Wie ist es, wenn zwei Menschen einander lieben? Ist ihre Liebe dann gleich? Oder unterscheidet sie sich? Fragen, die sich im zweiten der insgesamt fünf aktuellen Sonderangebote dieses Newsletters stellen, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 11.03. 22 – Freitag, 18.03. 22) zu haben sind. In „Annettes späte Liebe“ erzählt Joachim Lindner vom Leben und Dichten der Annette von Droste-Hülshoff und von eben dieser Beziehung zu einem 17 Jahre jüngeren Mann – also auch vom Lieben – und nicht zuletzt von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Um Goethe und seine vielen Seiten geht es in der Anekdoten-Sammlung „Ein geborener Genießer“ von Volker Ebersbach.

Schließlich noch zwei Bücher von Gerd Bieker:

In „Sternschnuppenwünsche“ zieht der junge Buchdrucker Ede Hannika aus, um das Glück zu suchen. Wird er es finden? Und wo?

In „Rentner-Disco“ haben ein Schornsteinfegerlehrling und eine Bäckerin einen hübschen Plan. Ob er sich verwirklichen lässt?

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Wieder einmal geht es sehr direkt um Krieg und Frieden und speziell um die kurz- und langfristigen Folgen kriegerischer Auseinandersetzungen. Was macht der Krieg mit den Menschen? Wie sehr und wie lange leiden sie darunter, was sie in ihrer Kindheit und Jugend erleben mussten? Und bleibt dennoch ein Funken Hoffnung? Fragen, die knapp ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen des heute vorgestellten Buches und eines nicht für möglich gehaltenen neuen Krieges erschreckend aktuell erscheinen:

Erstmals 1995 veröffentlichte Elisabeth Schulz-Semrau bei Langen Müller München „Wer gibt uns die Träume zurück. Schicksal Ostpreußen“: Mit „Suche nach Karalautschi“ (1984) und „Drei Kastanien nach Königsberg“ (1990) hat die gebürtige Königsbergerin Elisabeth Schulz-Semrau bereits zwei Titel vorgelegt, die sich mit der Geschichte ihrer Heimatstadt beschäftigen und die Autorin als kenntnisreiche Chronistin Königsbergs ausweisen. Die Rekonstruktion dieser Geschichte setzt sie in ihrem neuen Buch fort und hat mit viel Spürsinn und großer sprachlicher Sensibilität eine Reihe bewegender literarischer Porträts zusammengestellt. Es sind die Schicksale russischer und deutscher Kinder aus den letzten Kriegstagen und den sich anschließenden Wirren der Nachkriegszeit, deren Lebensweg sie bis in die Gegenwart hinein verfolgt hat.

Es ist das große Verdienst der Autorin, dass dabei – aller Grausamkeit und allen Schrecken zum Trotz – keine Litanei des Leids entstanden ist, sondern die differenzierte und sich jeder Schematisierung entziehende Beschreibung von Lebensschicksalen. Dass der Mensch, trotz traumatisch gewordener Leiderfahrung, in der Lage ist, aus der Geschichte zu lernen, zeigt Elisabeth Schulz-Semrau, ausgewiesene Kennerin der ostpreußischen Geschichte, und legt mit diesem Buch eine Reihe authentischer literarischer Porträts vor, die auf persönlichen Begegnungen basieren. Es sind die bewegenden Einzelschicksale russischer und deutscher Kinder aus der Endphase des Zweiten Weltkriegs, die in ihrer Gesamtheit ein plastisches Bild der jüngeren Geschichte Königsbergs und Ostpreußens ergeben. Hier ein Auszug:

Bruder NAMENLOS

Es ist eine dieser endlos währenden, ungeschlafenen Nächte, als mich aus dem Dickicht meiner Grübeleien jener Satz aufstört:

…so wurde mir 1948 die FDJ mein Leben und 1954 die Partei Vater und Mutter…

Ich hatte ihn vor etwa einem Jahr im Brief eines mir bisher fremden Mannes gelesen, der mit mir im gleichen Jahr, in der gleichen Stadt geboren worden war, aber nach ihrem Untergang drei Jahre länger als ich darin leben musste.

Hatte ich diese Formulierung für mich auch als überzogen abgetan, so schien sie mir für ihn, nachdem ich aus seinen Briefen wenigstens eine Ahnung von seiner Jugend erhalten hatte, irgendwie verständlich.

Was aber machte so einer jetzt, wo es mich doch schon, lax gesagt, fast aus den Pantinen kippen ließ? Für ihn mochte ja vielleicht nicht einmal eine bestimmte Phase der letzten Wochen des Jahres ’89 als fröhliche Revolution gelten? Oder vielleicht gerade?

… Was fühlt einer, der nun feststellen muss, dass die Eltern, die er sich selbst erwählte, Betrüger, wenn nicht gar Verbrecher waren?

Oder haben sie dich an ihrem guten Leben teilhaben lassen?

Hast du eine Villa mit Swimmingpool, ein dickes Bankkonto?

Gab dir die Partei Ämter, Macht?

Bist du für deine Treue belohnt worden?

Zugegeben, es war ein provozierender Brief, zu dem ich mich im Morgengrauen entschloss.

Rückblickend erscheint es mir so, als habe ich mehr mit mir ins Gericht gehen müssen als mit meinem armen Landsmann. Denn wenn ich in jenem Brief bat, ihn besuchen zu dürfen, um zu erfahren, wie er die politische Umwälzung aufzuarbeiten vermochte, erhoffte ich mir doch wohl vor allem Antworten auf eigene Ratlosigkeit.

Wie hätte aber dieser einfache, geradlinige und verwundbare Mensch meine psychologische Spitzfindigkeit durchschauen können?

Er stellte sich. Die kurzfristige Rückantwort sowie die Länge seines Briefes ließen erkennen: Da war einer krank wie ich!

Er schrieb: Wir sind noch sehr darnieder durch die große Enttäuschung ’89. Ich verkrafte sie schwer, da ich mit solch massiver Korruption nicht gerechnet habe. Unsere Sensibilität ist dafür eine Ursache. Mein Zustand hat sich dadurch negativ entwickelt, nicht zuletzt der meiner Frau.

