Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Heute geht es um ein leider immer noch aktuelles Thema, allerdings in historischer Sicht – um den Kampf gegen den Faschismus und um den Anteil der französischen Résistance daran. Allerdings hat der Kampf gegen den Faschismus auch die Kämpfer dagegen verändert …
Erstmals 2013 veröffentlichte EDITION digital als Eigenproduktion den Roman „Suche nach mehr“ von Uwe Berger: Die Handlung entwickelt sich vor und nach 1945. Schauplätze sind Berlin, Dresden und Paris. Der Ingenieur John steht zwischen zwei Frauen, der mit ihm verheirateten lasziven Helene, die nazifreundlich ist, und der attraktiven Carola, die in seinem AEG-Betrieb als Sekretärin arbeitet und einer linken Gruppe angehört. John verbirgt sie vor der Gestapo. Carola kann nach Frankreich fliehen. John bleibt und hat Kontakt zu einem Mitglied der verschwörerischen „Teegesellschaft“. Von Helene geschieden, versucht John nach dem Krieg in Ostberlin mit der aus der Résistance selbstsicher zurückgekehrten Carola zu leben. Er, den die lauernde Gewalttätigkeit Helenes abgestoßen hat, erträgt auch die intolerante Starrheit Carolas nicht. Er sucht nach mehr. Am Grabmal von Walther Rathenau erkennt er, wie sehr er mit den Verhältnissen in Ostberlin kollidiert, wie einsam er ist, und erliegt bald darauf einem Herzversagen. Hier ein etwas längerer Textausschnitt, in dem auch die Frage nach dem Recht auf Gewalt gestellt wird:
„5. Kapitel
Von seinem Schreibtisch aus sah John auf den Schnee, der die Konturen der kahlen Kastanie hervorhob, die Dächer gleichförmig machte und sich in der Färbung kaum vom Grau des Himmels unterschied. Ein feiner Dunst verband alle Dinge miteinander. Was für eine distanzierte, öde Trostwelt. Die Soldaten, die vor Moskau im Schnee wohnten, mochten das noch ganz anders empfinden. John versuchte, sich in ihre Lage zu versetzen. Aber es gelang ihm nicht, einen Sinn – einen wirklichen, nicht vorgegebenen Sinn – in dem blutigen Kreuzzug gegen den Osten zu entdecken. Er holte sich das schwarze Heft, sein Tagebuch, heran, setzte das Datum dieses Februartages an den Anfang einer Seite und dachte schreibend:
„Ist eine Handlung sinnvoll, die auf die gewaltsame Niederwerfung eines Widersachers zielt? Wer steht sich da bei Moskau gegenüber, Angreifer und Verteidiger, Räuber und Beraubte oder Gewalttätige und Gewalttätige? Auch die Revolution brachte Gewalt, viel Gewalt. Wie heißt es doch bei Reinhold Schneider:
Denn Täter werden nie den Himmel zwingen:
Was sie vereinen, wird sich wieder spalten,
Was sie erneuern, über Nacht veralten,*
Und was sie stiften, Not und Unheil bringen.
Hat nicht Hitler die Methoden Stalins nachgeahmt und für seine Zwecke verwendet? Kann nicht Gewalt, maßlose, auf dem einen wie auf dem anderen Boden gedeihen wie giftiges Unkraut? Was für eine Zeit, in der solche Gewalt aufeinanderstößt, in der sie in Antwort und Gegenantwort sich immer mehr steigert. Wer setzt dem ein Ende, wenn nicht der Mensch. Und was ist, wenn dem kein Ende bereitet wird? Dann bleibt von allem wohl nur eine ‚zimtfarbe Neige Staub‘, wie Oskar Loerke sagt.
Ich weiß, dass Gewalt gegen mich angewandt würde, käme dieses Tagebuch ans Licht. Ich weiß, dass ich meine Familie in Gefahr brächte, setzte ich Gewalt gegen Gewalt. Die Tätlichkeit, die ich erlebe, hat schon genug zerstört – in mir. Man liebt seinen Unterdrücker nicht, heißt es. Ich lasse mich nicht unterdrücken, aber es wächst in mir eine kühle Gleichgültigkeit gegen die, die mich zu unterwerfen versucht. An die Stelle der Liebe rückt die vernünftige Überlegung, ja die kalte Berechnung, was denn besser sei, zu dulden oder sich zu wehren.
