„Internationale Netzwerke dürfen sich dem Druck der russischen Medienaufsicht nicht beugen und sich nicht zu Werkzeugen der Zensur machen lassen“, sagt RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Sie müssen mutigen Journalistinnen und Aktivisten weiterhin Plattformen bieten, um über die Zustände im Land zu berichten. Das Regime von Wladimir Putin unterdrückt seine Kritikerinnen und Kritiker heute so massiv wie nie zuvor seit dessen Amtsantritt. Soziale Netzwerke bieten in dieser Situation oft die einzige Möglichkeit, mit Nachrichten jenseits des Staatsfernsehens ein Publikum zu erreichen.“
Bekannter Journalist und Putin-Kritiker geht ins Exil
In der vergangenen Woche gab der Journalist und Satiriker Viktor Schenderowitsch bekannt, er habe Russland verlassen, um strafrechtlicher Verfolgung und einer Gefängnisstrafe zu entgehen. Schenderowitsch ist einer der prominentesten russischen Journalisten. Er wurde in den 90er Jahren als Drehbuchautor für die politische Satire-Sendung Kukly (dt. Puppen) bekannt, die den damaligen Ministerpräsidenten Wladimir Putin scharf kritisierte. Danach arbeitete er unter anderem für den Radiosender Echo Moskwy und den Exil-Fernsehsender RTVi.
Am 30. Dezember erklärte das Justizministerium Schenderowitsch zum „ausländischen Agenten“. Kurz zuvor, am 24. Dezember, war der 63-Jährige wegen einer kritischen Äußerung über den als „Putins Koch“ bekannten Unternehmer Jewgeni Prigoschin zu einer Geldstrafe von 100.000 Rubel (ca. 1.200 Euro) verurteilt worden. Sein Sender Echo Moskwy soll deshalb eine Million Rubel (ca. 12.000 Euro) Strafe zahlen, kündigte aber an, das Urteil anzufechten. Prigoschin, der mit einer Internet-Trollfabrik und der privaten Söldnerfirma Wagner in Verbindung gebracht wird, geht außerdem strafrechtlich wegen angeblicher Verleumdung gegen Schenderowitsch vor. Auch etliche andere Journalistinnen und Journalisten haben Russland inzwischen verlassen, darunter die führende Investigativ-Reporter.
Nachrichtenseite über Polizeigewalt und Justizwillkür gesperrt
Am 25. Dezember blockierte die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor die Seite von OVD-Info. Die Nachrichtenplattform der gleichnamigen Menschenrechtsgruppe informierte über Festnahmen, Polizeigewalt und politisch motivierte Gerichtsprozesse und gehörte zu den wichtigsten Quellen in- und ausländischer Medien bei der Berichterstattung über Proteste und Demonstrationen in Russland. Am 29. September hatte das Justizministerium OVD-Info zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Die Sperrung der Seite begründete die Medienaufsicht mit der angeblichen Verbreitung von Material, das Extremismus und Terrorismus rechtfertige. OVD-Info gab an, die Redaktion sei weder zur Löschung bestimmter Beiträge aufgefordert noch über ein gegen sie laufendes Verfahren informiert worden.
Roskomnadsor forderte die Betreiber sozialer Netzwerke auf, die Konten von OVD-Info zu löschen. Die russische Suchmaschine Yandex zeigt Inhalte der Nachrichtenplattform inzwischen nicht mehr an. Einen Aufruf von OVD-Info an internationale Netzwerke, sich nicht zu „Werkzeugen der Zensur“ zu machen, den auch RSF unterstützt, haben rund 67.000 Menschen unterschrieben (Stand: 17.1.2022).
Einen Tag vor der Sperrung von OVD-Info verhängte die russische Medienaufsichtsbehörde zum ersten Mal Geldstrafen gegen Google und Facebook, deren Höhe sich am Umsatz der Unternehmen orientiert. Weil sie trotz wiederholter Aufforderung zum Löschen verbotene Inhalte anzeigten, soll Google 7,2 Milliarden Rubel (86,5 Millionen Euro) und Facebook fast zwei Milliarden Rubel (ca. 24 Millionen Euro) Strafe zahlen. Ende 2020 waren Gesetze verabschiedet worden, die Strafen von bis zu 20 Prozent des Jahresumsatzes vorsehen, wenn Plattformbetreiber den Anweisungen der Medienaufsicht nicht nachkommen.
Anwälte und Medienrechtlerinnen im Visier
Nicht nur gegen Redaktionen und Medienschaffende gehen russische Behörden vor, sondern auch gegen diejenigen, die sie vor Gericht vertreten. Zwei Anwälte, die den seit Juli 2020 inhaftierten Journalisten Iwan Safronow vertreten, haben aufgrund massiven politischen Drucks inzwischen das Land verlassen. Safronow ist wegen angeblichen Hochverrats angeklagt, ihm drohen bis zu 20 Jahre Haft. Im November 2021 weitete die Anklage die Beschuldigungen gegen den Journalisten noch einmal aus, Ende Dezember verlängerte ein Gericht die Untersuchungshaft bis zum 7. April 2022.