… Aus unserer Kindheit bis 1948 können wir viel erzählen, danach wird es dünn. Die Jugendfreunde der FDJ von 48-54 sind alle arme Teufel geblieben. Ich kenne keinen, welcher hochgeklettert ist. Die Genossen von 54 sind auch meistens Arbeiter geblieben, ohne Reichtum und Orden. Wir können uns heute noch ehrlich in die Augen sehen. Viele, wie auch ich, sind jetzt parteilos vor Enttäuschung. Sie schämen sich für den Reinfall. Sie waren alle für Frieden und Menschenrechte. Ab 1972 kam darin eine andere Sorte Mensch rein mit Holzhammer und beginnender Korruption. Sie machten ihre Gehälter groß und schoben sich Posten zu. Sie traten mit 40 Jahren ein, um einen hohen Posten im Betrieb zu erhalten. Der Kampf um den Sessel begann. Sogar ein alter Jungstammführer, solche, welche uns für den Krieg reif machten, schaffte es auf den Sessel des Ersten Kreissekretärs. Als es zu heiß wurde, hat man ihn in einem anderen Kreis auf den gleichen Stuhl gesetzt, wo keiner ihn kannte. Es sind so Gedanken, welche ich aber nicht veröffentlicht sehen möchte. Es erfuhr wenig Interesse, Kritik nach oben anzubringen. Die Kritik von unten blieb da schon hängen. So eine Sippschaft habe ich schon einmal, 1945 in Königsberg, auffliegen sehen. Die soffen nur noch in ihren Weinkellern auf dem Tragheim. Wir Kinder sollten den Feind aufhalten. Mit dreizehn Jahren! Sie waren ja auch Postenjäger, und wer dagegen was sagte, kam an die Front.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 1982 erschien im Verlag der Nation Berlin „Annettes späte Liebe. Erzählung vom Leben und Dichten der Annette von Droste-Hülshoff“ von Joachim Lindner: Welchen Unterschied machen siebzehn Jahre aus? So groß ist der Altersunterschied zwischen der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff und dem wesentlich jüngeren Literaturwissenschaftler Levin Schücking, der einmal die allererste Biografie der Dichterin schreiben wird. Wie haben sie einander kennengelernt? Was hat der junge Mann für die ältere Frau empfunden? War es tatsächlich Liebe? War es eine Liebe, wie sie sich Anette gewünscht hatte? In seiner Erzählung spürt Joachim Lindner Antworten auf diese Fragen nach und zeichnet zugleich ein Bild der gesellschaftlichen und literarischen Verhältnisse in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Wie politisch darf Dichtung sein? Und kann man vom Schreiben überhaupt leben? Und warum waren die eigenen literarischen Versuche Schückings, der so gescheit über die Dichtungen anderer zu reden und zu schreiben verstand, so mittelmäßig? Anfangs wollte es ihr nicht so recht einleuchten. Dann aber glaubte Annette zu wissen, warum das so war. Hier der Beginn dieser Erzählung über eine bemerkenswerte Frau, Künstlerin und Liebende:

So steht mein Entschluss fester als je,

nie auf den Effekt zu arbeiten, keiner beliebten Manier, keinem anderen Führer als der ewig wahren Natur durch die Windungen des Menschenherzens zu folgen und unsre blasierte Zeit und ihre Zustände gänzlich mit dem Rücken anzusehn. Ich mag und will jetzt nicht berühmt werden, aber nach hundert Jahren möcht ich gelesen werden…

  1. Kapitel

Die Bilder, die wir von ihr besitzen, zeigen keine schöne Frau, mit Ausnahme der Miniatur von der Hand ihrer Schwester Jenny: da ist sie eine junge Dame mit lockigem Haar, großen Augen, einer etwas langen Nase und kleinem Mund, in elegantem dunklem Kleid und weißer Spitzenkrause, mit Ohrringen, Halskette und einem Kreuz als Anhänger daran. So hübsch und adrett aber sah sie nur in der Vorstellung ihrer Schwester aus.

Mehr von ihrem Wesen hat der Maler Sprick erfasst, dem sie ab und an einen Auftrag gab, um ihn, seine Frau und seine sechs Kinder vor dem Verhungern zu bewahren, denn ihre Zeit war der Kunst und den Künstlern nicht hold; das hat auch sie erfahren, obwohl sie nicht zu hungern brauchte. Sprick, der vielleicht deshalb so wenig Ansehen in Münster genoss, weil er wusste, dass es in der Kunst weniger um die äußere Wirklichkeit, und schon gar nicht um eine beschönigende, als um die innere Wahrheit geht, hat sie mehrfach porträtiert. Auf seinen Gemälden ist sie kein junges hübsches Mädchen mehr wie auf Jennys Miniatur. Herb und verschlossen wirkt sie im eng geschnürten Kleid, das die Brust wie ein Panzer einschließt, eine vornehme Dame mit gescheiteltem Haar, Korkenzieherlocken oder Zöpfen, nicht lang herabhängend, sondern sorgfältig hochgesteckt und zu einer Krone verschlungen, wie es der Mode der Zeit entsprach – und im Widerspruch zu der Strenge ihres Aussehens der kluge Blick ihrer schönen Augen und die Güte, die aus ihnen spricht, jene Güte, die der Maler Sprick nicht nur erfahren hatte, sondern auch wiederzugeben verstand.

Am gnadenlosesten und unnachsichtigsten zeigt sie eine Daguerreotypie aus dem Jahre 1846: eine alte, müde Frau, obgleich sie die Fünfzig noch nicht überschritten hatte, die ein wenig vorstehenden Augen weit geöffnet, aber mehr in sich hineinblickend als die Welt betrachtend. Ihre Mutter fand die Aufnahme gar zu abscheulich, die Köchin sagte: „Et likt gans akkroot, over, o Herr! wat bedröwet! – Es gleicht ganz akkurat, aber, o Herr, wie betrübt!“, und der Amme ihr Kaspar meinte: „Et is to einsam, vierl to einsam!“, obwohl es an Menschen in ihrer Umgebung, auch an teilnehmenden und um sie besorgten, nicht fehlte.

Ein weniger düsteres Bild von ihr verdanken wir Levin Schücking, dem Freund, dem Geliebten, der seine Worte sorgfältig wählte und wägte, wie er es verstand und worauf er nicht wenig stolz war: „Diese wie ganz durchgeistigte, leicht dahinschwebende, bis zur Unkörperlichkeit zarte Gestalt hatte etwas Fremdartiges, Elfenhaftes; sie war fast wie ein Gebilde aus einem Märchen. Die auffallend breite, hohe und ausgebildete Stirn war umgeben mit einer ungewöhnlich reichen Fülle hellblonden Haares, das zu einer hohen Krone aufgewunden auf dem Scheitel befestigt war. Die Nase war lang, fein und scharf geschnitten. Auffallend schön war der zierliche, kleine Mund mit den beim Sprechen von Anmut umlagerten Lippen und feinen Perlenzähnen. Der ganze Kopf aber war zumeist etwas vorgebeugt, als ob es der zarten Gestalt schwer werde, ihn zu tragen, oder wegen der Gewohnheit, ihr kurzsichtiges Auge ganz dicht auf die Gegenstände zu senken.“