Kalte Berechnung scheint übrigens nicht die Wesensart der Russen zu sein. Und meine Wesensart scheint es nicht zuzulassen, die Hand, die mich schlägt, zu segnen. Ehrlich gesagt, ich fände mich selbst widerlich, wär ich so. Die Entgleisungen eines Menschen, die ich erfahren muss, mögen in seiner Psyche begründet sein. Aber diese Psyche ist ganz sicher auch geprägt von der Zeit, einer gewalttätigen Zeit. Wenn Ich in die Fratze der gewalttätigen Wut blicke, seh ich das Gesicht der Zeit.“
Aufatmend lehnte sich John zurück und schraubte den Füllfederhalter zu. Ohne das Geschriebene noch einmal zu überlesen, nahm er das Tagebuch und schloss es weg. Helene war wieder einmal bei ihrer Mutter zu Besuch; sie hatte Ditte mitgenommen.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.
Erstmals 1996 erschien bei Frankfurter Oder Editionen, Regionalia Brandenburg „Stille Wasser sind tief. Der Helenesee und andere Geschichten“ von Karl-Heinz Schleinitz: Der Autor erzählt in seinem Buch vom berühmten wunderschönen, ach so stillen Baggersee Helene, von den Jahren des Entstehens, darin eingeflochten seine recht privaten Jugenderlebnisse. Was für erregende wie bewegende Geschichten und Zusammenhänge! Zum anderen kramt er in Erinnerungen, keine Biografie, und da haben selbst seine heitersten Geschichten immer einen tieferen Sinn. Der Autor nennt sie „Vergissmeinnichts“. Wobei er sich nicht scheut, auch intimere Erfahrungen, Ansichten und Bekenntnisse mitzuteilen …
Ein Vergissmeinnicht mehr von der bitteren Art: wie er mithelfen musste, im Juli 1945 von Rosengarten aus Gleise der Bahnstrecke Frankfurt-Berlin auf die russische Spurbreite umzunageln – damit ein gewisser Stalin in seinem Salonzug ohne umzusteigen von Moskau nach Potsdam zu der historischen Konferenz reisen konnte. Wahnsinn! Ein Buch zum Nachdenken über damaliges Lebensgefühl. Und gleich zu Beginn wird es sehr privat:
„Doch Lenchen lächelt nur und schweigt
Die Schöne Helene – wer in den östlichen Gefilden unseres Landes kennt sie nicht, die anscheinend immerfort nur still vor sich hin lächelnde. Rekelt sich im gleißenden Sand, wie ständig auf Wollust gierend ihre heißen Arme nach dir ausgestreckt, die hellen Schenkel, oh Mann, widerstehe mal!, herausfordernd gespreizt, dabei fürsorglich beschützt vorm Trubel der Welt von verschwiegenen märkischen Gardekiefern samt dem dichten Wildwuchs zu ihren Füßen. Jedermann kennt zumindest vom Hören und Sagen diese Helene: den an die zwei Kilometer langen und stellenweise fast einen Kilometer breiten Baggersee bei Frankfurt an der Oder, an manchen Tagen besucht von über 20 000 Erholungssüchtigen, Nackigbaden jede Menge möglich, klares Wasser bis zum Grund von 67 Metern, ein Paradies der Tauchsportler aus aller Welt für ihre Meisterschaften usw.
Wesentlich beigetragen zum Entstehen des ehemaligen Braunkohlentagebaus Helene hat der D 700, seinerzeit der größte Eimerkettenbagger Deutschlands: am Steuerpult und als Kapitän der Besatzung seiner Schicht in den letzten Kriegsjahren der Baggerführer Herbert Schleinitz – mein lieber Vater.
Mal wollte ich mit ihm angeben. Wenigstens ein bisschen. Liebesgründe. Das war im Sommer 1939, jenem trügerisch schönen letzten vor dem großen Morden. Zwar kannte da unsereins das zweitschönste aller Gefühle bereits ausgiebig. Es zu genießen hatte ich angefangen, noch keine Fünfzehn, in den Sandhügeln beim nahen Müllrose, „Das deutsche Volk muss ein Volk von Fliegern werden!“, mit schier gewaltigen Sprüngen von 13 Sekunden Dauer und so. Um freilich drei Jahre später bisweilen für Ewigkeiten unter den Wolken zu hängen, auch mal, war einem die Thermik freundlich gesonnen, zwischen ihnen im strahlenden Blau kreisend. Nur eben das andere. Das mit dem erstschönsten. Obgleich nun bereits 18, war da noch nichts. Worüber meine Herren Enkel infam kichern. Als ob sie mitreden könnten. Wie sind wir denn erzogen worden. Und überhaupt: Welches Mädchen wollte schon mit einem gehen, wie es damals hieß, der wegen seines Fliegerfimmels Wochenende für Wochenende mit dem Fahrrad über Land gondelte.
