In der Corona-Pandemie entwickelten sich Flüchtlingsunterkünfte wegen räumlicher Enge und fehlender Möglichkeiten sozialer Distanzierung vielerorts zu Hotspots mit einem dynamischen Infektionsgeschehen.
Dr. Nikolai Huke von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) ist im Forschungsprojekt „Gefährdetes Leben. Alltag und Protest in Flüchtlingsunterkünften im Zuge der Corona-Pandemie“ der Frage nachgegangen, wie sich dadurch der Alltag von Asylsuchenden verändert.

Ergebnisse des Projekts werden in einer von PRO ASYL herausgegebenen Studie veröffentlicht. Interviewausschnitte spiegeln das persönliche Erleben der Betroffenen wider. „Die von mir geführten Interviews zeichnen ein in vielerlei Hinsicht erschreckendes Bild vom Alltag in Flüchtlingsunterkünften während der Pandemie“, stellt Dr. Nikolai Huke fest. „Sie zeigen einerseits grundsätzliche Probleme des Unterbringungssystems auf: Rassismus, unzureichende medizinische Versorgung, Lärmbelastung, fehlende Privatsphäre oder Security-Gewalt. Andererseits verdeutlichen sie, wie die Corona-Pandemie in vielen Bereichen problemverschärfend wirkte.“ So schilderten die Befragten, dass sie sich durch Mehrbettzimmer und geteilte Räumlichkeiten wie Speisesäle kaum durch soziale Distanzierung vor einer Infektion schützen konnten. Vielerorts fehlten Masken, Seife oder Desinfektionsmittel. „Mehrwöchige Quarantänen waren nicht nur psychisch belastend, sondern erhöhten – durch weiterhin enge Kontakte der Bewohner*innen untereinander – in einigen Fällen auch die Infektionsgefahr. Sozialmanagement und Behörden waren teilweise nur noch begrenzt erreichbar.“

Gewalterfahrungen und gesellschaftliches Desinteresse

„Viele der von mir Interviewten hatten das Gefühl, mit ihren Erfahrungen in der Öffentlichkeit kein Gehör zu finden. Sie hatten daher ein großes Bedürfnis, von den Problemen, denen sie im Alltag gegenüberstehen, zu erzählen“, führt Huke weiter aus. „Teilweise haben sie in den Interviews von extremen Belastungserfahrungen erzählt, über die sie jenseits ihres unmittelbaren Umfelds noch kaum gesprochen hatten, etwa am eigenen Körper erlebte Security-Gewalt. Wichtig war es dafür, dass die Befragten in einer Sprache sprechen konnten, in der sie keine Hemmungen oder Schwierigkeiten hatten, zu erzählen. Ich habe daher die Interviews – je nach Muttersprache und Deutschkenntnissen der Interviewten – auf Deutsch, Englisch, Französisch oder – mit Sprachmittlung – auf Farsi geführt. Da mir wichtig ist, dass die Erfahrungen der Asylsuchenden in der Öffentlichkeit eine größere Aufmerksamkeit erhalten, freue ich mich sehr, dass PRO ASYL sich bereit erklärt hat, Ergebnisse der Forschung in Form der vorliegenden Studie zu veröffentlichen.“

Auch PRO ASYL begrüßt die Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftler der Universität Kiel. „Die vorliegende Studie lässt die Betroffenen ausführlich zu Wort kommen. Dies ist auch deshalb ein wichtiger Beitrag, weil der Zivilgesellschaft der ungehinderte Zugang in die Erstaufnahmelager und damit ein kritischer Blick auf deren innere Verhältnisse mancherorts verwehrt wird“, stellt die Menschenrechtsorganisation im Vorwort der Studie fest. „Die Äußerungen der Bewohner*innen in der Studie zeigen, dass die strukturellen Bedingungen in Erstaufnahmeeinrichtungen und anderen Massenunterkünften für die Bewohner*innen eine üble Zumutung und für ihre gesellschaftliche Partizipation kontraproduktiv sind“, betont Andrea Kothen von PRO ASYL. „Sie bestätigen einmal mehr die Kritik, die wir gemeinsam mit vielen anderen Organisationen an den AnKERzentren haben. Die Lager gehören abgeschafft, wir brauchen eine neue Aufnahmepolitik.“

Was sich ändern muss – Handlungsempfehlungen

Basierend auf den Ergebnissen der Interviews spricht die Studie folgende Handlungsempfehlungen aus:

–          Der Wohnungsunterbringung von Geflüchteten sollte Vorrang gegenüber der Unterbringung in Sammelunterkünften haben.

–          Der Zugang zur regulären Gesundheitsversorgung in Form der gesetzlichen Krankenversicherung sollte unmittelbar ab der Ankunft in Deutschland sichergestellt sein.

–          Um faire Asylverfahren sicherzustellen, brauchen die Betroffenen vor der Anhörung ausreichend Ruhe, einen sicheren Ort und eine unabhängige, parteiliche Asylverfahrensberatung.

–          Um Gewaltschutz in den Unterkünften sicherzustellen, sind rechtlich verbindliche und effektive Schutzkonzepte notwendig.

–          Übergreifend muss es darum gehen, Selbstbestimmungsrechte der Asylsuchenden zu stärken und einen menschenwürdigen Umgang sicherzustellen.

Zum Hintergrund

Dr. Nikolai Huke, Wissenschaftler vom Institut für Sozialwissenschaften, führte 16 problemzentrierte qualitative Interviews mit Asylsuchenden, die während der ersten und zweiten Welle der Pandemie in Flüchtlingsunterkünften lebten. Im Mittelpunkt des Forschungsprojekts stand die Frage, welche Formen von politischem Protest gegen die Unterbringungsbedingungen im Zuge der Corona-Pandemie entstehen. Hierfür wurden über eine Medienanalyse Unterkünfte identifiziert, in denen es zu öffentlich sichtbaren Protesten kam. Für diese Unterkünfte wurde über das Sozialmanagement oder zivilgesellschaftliche Unterstützer*innen ein Kontakt zu Bewohner*innen für die Interviews hergestellt. Die Interviews wurden aufgrund der Pandemie telefonisch oder per Videokonferenz geführt.

Die Studie „Bedeutet unser Leben nichts?“, Erfahrungen von Asylsuchenden in Flüchtlingsunterkünften während der Corona-Pandemie in Deutschland, ist auf der Seite von PRO ASYL als PDF verfügbar.

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E-Mail: nhuke@politik.uni-kiel.de
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