So, meinte Levin Schücking, habe sie ausgesehen, als er, ein Junge von noch nicht sechzehn Jahren, die Dreiunddreißigjährige kennenlernte. – Sie selbst hat sich mehrmals porträtiert, in der Erzählung „Bei uns zu Lande auf dem Lande“ als achtzehnjähriges Fräulein Sophie, deren immer etwas gebückte Gestalt einer überschossenen Pflanze gleicht, die im Winde schwankt. Besonders hervorgehoben wird, dass sie schön singt, obwohl ihre Stimme schwach ist, „aber schwach wie ein fernes Gewitter, dessen verhaltene Kraft man fühlt – tief, zitternd wie eine sterbende Löwin“. Von gewaltsam Bedrohendem und wiederum seltsam Anziehendem ist schon hier die Rede, mehr noch in jenem späten Gedicht, in dem sie ihr Gesicht wie das einer Fremden im Spiegel betrachtet und zu ergründen sucht, was sich darin offenbart und verbirgt.“

1995 veröffentlichte Volker Ebersbach im HANS BOLDT Verlag Winsen und Weimar in der Weimarer Reihe „Ein geborener Genießer. Goethe-Anekdoten“: Anekdotisches ist zugleich oder insbesondere Menschliches. Das gilt auch hier, gilt auch bei Johann Wolfgang von Goethe. Er war nicht nur Dichter, Minister, nicht nur der Goethe, er war auch ein Mensch mit Stärken und Schwächen, mit alltäglichem wie ungewöhnlichem Scharfsinn, ein Genießer von Format, ein Genießer nicht nur im Bereich der Sinne, sondern auch des Herzens und des Geistes. Volker Ebersbach erzählt nach authentischen Quellen Goethe-Anekdoten, die uns den Menschen Goethe ahnen lassen. Sie reichen von der Geburt bis zum Tod. Wir erleben also sowohl den jungen Mann als auch den alten Herrn.

Die Auswahl versucht, möglichst viele Seiten in Goethes Wesen zu den verschiedenen Zeiten seines Lebens aufzuzeigen. Nur ungenügend deutlich werden dabei zwangsläufig seine einzigartige Begabung und sein ungeheurer Werkfleiß; darüber muss man aber nicht reden, denn beides ist bekannt. Hier als Beispiele die ersten zwölf dieser Goethe-Anekdoten, die aus Frankfurt und Leipzig berichten:

I. FRANKFURT

  1. Ein geborener Genießer

Als Goethe auf diese Welt kam, wollte sie ihm gar nicht behagen. Bettina erfuhr von seiner Mutter, dunkel angelaufen sei er gewesen und habe kein Lebenszeichen von sich gegeben. Man hielt das Kind für tot, erzählt er selbst in „Dichtung und Wahrheit“. Erst als man es in einen „Fleischarden“ legte, einen hölzernen Trog, in dem sonst Fleisch aufbewahrt wurde, und ihm die Brust über dem Herzen mit Wein einrieb, schlug er die Augen auf.

[*] Der kleine Ästhet

Als Kind schon war er wählerisch im Umgang. Bettina will erfahren haben, dass er in einer Gesellschaft unvermittelt in Tränen ausgebrochen sei. Das hässliche Kind da könne er nicht leiden, habe er, nach der Ursache befragt, geschrien, es solle hinaus!

[*] Ein Ohrenschmaus

Zum Topfmarkt pflegte sich das Haus am Hirschgraben mit neuem Geschirr zu versorgen, und auch die Kinder bekamen kleine Teller und Töpfe zum Spielen. In „Dichtung und Wahrheit“ erzählt Goethe, wie er sich nachmittags in dem ruhigen Haus allmählich damit gelangweilt habe: „Da weiter nichts dabei herauskommen wollte, warf ich ein Geschirr auf die Straße und freute mich, dass es so lustig zerbrach.“ Auch den Nachbarskindern von Ochsenstein gefiel das. Sie riefen: „Noch mehr!“ Mit solchem Publikum wuchs natürlich das Vergnügen, und Wolfgang wiederholte den Ohrenschmaus, und der Beifall lautete: „Noch mehr!“ – bis alle Schüsselchen, Tiegelchen und Kännchen zerbrochen auf dem Straßenpflaster lagen. Da die kleinen Nachbarn gern noch mehr sehen und hören wollten und weiter „Noch mehr!“ riefen, gab es für den Jungen nur einen Weg: In die Küche. Der neue Vorrat an großem Küchengeschirr verschaffte den Zuschauern und auch dem Akteur selber noch größeren Genuss. So flog, was den kleinen Armen auf dem Topfbrett erreichbar war und die Händchen erschleppen konnten, zum Fenster hinaus. Ein Vorübergehender endlich fand die Aufführung durchaus nicht so hinreißend und machte ihr ein Ende.

[*] Griff nach den Sternen

Man sprach in der Familie Goethe des Öfteren davon, die Planeten Jupiter und Venus hätten den Knaben bei seiner Geburt freundlich angesehen. Schon mit sieben Jahren betrachtete der Junge den Sternenhimmel gern. Auf dem Zahlbrett seines Vaters legte er die glückverheißende Konstellation mit Pfennigen nach, wie sie ihm gezeigt worden war, und damit ihre Wirkung auf sein Werden ja nicht nachlasse, nahm er das Modell mit an sein Bett. Immer wieder fragte er seine Mutter, ob die Sterne wohl auch halten würden, was sie versprochen hätten. „Nicht wahr, die Sterne werden mich doch nicht vergessen?“ Die Mutter versuchte den astrologischen Eifer zu dämpfen. Sie warnte ihn, den Beistand der Sterne könne man durchaus nicht erzwingen. „Andere Leute“, sagte sie, „müssen doch auch ohne sie fertig werden!“

„Mit dem“, antwortete Wolfgang, „was anderen Leuten genügt, kann ich mich nicht begnügen!“

[*] Autodafé

Goethe war, wie er berichtet, noch keine zehn Jahre alt, da sah er zu, wie nach damaligem Brauch ein französischer Roman, der den Stadtoberen gegen Sitte und Religion zu verstoßen schien, von Henkershand verbrannt wurde. Der Anblick war ihm, gerade weil die Strafe an etwas Leblosem vollstreckt wurde, fürchterlich. Doch er genoss es auch, wie sich das Buch den Flammen widersetzte, wie man das aneinander haftende Papier mit Ofengabeln auflockerte, damit das Feuer besser hineingriffe, wie dabei einzelne Blätter, halb verbrannt, in die Luft und unter die Zuschauer flogen, die gierig danach haschten, sodass der verbotene Autor mehr Leser fand, als er mit eigenem Bemühen hätte erreichen können.