Aber nun die Ruth. Das Haselnussmädchen aus einer Ecke viele Dörfer weiter. Mit dem es was werden könnte. Werden muss! Die Ruth, derentwegen ich nachts keine Ruhe finde. Die mein Vater endlich kennenlernen will. Und umgekehrt. Was mir sehr zupass kommt. Denn so groß und stark wie mein Vater werde auch ich mal sein, liebe Ruth! Und er ist wer. Wenn auch noch lange nicht der Kapitän eines Riesenbaggers, wovon er träumt. Hat sich erst vor kurzem aus der grauen Gleiskolonne, die unter dem Tausendfüßler mit seinen rollenden Beinen Ordnung zu halten hat, die steile stählerne Treppe zur untersten Etage gewissermaßen hochgedient. Ist in der fünfköpfigen Stammbesatzung vorerst lediglich die letzte Kraft. Der Schmierer. Einer von denen, die ihres Aussehens wegen am Schichtschluss der „Schwarze“ genannt werden.
Und so stehe ich mit ihr im Heidekraut am Rande des Tagebaues Katja, überm Aufschluss des Helene-Flözes tüfteln da noch die Markscheider, und vom Planum unter uns kreischt und dröhnt es herauf, immer wieder durchsetzt von einem dumpfen Knall, stürzt ein Findling in den nächsten noch halbwegs leeren Waggon … und meine Ruth ist hingerissen von dem dort unten. Wie das gewaltige Tier so aufregend stur herankriecht, die unzähligen Eimer an seinem Dutzende Meter langen Rüssel erbarmungslos den Abraum wegfressen, den die skandinavischen Gletscher mit sich schleppten, die Urwälder in unseren Breiten niederwalzend, sie im Laufe der Jahrtausende zu Braunkohle verwandelnd.
„Komm, Ruth!“
Da stürmen wir auch schon die Böschung des kleinen ersten Schnitts hinunter, ab und zu Kobolz schießend, was macht das schon, tut einem ja nicht weh, der feine helle Sand. Ist quasi anständiger nordischer Rasse wie unsereins. Man hat schließlich aufgepasst in der Schule. Und die Ruth hält das Sträußchen Stiefmütterchen aus ihrem Rosengarten immer so, dass sie auch ja nicht beschädigt werden, sie sind eine ihrer Lieblingsblumen, und endlich können wir über die vielen Bagger- und Zuggleise hinweg auf die sachte sich heranschiebenden gleichsam himmelwärts führenden Stufen zusteuern.
Oben steht der Vater. Ist im Gesicht noch nicht ganz der Schwarze. Lacht uns an. Muss uns die ganze Zeit über beobachtet haben. „Nicht die Hand geben!“, warnt er, sicherheitshalber die Arme hochstreckend, die öligen Finger weit auseinander.
„Für Sie!“, sagt die Ruth.
Der Vater blickt verdattert auf die schmachtenden Gesichterchen der Stiefmütterchen, Überraschung herrlich gelungen!, nimmt ihr endlich behutsam die Stängelchen ab, er werde sie gleich in seinen Teebecher stellen. Um danach unumwunden zu gestehen, die Ruth verschmitzt anlächelnd: „Du gefällst mir, Mädchen.“´
Erstmals 1963 veröffentlichte Karl-Heinz Schleinitz im Dietz Verlag Berlin „Morgen am Lickweg“: Fruchtbar sind die Felder am Lickweg. Das alles war einmal Junkerland, und nur an einer Stelle ragte der Lansfid-Acker mitten hinein in die Domäne des Herrn. Zwei Jahrhunderte lang hielten sich die Lansfids hartnäckig gegen den Junker, und als er 1945 zum Teufel gejagt wurde, begrüßte und unterstützte Robert Lansfid die Bodenreform aus ganzem Herzen. Nun aber, da der weitere Schritt zur Genossenschaft vor ihm steht, stemmt er sich mit aller Macht dagegen.
Die stürmischen Märztage 1960 haben das Dörfchen Spellhagen in Aufruhr gebracht. Doch was ist das, was sich sichtbar vor aller Augen abspielt, verglichen mit dem Sturm, der unter jedem Dach, in jedem Menschen tobt, mit dem Für und Wider langer schlafloser Nächte, mit dem Hoffen und Suchen, als endlich die Raine gefallen sind und dem leichthin über den Zaun gesprochenen Wort nun die Beratung am gemeinsamen Tisch und die Arbeit auf dem gemeinsamen Feld folgen muss. Hier der Anfang dieses spannenden Rückblicks in eine klassenkämpferische Zeit:
„MEINER MUTTER
UNBEANTWORTETE FRAGEN
Der Zug fuhr nach Norden. In einem seiner Abteile saßen Otto Schramm und sein Sohn Hannes. Sie schwiegen. Ihre Mitreisenden waren stadtfein geputzte, aufgeregt schnatternde Weiber, die ungeniert über die Kollektivierung herzogen und dennoch meinten, man dürfe ja darüber nichts sagen, schon würde man abgeholt.
