Wie steht es um die gemeinsamen Werte und Perspektiven innerhalb der Mitgliedsstaaten der EU? Treiben wirtschaftliche Krisen, nationale Alleingänge, die COVID-19 Pandemie und nicht zuletzt die Sorge um unsere Sicherheit die Menschen weiter auseinander? Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat zur Beantwortung dieser Fragen eine repräsentative Umfrage aus der Mitte der Gesellschaft in 12 EU-Mitgliedstaaten durchgeführt – mit teilweise überraschenden Ergebnissen, auch aus Deutschland.

Unter dem Titel „Ansichten und Aussichten zur EU aus der bürgerlichen Mitte Europas“ hat die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) 18.000 Menschen in Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien, Litauen, den Niederlanden, Polen, Spanien, Schweden und Ungarn befragt, welche Erwartungen sie an die europäische Integration haben.

Nach einem Jahrzehnt aufeinanderfolgender Krisen, sind die bereits vorhandenen Spaltungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten durch die COVID-19 Pandemie noch deutlicher zutage getreten. Noch wichtiger und dringlicher ist nun, dass der Einmarsch Russlands in der Ukraine den Krieg zurück nach Europa gebracht hat. In dieser Zeit des Wandels bietet die Konferenz zur Zukunft Europas den europäischen politischen Familien und Entscheidungsträgern die Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie die Bürgerinnen und Bürger die EU sehen und was sie von ihren gewählten Vertretern erwarten.

Insgesamt zeigt die Studie, die in Kooperation mit dem Egmont Institut und ifok erstellt und vor der Invasion der Ukraine abgeschlossen wurde, dass die Menschen aus der bürgerlichen Mitte Europas geschlossener sind, als man erwarten würde. Trotz jahrelanger Krisen sind keine größeren Gräben zwischen den Bürgerinnen und Bürgern innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten festzustellen. 70 Prozent der Befragten sehen sich als Europäer und haben ein eher positives Bild von der EU. Auch wenn sie sich in ihrer individuellen Wahrnehmung oft als unterschiedlich erleben, sind die Erwartungen an die zukünftige Entwicklung Europas über Landesgrenzen hinweg erstaunlich geschlossen. Bürgerinnen und Bürger wünschen ein aktives und effizientes Europa, das mehr Verantwortung übernimmt für die drängenden Fragen unserer Zeit, beim Klimaschutz, der Migration, in der Wirtschafts- und Außenpolitik. Die bürgerliche Mitte sieht in Europa damit deutlich mehr als nur ein Wirtschaftsprojekt.

66 Prozent der Europäerinnen und Europäer der bürgerlichen Mitte wünschen sich eine international stärkere und geschlossenere EU. Dazu gehört neben einer stärkeren gemeinsamen Stimme in der Sicherheits- und Außenpolitik ebenso eine stärkere Unabhängigkeit von anderen Weltmächten (64 Prozent). Auch die Migration wird als eine gemeinsame Aufgabe für die Europäische Union betrachtet. Hier werden insbesondere der bessere Schutz der Außengrenzen und ein Verteilungs-System für ankommende Migranten eingefordert.

Den größten Handlungsdruck sehen die Befragten allerdings im Kampf gegen den Klimawandel. Für 67 Prozent stellt er, gemeinsam mit dem Umweltschutz, das wichtigste Handlungsfeld dar. Allerdings ist die Zufriedenheit der bürgerlichen Mitte mit dem aktuellen Kurs der EU in diesem Politikbereich relativ gering: Nur knapp jede/r vierte Befragte glaubt, dass die EU genug tut, um den Klimawandel zu bekämpfen.

Die Ansichten zur wirtschaftlichen Solidarität sind in den Mitgliedstaaten recht unterschiedlich. Während die Bürgerinnen und Bürger in den meisten Mitgliedsstaaten wirtschaftliche Solidarität und gemeinsame Schulden befürworten, ist in Deutschland, den Niederlanden und Schweden eine Mehrheit gegen diese Ideen. Eine Konstante gibt es jedoch bei allen Befragten: Die starke Unterstützung für den Grundsatz der sparsamen Haushaltsführung.

Prof. Dr. Norbert Lammert, Vorsitzender der KAS und ehemaliger Bundestagspräsident, über die Studienergebnisse: „Als die Konrad-Adenauer-Stiftung diese Studie in Auftrag gegeben hat, war kaum vorstellbar, was inzwischen bittere Realität ist: Es herrscht wieder Krieg in Europa. Der Krieg in der Ukraine führt uns schmerzlich vor Augen, wie dringend wir uns insbesondere den sicherheitspolitischen Aufgaben stellen und politische Prioritäten neu ordnen müssen. Spätestens bei der Europawahl 2024 werden wir sehen, ob es uns gelungen ist, den Erwartungen, die in dieser Studie formuliert wurden, gerecht zu werden.“

Aus deutscher Sicht überraschte die Studie mit mehreren Ergebnissen: Deutschland ist das einzige Land, in dem eine skeptische Haltung gegenüber Europa überwiegt (57 Prozent versus 33). Vor allem in Hinblick auf den Umgang mit der Pandemie, aber auch in der Wirtschaftspolitik stellt die bürgerliche Mitte Deutschlands der Europäischen Union ein deutlich schlechteres Zeugnis aus als die Befragten in den meisten anderen Mitgliedstaaten. Knapp mehr als die Hälfte der deutschen Befragten glaubt, dass die EU bereits zu viel Macht an sich gezogen hat, und der Ruf nach mehr direkter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an europäischer Politik ist in Deutschland besonders ausgeprägt: Nur jeder zehnte Deutsche fühlt sich genügend involviert.

Lammert sieht deshalb auch in der Vermittlung von EU-politischen Inhalten noch Nachholbedarf: „Europa muss eine gemeinsame politische Agenda schaffen, seine Entscheidungsträger die Erwartungen der Menschen in fast allen Teilen Europas aufgreifen. Die Hervorhebung eines gemeinsamen Ansatzes für die wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit kann helfen, die Einheit – sowohl unter den bürgerlichen Wählern als auch ihren Parteien – zu fördern und die Verbundenheit der Bürgerinnen und Bürger mit die EU weiter zu verbessern.“

Über die Studie:

Seit Mai 2021 setzt die Europäische Union mit der „Konferenz zur Zukunft Europas“ ein beispiellos komplexes, demokratisches Experiment um: eine „Bottom-up”-Debatte über europäische Reformen, bei der Bürgerinnen und Bürger der EU zu Wort kommen, sich aktiv mit einbringen können und ihrerseits Erwartungen an die EU formulieren.  In diesem Zusammenhang hat die KAS Ende 2021 eine Umfrage in 12 EU-Mitgliedstaaten durchgeführt. Ziel des Projekts war es herauszufinden, welche gemeinsamen Wertvorstellungen, Ansichten und Erwartungen es an die europäische Integration bei dieser Zielgruppe gibt.

Die komplette Umfrage finden Sie hier.

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