[*] Ein Anfang

Die Mutter hatte Besuch. Man schaute aus dem Fenster und sah die Kinder aus der Schule kommen. Wolfgang war von weitem schon daran zu erkennen, wie gerade und gravitätisch er in der Schar einherschritt, und als er eintrat, wurde ihm das gesagt. „Das ist erst der Anfang“, erwiderte er. „Später wird man mich noch an ganz anderem erkennen!“

[*] Der gerissene Lehrer

Dass Wolfgang mit seiner Schwester Klavierstunden nehmen sollte, war beschlossen. Um einen geeigneten Lehrer waren die Eltern jedoch verlegen. Da wollte es der Zufall, dass er einen seiner Freunde besuchte, als dessen Klavierstunde noch nicht zu Ende war. Einen solchen Lehrer hatte er noch nie gehört! Jeden Finger der rechten wie der linken Hand rief er bei einem Spitznamen. Auch von den weißen und schwarzen Tasten hatte jede ihre bildhafte Bezeichnung, und selbst für die Namen der Töne gab es anschauliche Abwandlungen. Der Däumerling schlug das Fakchen und der Deuterling das Gakchen, der Krabler gehörte aufs Fiekchen und der Zahler aufs Giekchen. Seinen Freund fand Wolfgang darum auch bestens gelaunt bei der Sache.

Zu Hause erzählte er der Schwester, was er erlebt hatte. Die beiden konnten es kaum noch erwarten, dass der Klavierunterricht endlich beginne, und hatten, was die strittige Lehrerfrage betraf, selbst einen ernst zu nehmenden Vorschlag.

Der Mann wurde angenommen. Dass es in den Anfangsgründen, beim Notenlesen, nicht lustig zuging, nahmen die Kinder noch hoffnungsvoll hin. Doch als die Tastatur und der Fingersatz an die Reihe kamen, blieb die Unterweisung so trocken wie das Papier, die Noten und ihre Linien. Kein Goldfinger wurde gerufen, keinen Deuterling und keinen Däumerling gab es, und zu den erwartungsvollen Gesichtern der Schüler verzog der Lehrer keine Miene. Cornelia begann zu murren und machte dem Bruder Vorwürfe, er habe sie getäuscht und sich alles nur selber ausgedacht. Aber Wolfgang fand sich selbst vor einem Rätsel und vertröstete die Schwester von einer Stunde zur andern.

Da traf es sich, dass ein Freund die Geschwister besuchte, als der Klavierlehrer noch mit ihnen beschäftigt war. Plötzlich wurde wieder nach Däumerlingen und Deuterlingen gerufen, der Krabler folgte dem Zahler, die Noten f und g waren wieder Fakchen und Gakchen, fis und gis hörten auf Fiekchen und Giekchen – und der Freund kam nicht aus dem Lachen heraus. „Er schwur“, schließt Goethe in „Dichtung und Wahrheit“, „dass er seinen Eltern keine Ruhe lassen würde, bis sie ihm einen solchen vortrefflichen Mann zum Lehrer gegeben.“

  1. LEIPZIG
  2. Letzter Wink eines anderen Zeitalters

Goethe erreichte als Student in Leipzig mit Studienfreunden noch eine Audienz bei Johann Christoph Gottsched in dessen letztem Lebensjahr 1766. Die Begegnung mit der gefürchteten Autorität der Poetik und der Literaturkritik verlief wie der letzte Wink eines anderen Zeitalters. Im „Goldenen Bären“ empfing sie der Bediente. Er führte sie in einen großen Raum und sagte, der Herr werde gleich kommen. Dazu machte er eine sonderbare Gebärde, als sollten die Gäste in das benachbarte Zimmer treten. Dann, heißt es in „Dichtung und Wahrheit“, „trat Gottsched, der große, breite, riesenhafte Mann, in einem grün-damastnen, mit rotem Taft gefütterten Schlafrock zur entgegengesetzten Tür herein; aber sein ungeheures Haupt war kahl und ohne Bedeckung. Dafür sollte jedoch sogleich gesorgt sein: denn der Bediente sprang mit einer großen Allongeperücke auf der Hand (die Locken fielen bis an den Ellenbogen) zu einer Seitentüre herein und reichte den Hauptschmuck seinem Herrn mit erschrockner Gebärde. Gottsched, ohne den mindesten Verdruss zu äußern, hob mit der linken Hand die Perücke vom Arme des Dieners, und indem er sie sehr geschickt auf den Kopf schwang, gab er mit seiner rechten Tatze dem armen Menschen eine Ohrfeige, sodass dieser, wie es im Lustspiel zu geschehen pflegt, sich zur Tür hinauswirbelte, worauf der ansehnliche Altvater uns ganz gravitätisch zu sitzen nötigte und einen ziemlich langen Diskurs mit gutem Anstand durchführte.“

[*] Kunstgriff

In Leipzig nahm Goethe Zeichenunterricht bei Adam Friedrich Oeser. Oesers Art zu loben oder zu tadeln war mitunter so lakonisch, dass der Sinn mancher Korrektur nicht sofort klar wurde. Goethe hatte einen Blumenstrauß ganz vorschriftsmäßig mit schwarzer und weißer Kreide auf blaues Papier gebracht, bemühte sich aber, durch Wischen und Schraffieren noch einige Effekte zu erzielen, bis der blaue Grund völlig bedeckt war. Oeser trat hinter ihn, sagte nichts als: „Mehr Papier!“ und entfernte sich.

[*] Missglückte Liebeslist

Der Leipziger Jurastudent verliebte sich in eine Wirtstochter, die einen sehr sprechenden Namen hatte: Anna Katharina Schönkopf. Sie aber wusste sich rar zu machen, was sich bei einem stürmisch werbenden Liebhaber, selbst wenn man geneigt ist, empfiehlt. An einem Sonntag fand er sie nicht zu Hause. Vergeblich suchte er nach einem Vorwand, bei Obermanns zu erscheinen, wohin Kätchen gegangen war. Stattdessen ging er zu Breitkopfs. Mit Constanze Breitkopf allerdings wurde ihm die Zeit lang, und so fragte er sie, ob sie nicht in einem Billett, das er sofort überbringen würde, Mamsell Obermann wegen der Proben zu einer Liebhaberaufführung von Lessings „Minna von Barnhelm“ etwas mitzuteilen hätte. Doch Constanze hatte nichts auszurichten. Da fing er an, sie zu bitten und zu drängen, bis sie ein paar Zeilen schrieb und sie ihm gab.

Er flog geradezu davon. Die Adressatin öffnete das Briefchen und las. Aber was las sie! Die Absenderin verbreitete sich darüber, was die Mannspersonen doch für seltsam wankelmütige Geschöpfe seien. Kaum sei der Herr Goethe bei ihr, lasse er spüren, dass er Mamsell Obermanns Gesellschaft vorziehe. Nur darum habe sie diese Zeilen verfassen müssen.