Hannes Schramm, ein schlanker, sportlicher Bursche mit länglichem Gesicht, schräg gestellten dunklen Augen, mit Grübchen in Wangen und Kinn, hatte neben sich einen Stapel Bedrucktes liegen. Er las in einer Broschüre. Die bewältigten Seiten glichen mit ihren roten und blauen Strichen, Pfeilen, säuberlich nummerierten Kreisen und Kommentaren einem strategischen Aufmarschplan. Auf der Titelseite war zu lesen: Musterstatut der LPG Typ III. Das hatten die Frauen noch nicht entdeckt, obwohl es in großen Buchstaben gedruckt stand.
Otto Schramm, ein Mann Anfang der Fünfzig mit ebenmäßigen Gesichtszügen und festen, breiten Lippen, die in tiefen, nach unten ziehenden Mundwinkeln endeten, träumte sich aus dem überheizten, muffigen Abteil hinaus in den reinen Februartag. Seine Stirn, die hoch und klar war, vom Grau kräftiger Brauen und dichtem Kopfhaar eingefasst, hielt er gegen die kühle Scheibe gelehnt. Mitunter reizte es ihn, den Zeternden über den Mund zu fahren und zu sagen: Ihr lieben Frauen, was keift ihr nur, ihr werdet euch noch die Zunge abbeißen, ihr straft euch ja selber Lügen! Aber dann konnte er doch nicht den Blick von der träge vorbeiziehenden Landschaft reißen. Er ließ seine Gedanken treiben und sprang mit ihnen über die Gehölze, die als braungrüne Flecken die Ebene durchbrachen. Sein Blick blieb hängen an Äckern, deren Krume nassschwarz glänzte. In ihren Furchen blinkten die zusammengeronnenen Wasser des Winters. Die Sonne leckt schon! dachte Schramm und meinte zu spüren, wie aus allen Poren und Rissen der Kruste die bislang eingefrorenen, nun befreiten Düfte stiegen, um den hohen Raum unter dem milchig blauen Himmelsgewölbe mit herben Gerüchen zu würzen, und er glaubte zu sehen und zu hören, wie das erstarrte, schweigende Gewölbe zu schwingen begann. Naht ein zeitiges Frühjahr?
Der Träumende holte tief Luft. Als ob er erwartet hätte, den sauberen, erdigen Odem des Vorfrühlingstages zu atmen und nun übel enttäuscht war, wandte er seinen Blick vom Fenster weg dem Abteil zu. Er wischte mit dem Handrücken über die umschatteten, grünlichen Augen und sah und hörte die Frauen wie vordem hecheln. Aber er konnte sich nicht entschließen, ihrem Gewäsch das Wasser abzulassen, seine einzige Reaktion blieb ein ärgerliches Kopfschütteln, ein Runzeln der Stirn. Er drehte sich wieder dem Fenster zu, fuhr mit der Hand zärtlich, fast tastend über die Scheibe mit dem dahinterliegenden Landschaftsbild, wie über das Bild einer frühen Geliebten, und fragte sich wieder und wieder: Wie konnte ich nur so lange ohne dich sein, du liebes, vertrautes Land. Du warst mir entrückt. Hatte ich dich vergessen? Wie konnte ich’s übers Herz bringen, die ganzen Jahre über Spellhagen nicht zu sehen, Spellhagen und Robert Lansfid …
Schramm versuchte sich vor den eigenen Angriffen zu verteidigen. In der Illegalität – konnte ich da mit Robert in Verbindung treten? Das durfte ich nicht. Und danach? Wir hatten die Fabriken aufzubauen. Wir hatten sie zu übernehmen. Wir hatten überall einzuspringen und zu helfen. Das Leben blutete: eine zerfetzte Haut, die geflickt werden musste. Schramm hierher, Schramm dorthin. Da ist ein Tagebau ersoffen. Du hast keine Ahnung vom Bergbau, du weißt nicht, wie du ihn leer kriegst? Aber Genosse! Du musst an die Frage politisch herangehen! Und wenn du ihn leer hast, bleibst du gleich als Direktor da. Dann wieder stand die Frage der Kultur. Was, du bist kein Fachmann? Aber Genosse, du bist doch belesen, Mandoline spielst du auch. Dann hatte man Bürgermeister zu sein. Dann Parteisekretär. Du lieber Himmel, wie lange dauerte es, bis ich wieder Stahl in die Hand bekam. Stahl formt sich ja so leicht …
Otto Schramm wendete die Hände, die entspannt auf den Oberschenkeln lagen. An den Griffstellen war die Haut dick und braun. Seine Mundwinkel hoben sich zu feinem Lächeln. Schwielen sind doch eine hübsche Garnierung, dachte er, selber weiß man, was man getan hat, und jeder andere sieht auf den ersten Blick, wohin man gehört.