Der Journalist und Rüstungsexperte Safronow wurde zunächst von Iwan Pawlow vertreten, einem der bekanntesten Anwälte Russlands, dessen damalige Kanzlei „Komanda 29“ auch die Stiftung zur Korruptionsbekämpfung des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny verteidigte. Am 21. April 2021 wurde Pawlow mit der Begründung festgenommen, er habe Details aus den gegen Safronow laufenden Ermittlungen öffentlich gemacht. Gegen ihn wurde ein Strafverfahren eröffnet. Am 7. September 2021 verließ Pawlow Russland, da seine Arbeit als Anwalt dort derzeit unmöglich sei. Ende November 2021 floh Jewgeni Smirnow, ein weiterer Anwalt Pawlows, nachdem auf Betreiben des Inlandsgeheimdienstes FSB ein Disziplinarverfahren gegen ihn eröffnet worden war.
Wer die Staatsmacht kritisiert, wird als ausländischer Agent diffamiert
Viele Medienschaffende und ihre Verteidigerinnen und Verteidiger schikanieren die Behörden mithilfe der Gesetze gegen so genannte „ausländische Agenten“. Iwan Pawlow und mehrere andere Mitarbeitende seiner Kanzlei „Komanda 29“ setzte das Justizministerium am 8. November auf eine entsprechende Liste. Als erste Anwältin war am 8. Oktober die international bekannte Medienrechtlerin Galina Arapowa zur „ausländischen Agentin“ erklärt worden. Sie leitet das Zentrum zum Schutz der Rechte von Massenmedien in Woronesch, mit dem RSF seit mehr als 20 Jahren zusammenarbeitet.
Insgesamt umfasst das Register „Ausländischer Medien, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen“ inzwischen 113 Einträge (Stand: 17. Januar 2022). Dazu gehören fast alle Medien, die regierungskritisch oder investigativ aus Russland berichten – oder bis vor kurzem berichtet haben, etwa Meduza, VTimes, Mediazona, Proekt, The Insider, Otkrytye Media oder TV Doschd. Etliche von ihnen haben ihre Arbeit inzwischen eingestellt. Seit dem 8. Oktober 2021 steht auch das internationale Recherche-Netzwerk Bellingcat auf der Liste.
Rund zwei Drittel der Einträge im Register betreffen Einzelpersonen (75 Fälle). Sie sind verpflichtet, regelmäßig detaillierte Rechenschafts- und Finanzberichte vorzulegen – ein hoher bürokratischer Aufwand, den besonders Einzelpersonen kaum leisten können. Weisen die Unterlagen Fehler auf oder unterlassen es Betroffene, sämtliche Inhalte, die sie veröffentlichen, mit dem Zusatz „ausländischer Agent“ zu versehen, drohen hohe Geldstrafen und bis zu fünf Jahre Haft.
Am 30. Dezember wurde neben Viktor Schenderowitsch unter anderem die Pussy-Riot-Aktivistin und Gründerin der Seite Mediazona, Nadjeschda Tolokonnikowa, zur „ausländischen Agentin“ erklärt. Mediazona-Herausgeber Pjotr Wersilow, der bereits seit dem 29. September 2021 auf der Liste steht, wurde am 6. Dezember 2021 zu einer Geldstrafe von 1.500 Rubel (ca. 18 Euro) verurteilt, weil er seine Posts in sozialen Netzwerken nicht mit dem Zusatz „ausländischer Agent“ markiert.
RSF-Länderbericht dokumentiert Internetzensur
Im Update des Länderberichts „Alles unter Kontrolle? Internetzensur und Überwachung in Russland“ beschreibt Reporter ohne Grenzen die systematische Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit im russischen Internet. Der Bericht fasst die Vielzahl der Vorschriften zusammen, mithilfe derer die Behörden kritische Stimmen zum Schweigen bringen wollen: Gesetze gegen angebliche „Falschnachrichten“ oder nicht näher definierte „Respektlosigkeit“ gegenüber dem Staat; Regelungen, die die Tätigkeit internationaler Plattformen einschränken, Daten über Staatsbedienstete unter Verschluss stellen oder einzelnen Nutzerinnen und Nutzern für kritische Äußerungen mit jahrelanger Haft drohen.
RSF fragt in dem Bericht nach der Bedeutung internationaler Plattformen für die Meinungsfreiheit in Russland und dokumentiert die brutale Verfolgung jener mutigen Reporterinnen und Reporter, die trotz aller Einschränkungen weiter kritisch und investigativ berichteten: Gewalt und Angriffe gegen Medienschaffende werden fast nie polizeilich verfolgt, mindestens neun Journalisten und Blogger sitzen derzeit wegen ihrer Arbeit im Gefängnis. Seit dem Amtsantritt Wladimir Putins wurden mindestens 37 Journalistinnen und Journalisten in direktem Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet, keines dieser Verbrechen ist aufgeklärt.
Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit steht Russland auf Rang 150 von 180 Staaten.
Das Update des Länderberichts „Alles unter Kontrolle? Internetzensur und Überwachung in Russland“ finden Sie hier: www.reporter-ohne-grenzen.de/russlandbericht-update
Teil 1 des Berichts „Alles unter Kontrolle? Internetzensur und Überwachung in Russland“ lesen Sie unter: www.reporter-ohne-grenzen.de/russlandbericht
Weitere Informationen über die Lage von Medienschaffenden in Russland finden Sie hier: www.reporter-ohne-grenzen.de/russland
Reporter ohne Grenzen e.V.
Postfach 304108
10756 Berlin
Telefon: +49 (30) 60989533-0
Telefax: +49 (30) 2021510-29
http://www.reporter-ohne-grenzen.de
Telefon: +49 (1515) 6631806
E-Mail: presse@reporter-ohne-grenzen.de