Sie verstand nicht recht, was das bedeuten sollte. Kätchen allerdings, die mitgelesen hatte, dachte sich ihr Teil, und anstatt sich über das Kommen ihres Verehrers zu freuen, behandelte sie ihn so kalt, dass selbst die Gastgeber sich wunderten.

Die Woche hatte für den Verliebten schlecht begonnen. Eine Art Nervenfieber hielt ihn zu Hause. Aber Kätchen, statt besorgt nach ihm zu fragen, ging, wie er auskundschaftete, ins Theater. Der Liebeskranke schleppte sich hin, fand ihre Loge und – sah sie neben ihrer Mutter sitzen. Doch hinter ihrem Stuhl erkannte er in einer sehr zärtlichen Stellung einen anderen Verehrer.

[*]11. Das längere Gedächtnis

Später wollte Goethe nicht mehr wahrhaben, dass er auch mit Constanze Breitkopf einen kleinen Liebeshandel unterhalten hatte. Aber Marie Stock wusste noch, dass sie auf der Treppe hatte sitzen und Wache halten müssen, um dem Pärchen, das auf dem Oberboden an einem alten, verstimmten Spinett zärtliche Duette sang, jede Störung anzukündigen. Goethe staunte: „Sie haben ja ein verfluchtes Gedächtnis!“

[*]1 Bombenfest

Von Leipzig aus besuchte Goethe 1768 die kursächsische Residenz Dresden, um ihre Kunstschätze zu sehen. Nachdem er den Direktor Christian Ludwig von Hagedorn mit Worten des Wohlgefallens besonders über Gemälde aus dessen eigener Sammlung glücklich gemacht halte, stimmte ihn der Anblick der Straßen, in denen noch die acht Jahre zurückliegenden Zerstörungen des Siebenjährigen Krieges zu sehen waren, sehr traurig. Der Schutt in der Mohrenstraße und der geborstene Turm der Kreuzkirche blieben ihm in düsterer Erinnerung. Die Kuppel der Frauenkirche allerdings, die er bestieg, um den Rundblick über die Stadt zu genießen, rühmte ihm der Küster, der ihn hinaufgeführt hatte, als „bombenfest“.´

Erstmals 1969 erschien im Verlag Neues Leben Berlin „Sternschnuppenwünsche“ von Gerd Bieker: Ede Hannika, der auszieht, um das Glück zu suchen, hat drei Wünsche: gute Kumpels, eine Arbeit, die Spaß macht, vielleicht – das Mädchen. Das Mädchen wird Maria, aber die ist stachlig wie eine Kastanie vorm Aufplatzen. Hier der Anfang dieses spannenden Buches, als Ede eine wichtige Entscheidung trifft:

Abschied vom Starkasten

1

Diese altertümliche Landkarte hat der Buchdrucker Edgar Hannika, von Freunden einfach Ede genannt, an die schräge Wand seines Dachzimmers geheftet. Vermutlich ist sie schon hundert Jahre alt, die Farben erscheinen nur noch als blasse Aquarelltöne, und über die Greenwich-Linie und den Äquator entlang laufen brüchige Faltkniffe. Eine Nadel mit blauschimmerndem Glaskopf steckt zwischen dem skandinavischen Hund und dem italienischen Stiefel: Dort etwa liegt Kirchhagen, und in dem Dorf Kirchhagen ist Ede Hannika aufgewachsen.

Ede liebt die Karte, auf der er mit Zimmermannsbleistift die Routen seiner zahlreichen Reisen eingetragen hat – mit John Silver an Bord zur Schatzinsel, in die Südsee an der Seite Jack Londons, rund um die Welt unter dem Kommando des bewährten Kapitäns Cook –, und in Wirklichkeit ist er bisher kaum aus Kirchhagen herausgekommen.

Noch vor drei, vier Jahren konnte Ede stundenlang vor der Karte hocken, sich an der Melodie fremder Namen berauschen. Galapagos, Gobi-Wüste, Kalkutta, Nowaja Semlja, Azoren …

Mittlerweile ist er volljährig geworden. Doch jeden Abend vor dem Einschlafen sieht er auf die vertraute Landkarte, sieht die weißen Flecke: Südamerika, Antarktis, Sibirien. Hoffnungslos veraltetes Weltbild, denkt er.

Spät kommt der Frühling ins Gebirge. Wenn anderswo schon die Kirschbäume blühen, liegt noch lockerer schmutziger Schnee auf den Feldrainen um Kirchhagen. Doch dann, über Nacht, stehen blaue und gelbe Krokusse und zarte Schneeglöckchen in den winzigen Gärten vor den Fachwerkhäusern, die Hühner gackern aufgeregt, und überm Dorf steigen die Lerchen. Es riecht noch ein wenig nach Winterheu und nassem Stroh, doch die Luft scheint frisch gewaschen zu sein. Der April ist da.

Ede hockt auf der Gartenbank vor Hampels Druckerei, rechts neben ihm pfeift der Stift Karlchen versonnen und falsch, dass die Heiligen einmarschieren, linkerseits döst der alte Emmrich, genannt „Bleilaus“.

Gerade rattert Kurti Schnurfeil, Edes Freund, vorbei. Auf dem Kutschbock neben sich hat er das blonde Gebert-Suschen sitzen, und hinten im Wagenkasten grunzt das berühmte Mutterschwein Emma. Forsch klopfen die Pferdehufe das Dorfstraßenpflaster. Kurti grüßt mit der Peitsche herüber und ruft lauthals, dass er die Emma zum Eber bringe. Errötend knufft ihn Suschen. Vor zwei Sommern hatte diese Susanne im Weizenfeld dem Ede das Küssen beigebracht.

„Morgen?“, brüllt Kurti.

Ede nickt. „Morgen.“

„Na dann, mach’s gut, alter Schwede!“

Ede zeigt den hochgereckten Optimistendaumen. Die Peitschenschnur schnalzt, und Suschen winkt zurück. Karlchen, der in jenem Alter ist, in dem man die erste Zigarette schon hinter sich und die erste Liebe noch vor sich hat, knallt die Hand auf die Bankbretter und sagt, ohne den Blick vom davonrollenden Suschen zu wenden: „Donnerwetter!“ Er haut mit Nachdruck auf das zernarbte Sitzholz und holt damit den alten Emmrich aus den Mittagsträumen. Bleilaus klappt den Sprungdeckel seiner Westentaschenuhr auf, schüttelt stumm das kahle Haupt und enteilt mit wehendem Kittel zu seinen Setzkästen.