Dann verschwand das Lächeln. Wieder waren die Vorwürfe da, die Landschaft fragte, Spellhagen, das kleine Dorf, das er irgendwo hinter dem Horizont wusste, fragte, und vor seinen Augen stand in diesem Dorf Robert Lansfid auf und rief mit fordernder Stimme: Wie konntest du uns nur so lange warten lassen? Und so sehr sich Schramm zu rechtfertigen suchte vor diesen Stimmen, sie blieben stärker.
Die Schramms verließen den Zug in Useklam, einer Stadt am Rande der ebenen Haffwiesen. Von den Zeiten der Hanseaten an war ihre Silhouette harmonisch gewachsen. Schramms Wiedersehen mit ihr war schmerzlich. Er hatte ihren Rhythmus der hochstrebenden Kirchen und wuchtigen Tore geliebt und fand davon wenig wieder.
Sie meldeten sich in der Kreisleitung, wo sie mit anderen Genossen empfangen und in ihre Aufgabe als Parteibeauftragte eingewiesen wurden. „Trage uns für Spellhagen ein“, forderte Otto Schramm mit seiner harten und doch angenehm klingenden Stimme vom Sekretär.
Der Sekretär, ein dicht umlagerter junger Mann, der zwischen nervösen Zigarettenzügen ein Kreuzfeuer von Fragen zu beantworten hatte, hob beschwörend die Hand. „Das geht nicht, Genosse. Ihr könnt nicht alles durcheinanderbringen. Du hast doch gehört, ihr seid für Stutensid eingeteilt. Haltet bitte Disziplin.“
„Ich muss nach Spellhagen“, sagte Schramm fest. „Versteh das: Ich kenne Spellhagen. War bis Mai fünfunddreißig dort. Ich muss hin!“
Der Sekretär zog hastig an der Zigarette und blickte ihn prüfend an. „Also Ortskenntnisse!“ Er änderte mit fahrigen Bewegungen die Liste. „Warst lange nicht da, wie? Dann sei nicht enttäuscht. Sei auf alles gefasst. Dort bohrt der Klassengegner. Wir wissen nicht wer, aber wir spüren, dass einer bohrt. Spellhagen bleibt zurück. Ein Schwerpunkt. Dabei ist die Typ III in Ordnung. Nur ihr Vorsitzender ist ein bisschen sehr linksradikal. Wir hatten ihn schon vor, aber es hilft nichts. Hermann Kreek scheint unverbesserlich.“
Otto Schramm, der kaum erwarten konnte, die Frage nach Lansfid zu stellen, sah den Sekretär überrascht an. Er musste auflachen. Der Sekretär fragte missbilligend: „Warum lachst du?“
„Sagtest du Hermann Kreek?“, vergewisserte sich Schramm.
„Hast richtig gehört.“
„Er hat einen Linksdrall? Und zweiunddreißig, als ich zu ihm mit unserem Bauernprogramm auf den Hof kam, da brüllt er mich an, Kommunisten hätten darauf nichts zu suchen. Den Hund hat er mir nachgejagt!“
„Er ist jetzt unser Genosse“, sagte der Sekretär rasch und betont, wohl in Sorge, Schramm könnte über unliebsame Erinnerungen nicht hinwegkommen. Doch Schramm war in Gedanken schon wieder bei Robert Lansfid, und er fragte den Sekretär, ob er ihn kenne.
