanden sind zum Nutzen der Patienten und des Personals. Wir haben mit dem Herzzentrum integriert ein Institut für die Digitalisierung der Medizin, in der Expertise aus Mathematik, Modellierung, Informatik, Biologie zusammengeführt wird und die auf den kranken Menschen fokussiert ist. Wir haben ein kontinuierliches Monitoring der Herzfunktion und eine enge Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten sowie ihren Angehörigen. Dies erlaubt eine lebenslange Unterstützung und eine frühzeitige Erkennung von Risiken durch die verbesserte Datengewinnung über digitale Hilfsmittel. Wir werden dann ganz neue Diagnoseverfahren zur Verfügung haben und können neue Therapien anwenden, die aus der Anwendung digitaler Technologien und künstlicher Intelligenz entstanden sind.

Und Heidelberg hätte einen Spitzenplatz?

Katus: Wir sind heute schon an der Spitze in Europa, und bei der Newsweek Evaluation der besten kardiologischen Zentren weltweit waren wir in den letzten beiden Jahren unter den ersten Zehn. Wir brauchen uns also nicht zu verstecken, aber die Dynamik in der Herzmedizin und der digitalen Transformation ist enorm. Deshalb müssen wir innovative Strukturen schaffen, um den Wissensvorsprung zu sichern und eine Herzmedizin der Zukunft zu ermöglichen. Heidelberg kann und soll ein nationales Zentrum für Künstliche Intelligenz in der Biomedizin werden. Das Potential dazu haben wir und wir wollen der Schrittmacher sein.

Über Klaus Tschira Stiftung gGmbH

Die Klaus Tschira Stiftung (KTS) fördert Naturwissenschaften, Mathematik und Informatik und möchte zur Wertschätzung dieser Fächer beitragen. Sie wurde 1995 von dem Physiker und SAP-Mitgründer Klaus Tschira (1940-2015) mit privaten Mitteln ins Leben gerufen. Ihre drei Förderschwerpunkte sind: Bildung, Forschung und Wissenschaftskommunikation. Das bundesweite Engagement beginnt im Kindergarten und setzt sich in Schulen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen fort. Die Stiftung setzt sich für den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ein.

Weitere Informationen unter: www.klaus-tschira-stiftung.de

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