„’s ist Zeit“, sagt Ede, und er denkt plötzlich daran, dass er heute zum letzten Mal auf dieser Bank sitzt. Die hölzernen Vorhäuschen längs der Dorfstraße und diese zerkerbte Bank – vielleicht hat er das übermorgen schon alles vergessen? Warum sieht man die kleinen Alltäglichkeiten erst mit wachen Augen, wenn man von ihnen Abschied nehmen muss?

Aus dem Obergeschossfenster beugt Monika ihren frisch frisierten Kopf. „Der Meister sagt, der Ede möchte bitte so freundlich sein und in unser Büro kommen, und der Stift soll sich an die Maschine scheren, aber dalli, hat der Meister gesagt!“

Ach ja, Feinslieb, fast hätte ich dich vergessen. Auch dein Stimmchen werde ich vermissen. „Komme ja schon!“

An der Bürotür empfängt ihn Alfons Hampel, laut goldgerahmter Urkunde Meister der Buchdruckerkunst. So stellt sich Ede einen Hotelportier vor, mit Schnurrbart und graumelierten Schläfen und der unnachahmlichen würdevollen Geste: „Nimm bitte Platz, Edgar.“

Ede Hannika sinkt in den glänzenden Ledersessel, der noch aus jener Zeit stammt, da Hampels Vater die kleine Handzetteldruckerei in eine Goldgrube umzuwandeln begann, indem er – Verleger, Redakteur, Setzer und Drucker in einer Person – den „Kirchhagener Anzeiger“ herausgab. Meister Alfons Hampel hat in gutlaunigen Stunden oft vom Zeitungsunternehmen seines Vaters erzählt, das Kirchhagen mit einem Schlag über die umliegenden Dörfer hinaushob, den Neid der zeitungslosen Nachbargemeinden hervorgerufen habe und für die Druckerei fast der Start zum Großunternehmen gewesen sei. Aber das Blatt war wieder eingegangen, und nur einige vergilbte Titelseiten, an den Aktenschrank im Druckereibüro gezweckt, künden vom einstigen Ruhm der Hampelschen Familie.

„Ich will noch einmal zurückkommen auf unser Gespräch von voriger Woche. Wir waren so verblieben …“ Hampel schnäuzt sich ausgiebig ins weiße Taschentuch. Er legt Ede den Arm um die Schulter und sagt: „Wir zwei wollen jetzt mal von Mann zu Mann reden.“

Das ist ungewöhnlich. Das ist so überraschend, dass Ede verlegen wird. Er achtet Hampel, der ist sein Lehrmeister gewesen, eine Respektsperson, über deren altväterliche und strenge Art man sich heimlich lustig gemacht hat.

Hampel ruft: „Monika!“

Monika Hampel, die einzige Tochter des Meisters, ist eine knospende Sechzehnjährige, über die Ede hinwegsieht. Als sie aber eintritt, mit einem Tablett, und „Danziger Goldwasser“ in die Gläser schenkt, erstarrt Ede vor Staunen. Gibt es Wunder? Narrt ihn hier, im tiefsten Mitteleuropa, eine Fata Morgana? Monika hat plötzlich eine Barockfigur mit solchen Pulloverproportionen, dass er den Blick nicht von ihr wenden kann. Sie schlägt vergissmeinnichtblaue Augen zu ihm auf und geht wieder hinaus.

Der Meister hebt das Glas, sagt: „Prost!“ und schmeckt genussvoll nach. „Sieh mal, Edgar, ich werde langsam alt, und im Geschäftsleben ist das so ziemlich das Schlimmste, was einem passieren kann. Du hast dich gut rausgemacht, also mit dir bin ich wirklich zufrieden. Ich geb’s ja zu, die Maschinen in meinem Drucksaal sind auch nicht mehr die jüngsten, aber was gelernt hast du doch bei mir, stimmt’s?!“ Ede nickt unbehaglich, weil er weiß, was jetzt kommt. Väterlich fährt Hampel fort: „Wir waren alle mal jung und hatten große Flausen im Kopp, und auch ich wollte, im Vertrauen gesagt, nicht immer hier auf dem Dorf bleiben. Aber dann hat mich die Vernunft zurückgehalten, und ich hab’s nicht bereut, bis heute nicht. Weißt du, in den großen Druckereien geht es modern zu, zack, zack; da arbeitet man mit Schlips und Bügelfalte. Gute Handwerksarbeit findest du aber nur bei unsereins, weil wir eben auf solide Werte sehen. Ich rate dir nochmals als dein alter Meister: ,Bleib daheim und nähr dich redlich.‘ Hier bist du was, hier macht dir keiner was vor!“ Hampel hebt triumphierend den Zeigefinger. Als hätte er bewiesen, dass der Lehrsatz des Pythagoras nicht stimmt, denkt Ede.

„Ich habe mir da so meine Gedanken gemacht. Lange schaffe ich den Kram hier nicht mehr, und du bist ein fixer Junge, der sich bestimmt auch in die Geschäftssachen schnell einarbeiten würde. Die Rechnung ist ganz einfach: Du machst noch zwei, drei Jährchen deine Arbeit als Drucker – mir soll’s auf etliche zwanzig Mark mehr nicht ankommen –, und dann schmeißt du mit mir zusammen den ganzen Laden. Was ich noch sagen wollte – die Monika wächst auch langsam heran, und wenn ihr euch richtig verstehen würdet, hätte ich sogar einen Nachfolger für die Druckerei. Überleg es dir gut, Edgar.“

Ede schluckt. Das ist deutlich. „Meinen Entschluss habe ich mir reiflich überlegt. Als junger Mensch muss einer heutzutage …“ Zum Teufel, was rede ich da zusammen? Sollte ihm einfach sagen, dass es mir hier zu klein ist. Gut gemeint, Meister, aber meine Kompassnadel zeigt in eine andere Richtung. Vorwärts geht’s, Junge! Segel gesetzt! Windstärke neun!

„Schade.“ Hampel hebt die Schultern, lässt sie fallen. Ede sieht: Ein bejahrter Mann in altmodischem Berufskittel, an dem die Zeit vorübergelaufen ist, der hinterdreinschaut und das alles nicht begreifen kann.