„Ihn hast du auch noch in Erinnerung? Donnerwetter. Ein gutes Gedächtnis.“ Die Stimme des Sekretärs klang anerkennend. „Freilich kenn ich Robert Lansfid. Wer kennt ihn nicht? Meisterbauer. Eine Kanone im Kreismaßstab.“
„Ich habe es nicht anders erhofft.“
„Hoffen und Harren hält manchen zum Narren. Uns ging es nicht anders. Wir dachten: Nun, Lansfid ist Meisterbauer, er wird eine Lokomotive sein und die anderen nachziehen. Pustekuchen. Er zog nicht. Er tat’s einfach nicht. Ich sage dir, mein lieber Genosse – wo kommst du doch gleich her … ja richtig, vom Schwermaschinenbau –, ich sage dir, die Bauern sind kompliziert, nicht so wie unsere Arbeiter. Da sage ich dir altem Genossen nichts Neues. Nimm nur deinen Lansfid: Nach landwirtschaftlicher Nutzfläche wäre er ein guter Mittelbauer. Aber politisch: ein typischer Großbauer. Manchmal geradezu reaktionär.“
„Reaktionär?“ Schramm konnte das Wort nicht verdauen. „Er hat mich vor den Faschisten gerettet.“
„Umso verwunderlicher, seine heutige Haltung. Wirklich. Umso verwunderlicher.“
„Lansfid ist gut!“, behauptete Schramm in barschem Ton. „Ich glaube dir deine Einschätzung nicht.“
„Du sollst nicht glauben, du sollst wissen“, erwiderte der Sekretär scharf. „Ich sage so etwas nicht leichthin. Wer hatte denn mit ihm zu tun? Du oder wir? Du kennst ihn doch gar nicht mehr.“
Schramm musste sich eingestehen, dass darin der Sekretär recht hatte, aber er versuchte der Sache auf den Grund zu gehen und damit Lansfid erneut zu verteidigen. „Gut, ihr hattet mit ihm zu tun. Aber nun frage ich dich, was habt ihr getan, dass diese Kanone, wie du sagst, zu einer Lokomotive wird? Was habt ihr getan?“
Der Sekretär unterdrückte seinen Ärger und versuchte im sachlichen Ton zu sprechen. „Ich habe in deinen Unterlagen gelesen, dass du AGL-Vorsitzender bist. Das stimmt doch? Gut. Und nun sei mal offen: Wie schimpfst du und ärgerst dich, wenn du mit der politischen Arbeit nicht schnell genug vorankommst! So ist es doch? Alles geht dir zu langsam. Du fühlst dich geradezu am Schwanz der Geschichte. Ist es so? Dabei marschieren die, mit denen du politische Arbeit zu leisten hast, jeden Morgen vor dir auf. Jeden Morgen Punkt sechs! Sie stehen da wie auf einem Tablett. Aber bei uns in den Dörfern? Wann bekommst du schon mal die Bauern zusammen. Hundert Bauern sind hundert Betriebe. Hinter jedem müsstest du einen Instrukteur haben. Aber wie sieht es bei uns aus? Nicht mal einen Instrukteur haben wir für Spellhagen. Das heißt, wir haben einen, aber er liegt ständig lang. Rheuma – von der Motorradkutscherei. Wundert’s dich noch, dass Spellhagen Schwerpunkt ist? Dass dein Lansfid nicht kommt? Ich sage dir, ich hätte hundert Instrukteure haben müssen, ach, was rede ich, ein Dutzend gute Genossen hätte genügt, und ihr hättet nicht zu kommen brauchen, wir hätten den Kreis schon umgekrempelt.“
Die Umstehenden raunten einander zu. Schramm nagte, den Blick zum Boden gewandt, an den Lippen. Er dachte nach. Alles hörte sich so richtig an, was er sagte. Aber war es denn richtig?“
Erstmals 1961 veröffentlichte Karl-Heinz Schleinitz im Verlag Tribüne Berlin „Ins Herz geblickt. Skizzen“: Die hier zusammengetragenen Reportagen, Skizzen und Kurzgeschichten wurden vornehmlich für das Organ des Zentralkomitees der SED „Neues Deutschland“ um 1960 geschrieben und dort veröffentlicht. Voll Spannung verfolgt der Leser die konfliktreichen Handlungen, das Ringen der Menschen um die Überwindung alter, überlebter Gewohnheiten und Anschauungen, die Hinwendung vom Ich zum Wir. Dabei hat es dem Autor gefallen, „mit Lachen die Wahrheit zu sagen“. Mit kräftigen Strichen hat er die Personen gezeichnet. Es sind typische Menschen mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Man spürt deutlich, dass sie dem Autor begegnet sind. Hier eine dieser Skizzen, die deutlich den damaligen Zeitgeist und den historischen Optimismus vom Sieg des Sozialismus spüren lassen:
„DIE ALLGEGENWÄRTIGE KRAFT
Von der führenden Rolle der Partei, und die Sache mit den unehrlichen Minuten
Alte Genossen sitzen beisammen, und ihre Gespräche holen Versunkenes aus dem Meer der Vergangenheit. Willi Bernhardt, der Einundsechzigjährige mit dem schlohweißen Haar, der Vorgänger des jetzigen Werkdirektors der Pumpenwerke, Mitglied der Arbeiterpartei seit 1915, erzählt. Einst war er als roter Matrose Soldatenrat, kämpfte gegen Kapp und durchlitt 1921 die qualvollen Stunden im Leuna-Silo, wo die letzten Kämpfer der Märzaktion auf den Tod warteten.
