Steigende Inzidenzen rücken gute Nachrichten wie das angekündigte Ende der epidemischen Lage in Deutschland und das geplante Beenden der Maskenpflicht in ein anderes Licht. Dürfen die Menschen dennoch aufatmen? „Die Menschen sollen unbedingt wieder aufatmen; dazu gilt es, auf die Spuren zu schauen, die die Corona-Krise bereits hinterlassen hat und noch immer verursacht“, sagt Vera Rüther, Ergotherapeutin im DVE (Deutscher Verband Ergotherapie e.V.). Sie bezeichnet die Corona-Krise als große gesamtgesellschaftliche Herausforderung und Nährboden für Ängste. Dem etwas entgegenzusetzen bedeutet, die Auswirkungen auf die Psyche der Menschen zu erkennen, anzugehen und zu bewältigen. Jetzt, damit sich die möglichen emotionalen Belastungen nicht verschlimmern, manifestieren oder zu chronischen Störungen und Erkrankungen werden. Hilfsangebote gibt es von vielen Seiten, zum Teil kostenlos.

Die Corona-Krise trifft die Menschen nicht nur wegen der wirtschaftlichen Auswirkungen, vielmehr ist sie der Grund für viele weitere, und vor allem für persönliche Lebenskrisen. Unsicherheit, Existenz-, Zukunfts- und andere Ängste prägen diese Zeit. Aber: kaum jemand will solche Emotionen haben und daher auch nicht wahrhaben. Unterdrückt und unverarbeitet bereiten sie jedoch zunehmend Stress. Schrecken Betroffene davor zurück, sich möglichst frühzeitig in professionelle Hände zu begeben, kann das außer der Verschlimmerung der persönlichen emotionalen Krise für weitere, nicht abzuschätzende Folgekosten für die Allgemeinheit sorgen.

Emotionen hinter der Fassade

„Es ist wichtig und richtig, bei emotionalen Belastungen Hilfe zu suchen, denn frühes Handeln erleichtert die Behandlungserfolge und verhindert ein Chronifizieren“, fordert die Ergotherapeutin Vera Rüther jeden Einzelnen auf, sorgsam mit sich selbst zu sein und gegebenenfalls etwas zu unternehmen. Auch im zwischenmenschlichen Bereich ist Aktivwerden angesagt: Fallen Personen, die einen angespannten, ängstlichen oder sorgenvollen Eindruck machen auf, empfiehlt die Ergotherapeutin, sie einfühlsam, aber mit der gebotenen Dringlichkeit darauf anzusprechen. Grundsätzlich sei es in der aktuellen Situation wichtig, aufmerksam zu sein, denn viele ihrer Patient:innen, sagt sie, gingen mit einer Fassade durchs Leben. Sie lassen ihre wahren Emotionen nicht oder selten nach außen, verschleiern – meist unbewusst – was in Wahrheit in ihnen vorgeht. Es ist schwer, die eigene emotionalen Schieflage zu realisieren. Der eigene Anspruch oder hohe Erwartungen von außen führen dazu, dass Menschen denken, perfekt sein zu müssen. Perfekt sein im Sinne von ‚keine Fehler machen‘, es allen recht machen und die Erwartungen anderer erfüllen, also immer zu ‚funktionieren‘. Funktioniert ein Mensch dann nicht mehr so wie gewohnt, kann er selbst meist ebenso wenig wie sein Umfeld verstehen, weswegen das so ist. Das Selbstbild und Selbstverständnis sind angeknackst – ein als hochbedrohlich empfundener Zustand, den Betroffene häufig nicht als psychisches Problem einordnen können oder wollen. Hinzu kommt, dass psychische Probleme noch immer stigmatisiert sind und vorurteilsbehaftet.