„Sie haben mich gut ausgerüstet, Meister, ich hab Ihnen viel zu danken. Wirklich.“

„Mache mir keine Schande, mein Junge. Falls du dir’s früher oder später anders überlegen solltest – jedenfalls, Gott grüß die Schwarze Kunst, Edgar.“

Hampel räuspert sich und sagt dann: „Monika holt gleich das Geld von der Girokasse, deine restlichen Zechinen zahle ich dir dann aus. Vergiss nicht, dass du nach alter Sitte deinen Ausstand geben musst. Und im neuen Betrieb denk an den Einstand, sonst sagen die Leute, du hättest es nicht gelernt bei mir. Jetzt druckst du noch die Kranzschleife, weiter liegt nichts vor.“

Überstanden …“

Ebenfalls von Gerd Bieker stammt „Rentner-Disco“, die erstmals 1981 im Verlag Neues Leben Berlin erschien: Beim Tanz soll Oma Rosel den Rentner Bruno kennenlernen. Das beschließen ihre Enkel Tom, der Schornsteinfegerlehrling, und Jana, die kleine Bäckerin, die beim Kartenvorverkauf zufällig nebeneinanderstehen. Sie ahnen beide nicht, was dieser Plan für Folgen hat. Und so fängt alles an:

Mittwoch

Maienzeit. Seit dem Hellwerden singen die Vögel. Die Frühschichtler warten dichtgeschart an den Bushaltestellen. Ein Sprühwagen von der Straßenreinigung kriecht gemütlich durch die Straße.

Tom hat sich aus der Druckerei eine Zeitung mitgebracht, sie riecht streng nach frischer Farbe. Gründlich studiert Tom die Nachrichten, er hat Zeit. Vertieft sich dann in die Randerscheinungen des Weltgeschehens auf der letzten Seite. Da kann ein hundertjähriger Inder durch Willenskraft dem eigenen Herz befehlen, sein Schlagen tagelang auszusetzen. Phänomenal – aber wozu eigentlich? Soll er sich doch freuen, dass es pocht. Hierorts sind die Freibäder wieder geöffnet, liest man, Meilenläufe haben stattgefunden und Verkehrserziehungen.

Mühelos löst Tom das Rätsel und die Schachaufgabe. Er sucht im Annoncenteil, eine Anzeige der Stadthalle findet er nicht. Womöglich ist er einem Spaß aufgesessen, wartet umsonst hier?

Aus der Zeitung bastelt sich Tom einen Helm. Er passt. Dann knifft er den Helm mit Bedacht um zu einem dickbauchigen Papierschiff.

Noch dreieinhalb Stunden …

Durch die morgenfrische Grünanlage spaziert ein alter Mann, stadtbekannt unter dem Spitznamen Amigo der Erste. In Wirklichkeit heißt der Mann Robert Schöbel. Er hat, ohne aufzufallen, seine Tage und Jahre gelebt, arbeitete bis zum Krieg in einer Tafelwasserbude und später in der Markthalle als Sortierer, ehe er anfing, berühmt zu werden, mit fünfundsechzig. Den Titel Amigo der Erste haben ihm die Bildreporter angehängt.

Der Schöbel-Robert ist Frühaufsteher. Er liebt diese frühen Tagesstunden, wo einem jetzt im Lenz das Gras so grün wie noch nie vorkommt.

Vor ihm liegt im ersten Schein der Sonne das städtische Prachtstück, die neue Stadthalle. Er geht durch den Park mit englischem Rasen, Sitzbänken und Springbrunnen; gleich beim Eingang haben sie nichtrostende Fahnenstangen aufgerichtet und ein großes Denkmal aus Beton, darstellend Teile der Bevölkerung. Wie es sich gehört.

Eine Streife der Volkspolizei patrouilliert den Parkweg entlang. Der Schöbel steuert auf sie zu und zieht hinterm Ohr die Morgenzigarette hervor.

„Amigos, seid gegrüßt mit’nander.“ Er nennt alle Leute Amigos.

Reserviert deuten die beiden Volkspolizisten einen Gruß an.

„Nu, was macht die Kunst?“, erkundigt sich Schöbel.

„Sie wünschen, Bürger?“, fragt einer knapp zurück.

„Feuer wünsch ich … Was ist? Raucht ihr eine mit, Jungs?“ Amigo tut, als suche er nach einer Zigarettenschachtel, obwohl er nur ein Stäbchen mitnimmt, wenn er aus dem Haus geht, hinters Ohr geklemmt, weil sonst in der Tasche der Tabak herauskrümelt.

„Nichtraucher.“

„Trotzdem müsst ihr Streichhölzer mithaben, Amigos. Die gehören zu eurer Ausrüstung. Darüber bin ich genauestens informiert.“

Er bekommt Feuer, pafft zwei-, dreimal vorm tiefen Zug und tippt zum Dank militärisch an die schneeweiße Sportmütze, die in dieser Stadt ebenfalls jedermann kennt.

Berühmt wurde Robert Schöbel durch Zufall. Der Flickschuster in seinem Viertel hatte altershalber zugemacht, und auf der Suche nach einer anderen Schusterei geriet Schöbel in die Neueröffnung eines so benannten „Reparatur- und Dienstleistungsstützpunktes des Schuhmacherhandwerks“ hinein. Als erster Kunde bekam er einen Rosenstrauß überreicht, dazu einen Händedruck vom Oberbürgermeister. Die Schuhe wurden ihm fortan gratis besohlt.

Am nächsten Tag erblickte sich Robert Schöbel in der Zeitung. Auf der ersten Seite, Hand in Hand mit dem Stadtoberhaupt. Alle Blätter brachten das Foto. Sogar eine zentrale Zeitung veröffentlichte es in gestochen scharfem Druck. Und, hast du nicht gesehen, rückten Verkäuferinnen bei Robert Schöbels Einkäufen mit zurückgelegten Waren heraus: hier mit einem Eckchen Lachsschinken, da mit einem Viertel Schweizer Käse. Wildfremde Leute begannen ihn zu grüßen. Auf einmal kannte man ihn.

Beim Deiwel! sagte sich Robert Schöbel. Wenn der Hase da langläuft, dann will ich doch zusehen, dass ich ihn immer schön einkriege. Ein paar Tage später war sein Bild wieder in der Zeitung, diesmal war er der erste Gast eines neugestalteten Spezialitätenlokals, der natürlich an diesem Festtag auch Essen und Trinken umsonst hatte. Beim dritten Mal, bei der Messe der Meister von morgen, begrüßten ihn die Fotoreporter schon mit Handschlag wie einen alten Kumpel. Er hatte sich mittlerweile die auffällige Kopfbedeckung, eine weiße Tennismütze, zugelegt und außerdem die joviale Art einer prominenten Persönlichkeit.

Auf diese Weise war er zu einem Original geworden, weil er immer überpünktlich zur Stelle war bei öffentlichen Ereignissen und Feiern des kommunalen Lebens: als erster Kunde, erster Gast, erster Besucher; auch als erster Wähler lässt er sich beispielsweise den Blumenstrauß nie entgehen. Es kursieren an Biertischen über seine Schrullen schon Anekdoten und Amigo-Legenden.