„Einmal, 1929, kandidierte ich für die SPD als Stadtverordneter. Das bekam der Fabrikbesitzer spitz, bei dem ich als Meister arbeitete. Er bestellte mich ins Büro. ,Ich höre, Sie wollen Stadtverordneter, roter Stadtverordneter werden! Ich rate Ihnen: Legen Sie die Kandidatur nieder – oder ich muss Sie entlassen!‘
.Aber warum denn?‘, wollte ich wissen.
,Ja, meinen Sie im Ernst, ich lasse mir von einem meiner Angestellten vorschreiben, wie viel Steuern ich zu bezahlen habe?‘, erklärte der Ausbeuter.
Nicht im Traum wäre mir eingefallen, meine Klasse zu verraten. Ich wurde fristlos entlassen …“
Unzählige Arbeiter der volkseigenen Pumpenwerke haben früher ähnliches am eigenen Leibe erfahren, und sie denken an den Genossen Ernst König, den die Nazis legal ermordeten, weil er für die Befreiung der unterdrückten Menschen kämpfte. Und dennoch siegte die Idee von Marx und Lenin! Sie, von der Ausbeutergesellschaft gefürchtet und gehasst, ist heute die allgegenwärtige, die Menschen mobilisierende Kraft auch im Pumpenwerk. Ohne sie wären die Erfolge der Pumpenbauer nicht möglich. Im Wirken der Partei wird diese Kraft am deutlichsten spürbar.
Manchmal sieht man wenig von organisierter Parteiarbeit – dem Schlosser Genossen Fritz Heinrich und dem Dreher Genossen Karl Stöbe ist die Zunge wie Blei, wenn sie Versammlungen in ihrer Gruppe leiten sollen. Aber in ihrer Arbeit machen sie die Idee lebendig, und zwischen zwei Frühstücksbroten fällt das richtige Wort. Darum ist die Partei angesehen. Wenn zum Beispiel der Maler Werner Gätschmann, ein ehemaliger Flieger, von seinem Brigadier Heinrich Brenn spricht, der würde nicht ins „Mauseloch“ kriechen und sich mit einem „rumbalgen“, dann weiß Werner Gätschmann, dass mit der Stimme Heinrich Brenns die Partei geantwortet hat.
Allgegenwärtig ist die Partei! Sie mahnte in der Parteileitungssitzung den Direktor durch den Mund des Gießers Genossen Reinhold Warnecke, sorgsamer bei Kaderfragen zu sein; sie organisierte, als die Erfüllung des Exportplanes gefährdet war, wöchentliche Besprechungen, die den Willen der Arbeiter inspirierten, mit dem Erfolg, dass zum Jahresende alle Rückstände aufgeholt waren; sie interessierte über die jungen Genossen die Jugendlichen des Betriebes, ein „Konto junger Sozialisten“ einzurichten, für das von Jugendlichen zehntausend Mark aus Ersparnissen von Betriebsmaterialien und so weiter aufgebracht werden sollten; sie half über den Genossen Wilhelm Völksch dem jungen Dreher Hans Hofmann – der Mann, der den „König der Dreher“ entthronte – beim Einführen von Neuerermethoden; sie gab in Menschen wie dem alten Genossen Otto Röder Beispiele an Klassenverbundenheit, Mut und Treue.
Und es geschieht auch folgendes: Der Parteisekretär Kurt Trabhardt geht bei einem seiner Betriebsrundgänge auf den Dreher Kocich zu und sagt: „Hans, her mit dem fälligen Kasten Bier.“
Hans spielt den Ahnungslosen und entgegnet: „Ich weiß von keinem Kasten Bier!“
„Was“, plustert sich der Parteisekretär künstlich auf, „du weißt von nichts? Komm, ich werde deinem Gedächtnis nachhelfen.“
Trabhardt geht zum Werkzeugschrank der Drehbank, an der er einst stand, und macht die Tür auf. Im Allgemeinen ist so eine Tür ölverschmiert, wie man das kennt, aber an dieser sind einige Stellen verdächtig blank. „So ein Gauner“, stößt der Parteisekretär hervor und lacht, und Walter Göhre, der jetzt an der Maschine des Sekretärs arbeitet, sagt: „Den Wettvertrag hat Hans längst abgeschabt!“
Es war nämlich so gewesen, dass Hans Kocich, den die Geburt des ersten Kindes so mächtig mitgenommen hatte, als hätte er es selbst bekommen, damals Stein und Bein schwor, auf keinen Fall ein zweites Kind zu planen. Er schloss eine Wette mit dem damaligen Dreher und jetzigen Parteisekretär ab, obgleich der gar kein Bier trinkt.