Weltweite Krise verstärkt eigene Emotionen

„Die Corona-Krise hat vieles an den Tag gebracht, verdeutlicht, oder verschärft. Hinzu kommen existierende Spannungsherde wie etwa die Klimakrise, das Flüchtlingsproblem oder soziale Ungerechtigkeit. Probleme mit einer solchen Dimension scheinen kaum lösbar und führen zu dem für viele spürbaren Phänomen des Weltschmerzes. Der ist so groß, dass sich Menschen ganz klein fühlen – klein in dem, was sie bewirken und verändern können“, führt die Ergotherapeutin Rüther aus, was vielen, mitunter zusätzlich zu eigenen Ängsten oder Problemen, zu schaffen macht. Gefühle der Ohnmacht oder Sinnlosigkeit bewirken, dass Menschen frustriert und hoffnungslos sind oder mit der Zeit resignieren. Eine solche Entwicklung lässt sich stoppen. Etwa durch Umdenken. Es darf jetzt zum guten Ton gehören, Emotionen wie Ängste & Co. zuzulassen, sich mit anderen dazu auszutauschen, Hilfe anzunehmen oder selbst Hilfe zu holen – und zwar von dafür ausgebildeten Berufsgruppen.

Viele Wege führen zur Verbesserung der emotionalen Lage

Die Corona-Krise hat die Welt aus den Angeln gehoben und die Lebensumstände vieler Menschen stark verändert. „Die bisherigen Verhaltensmuster und Sichtweisen wie ‚weiter funktionieren wollen‘ sind nicht mehr zielführend, sondern führen zwangsweise dazu, dass sich die eigene Krise weiter zuspitzt“, erklärt die Ergotherapeutin und appelliert an alle, die sich unsicher sind, Kontakt mit Beratungsstellen aufzunehmen. Die Kommunen und Kirchen bieten mitunter kostenlose Möglichkeiten für (auf Wunsch anonyme) Telefon- oder persönliche Beratungsgespräche. Caritative Einrichtungen oder entsprechende Stellen an Universitäten und Hochschulen sind ebenfalls geeignete Plattformen, um mithilfe von hierfür ausgebildeten Expert:innen einen ungefilterten Blick auf sich selbst und die eigenen Emotionen zu erhalten. Für andere ist möglicherweise der Besuch oder das Gründen einer Selbsthilfegruppe der beste Weg. Ebenso sind Gespräche mit nahestehenden Personen aus dem eigenen Umfeld ratsam. Nicht zuletzt ist das Konsultieren des Arztes beziehungsweise der Ärztin des Vertrauens hilfreich; insbesondere dann, wenn sich körperliche Symptome wie zum Beispiel Schlafstörungen, Schmerzen, Energielosigkeit oder Reizbarkeit zeigen.

Mithilfe von Ergotherapeut:innen zu eigenen Lösungen und durch die Krise kommen

Kommen Haus- oder Fachärzt:in zu dem Schluss, die emotionalen Belastungen, die bei vielen durch die Corona-Krise entstanden sind oder verstärkt wurden, bedürften einer Unterstützung, verordnen sie unter anderem Ergotherapie. Betroffene wollen möglichst rasch Hilfe, sobald ihnen die eigene emotionale Situation bewusst ist und sie ihre Notlage akzeptieren. Ergotherapeut:innen, die bereits durch ihre Ausbildung unter anderem medizinisches und psychologisches Wissen besitzen, können dank kürzerer Wartelisten meist direkt mit ihrer Intervention beginnen. Auch dann, wenn die Patient:innen noch keinen Termin bei Psycho- oder Verhaltenstherapeut:innen vereinbaren konnten. Ergotherapie kann alleine beginnen, überbrückend sein und später parallel und in interdisziplinärer Abstimmung mit weiteren Gesundheitsberufen verlaufen. Die erste Aufgabe von Ergotherapeut:innen ist, ihre Patient:innen zunächst zu stabilisieren, was unter anderem dazu dient, die Erkenntnisse über den eigenen psychischen Zustand zuzulassen und zu akzeptieren. Parallel befähigen Ergotherapeut:innen ihre Patient:innen, eigene Lösungen zu kreieren, um einen besseren Umgang mit ihrer eigenen und der allgemeinen Krisensituation zu entwickeln. Ebenso lernen diese Menschen ihre Fähigkeiten und Ressourcen kennen, lernen, sie zu benennen, wertzuschätzen und realistisch einzuschätzen. Wichtige Voraussetzungen, um den Alltag zu meistern, das Leben mit Zuversicht und ohne eine Fassade des Perfektseins zu leben. Das ist im Sinne einer nachhaltigen Wirkung ein zentraler Aspekt der ergotherapeutischen Intervention.

Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeut:innen vor Ort; Ergotherapeut:innen in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche

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