„Macht’s man gut“, verabschiedet Robert Schöbel die Polizeistreife. „Passt richtig auf, Amigos, dann werdet ihr auch befördert, ihr Scheinwerfer der Ordnung und Sicherheit.“

Die Volkspolizisten schmunzeln, bald geht ihr Nachtdienst zu Ende.

Sie schauen einander an. Sie sind auch ohne Worte völlig einer Meinung: Wenn Amigo zu derart früher Stunde in der Stadt unterwegs ist, dann hat das was zu bedeuten …

Wie verabredet sehen sie gleichzeitig auf ihre Armbanduhren. Es ist soeben fünf Uhr siebenundzwanzig.

Alles scheint in bester Ordnung. Die Parkbeete vor der Stadthalle sind so farbenfroh und symmetrisch bepflanzt, dass es dem alten Mann das Wasser in die Augen treibt. Dass er auch diesen Frühling noch erleben darf! Die Erinnerungen machen Schöbel zu schaffen; gerade im Stadtinnern, das total zerbombt gewesen war, hat er viel Schlimmes sehen müssen. Wer das miterlebt hat! Und schuftete er sich nicht auch die Hände wund beim Enttrümmern und Ziegelkloppen? Hat er hier nicht auch sein bisschen Anteil?

Alles ist wie immer. Nur eins stimmt nicht in dem Bild, das sich Schöbel bietet: An der Glastür zur Vorverkaufskasse der Stadthalle steht schon einer.

Er, Amigo, nicht der erste?

Der Junge hat seine beiden Hände in den Hintertaschen dieser Cowboyhosen versteckt, in denen alle Welt heutzutage herumstelzt. Dadurch wölbt es ihm den Brustkasten stramm vor.

Wie so ’n Täuberich, denkt Schöbel.

Mit unverschämter Selbstverständlichkeit steht der Junge auf dem Platz vor der Tür, der in dieser Stadt nur einem einzigen zukommt – ihm, Robert Schöbel.

Der hat vielleicht ’n paar Muskeln für sein Alter, wundert sich Schöbel, nicht von Pappe. Obwohl, insgesamt wirkt er lang und dürr wie der brasilianische Sommer. Dem kannst du nur auf die Freundliche kommen. Na klar, solche bärtigen Hanaken, die diskutieren nicht lange …

Gelassen schaut der Junge von seiner einsneunziger Höhe auf den Mann, der sich außer Reichweite vor ihm aufbaut.

Schweigen.

Probiere ich’s mit einem Witz, überlegt Schöbel, oder vornehmer: Gestatten, junger Freund, doch ich war lange vor Ihnen da, bin grad mal die Kartoffeln abgießen gegangen …

Jetzt nickt der Bursche einen Gruß.

Womöglich ist der gar nicht von hier? kommt es Schöbel in den Sinn. Mal sehen, ob er wenigstens Manieren hat und dem Alter den Vortritt lässt.

Der Junge steht wie ein Lichtmast. Plötzlich verneigt er sich ganz tief, ohne die Hände aus seinen hinteren Taschen zu nehmen. Spricht geziemend: „Habe die Ehre, großer Meister.“

Schöbel, der irgendeine Ungehörigkeit erwartete, ist baff, fühlt sich veralbert und geht nun, blind gegen jede Gefahr, den anderen wie ein Truthahn an: „Was für ein Vogel bist ’n du?“

„Der Thomas bin ich“, sagt der Junge, „und stamme aus der Sippe der Handschuks. Alban Handschuk nahm Minna und zeugte Oskar, der nahm Charlotten und zeugte viele, unter anderem auch den Großvater Gottfried, der die gute Rosel nahm und den Wolfgang zeugte, meinen leiblichen Vater, welcher sich Anita nahm und mich, den ungläubigen Thomas … Also kurz gesagt, man nennt mich Tom, großer Meister.“

„Angenehm“, bringt Amigo nur hervor, verblüfft über so einen Redefluss. Vor lauter Staunen schmeißt er die Zigarette weg, obwohl er sie, er ist ein sparsamer Raucher, erst bis zur Hälfte aufgesaugt hat, und zerdreht sie mit der Schuhspitze. Wie verhext ist das! Schon einmal, im vergangenen Herbst, war er zweiter gewesen. Da war kurz vor Ladenöffnung so ein kugeliges Weibchen, die was Kleines erwartete, gleich nach ihm gekommen. Was tut man als Mensch und Kavalier? Tritt zurück, lässt sie also vor – und prompt gab’s für den ersten Kunden eine Flasche Blauen Bison. Und die dicke Mutti ließ sich das überreichen, obwohl sie sowieso keinen Alkohol mehr trinken durfte.

Tom erkennt an der weißen Mütze, dass er es hier nicht mit irgendeinem Alten zu tun hat, sondern mit Amigo, mit einer Persönlichkeit. Er sagt: „Die Bekanntschaft mit Ihnen ist mir ein Vergnügen, großer Meister.“ Zieht die Rechte aus der Hintertasche und hält sie Robert Schöbel hin.

Schöbel packt die Hand des Jungen, dreht und wendet sie und stößt einen Pfiff aus. „Groß wie ’n Klosettdeckel! Was bist ’n von Beruf?“

„Schornsteinfeger.“

„Ich bin nicht der Mann, den man verklapst!“ Amigo ist beleidigt.

Tom zuckt nur die Schultern.

Obwohl … Der Alte beschaut sich genauer die Hand. Schwielen hat die Pranke. Dreck sitzt wie eingeätzt in den Falten und Papillarlinien, bildet ein haarfeines dunkles Muster, das sich nicht wegwaschen lässt, und wenn man noch so schrubbt, ein Muster, das man nur durch kräftiges Zupacken bekommt. Gesichter kann man sich zurechtpfriemeln, mit Bärten oder auch mit Schminkzeug. Aber Hände können nicht lügen, das weiß der alte Mann. Dies ist unbestreitbar eine Hand, die arbeitet.

„Ich hab gedacht, du wärst so ’n erweiterter Oberschüler.“

„Ich bitte Sie! Warum?“

„Du siehst so aus. Und überhaupt. Heut wollen alle durch die Bank bloß Gelehrte werden. Wer will ’n noch arbeiten heute?“

„Ich“, sagt Tom.“

Und das ist eine ebenso schlagfertige wie gute Antwort. Nicht zuletzt diese Aussage macht neugierig auf Tom und auf Jana, mit der in Kürze bekannt werden wird. Und diese Bekanntschaft wiederum wird Folgen haben – für sie wie für ihn. Und darauf dürfen wir wiederum neugierig sein.

Viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen schönen März und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

Ach, und wann waren Sie eigentlich das letzte Mal tanzen? Oder besser und Corona-gemäßer gefragt: Wann dürfen Sie eigentlich das nächste Mal tanzen gehen?

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