Sakra, denkt Hans Kocich, lacht und schielt zu dem Parteisekretär, der mit drohender Faust abzieht, und ich hätte gewettet, der würde meinen „Rückfall“ und „Planungsfehler“ nicht merken …
Allgegenwärtig ist die Partei! Als in Versammlungen der Gewerkschaftsgruppen der neue Betriebskollektivvertrag ausgearbeitet wurde, standen neben den Genossen parteilose Arbeiter und gingen Verpflichtungen zu Ehren des V. Parteitages ein, Genossen wie Parteilose sprachen über soziale Fragen und über politische Formulierungen. In einer Gruppe aber trat der Genosse Fricke auf und sagte etwa: Also, Kollegen, ihr habt von der Kulturkonferenz unserer Partei gehört, und ihr kennt auch in Halle die Diskussion über Fragen der Kunst.
Nun ist es einfach, über die Künstler zu schimpfen, und einfach ist es auch, Liebeserklärungen zu machen und zu sagen: Kollege Künstler, wir müssen mehr zusammenhalten! Vielleicht auch ganz allgemein: Kommt doch zu uns, ihr lieben Künstler!
So genügt das nicht, Kollegen! Von Führung der Arbeiterklasse soll man nicht nur sprechen, man muss sie vor allem ausüben! Deshalb schlage ich vor, eine entsprechende Formulierung im BKV vorzunehmen und auch Mittel für den Ankauf von Bildern, für die Durchführung von Ausstellungen und vielleicht auch für die Anleitung unserer Laienmaler vorzusehen.
Der Küchenchef und andere Kollegen stimmten dem Antrag zu und beschlossen, ihn an die BGL weiterzureichen.
Und doch gibt es auch im Pumpenwerk Auseinandersetzungen wie diese hier in der Maschinenhalle, wo Meißel über eiserne Pumpenkörper hobeln, Drehbänke kreischen, die Hämmer der Schlosser klicken. Am großen Horizontalbohrwerk ist Zeitaufnahme für ein neues Werkstück.
Joachim Fuchs, der Normenbearbeiter: „Was machst du jetzt?“ Ernst Scheffski, der Bohrer: „Kante brechen.“
Fuchs – nach einer Weile: „Zwei Minuten fuffzehn.“
Scheffski: „Mach’s nicht zu knapp, du lässt ja nicht mal Zeit für’n Donnerbalken!“
Fuchs: „Du kommst immer noch auf deine hundert Minuten in der Stunde, macht siebenhundertfünfzig Mark netto im Monat!“ Scheffski: „Red nicht, die brauch ich zum Leben. Macht die Butter billiger, zweifuffzig das Kilo, dann bin ich mit siebzig Minuten zufrieden!“
Fuchs: „Du sollst ja nicht mit der Leistung zurückhalten!“ Scheffski: „Weiß ich alleine. Ich meine ja: Senkt die Butterpreise, dann kannste die Normen anziehen.“
Fuchs: „Butterpreise senken! Die Bauern wiederum sagen, macht die Industrieprodukte endlich billiger! Du willst dir ein Motorrad kaufen und schreist: Es ist zu teuer! Aber du und der Kollege vom IFA-Werk und der Bauer – alle hängt ihr an den unehrlichen Minuten. Einer schielt auf den anderen und wartet, dass er sie als erster ehrlich machen möge …“
So ist das also: Da wird für die Stunde, in der ein normaler Mensch sechzig Minuten verdienen kann, von vornherein ein Mehrverdienst gewünscht, der einer Arbeitsdauer von vierzig Minuten entspricht und für den keine Gegenleistung da ist. Diese unehrlichen Minuten machen die Werkstücke wesentlich teurer. Aber das wäre noch nicht das Schlimmste. Bedenklicher ist, dass sie die Entwicklung der Arbeitsproduktivität hemmen, denn der Kollege sagt sich: Wozu besser und flinker arbeiten, mein Zaster stimmt! Und meint damit, dass er sowieso mehr bekommt, als ihm zusteht.
Ist Ernst Scheffski nun ein schlechter Kerl? Beileibe nicht! Manchmal schon ging er zum Meister und sagte, gebt mir diese und jene Arbeit, auf meinem Bohrwerk wird’s billiger als auf der Drehbank. Er weiß also, dass es auf das „Wie“ ankommt. Manchmal schimpfte er über den „miserablen“ Beruf eines Bohrers und Drehers, der nichts einbringe und eine Plackerei sei, und ist doch stolz auf seinen Lutz, der im gleichen Betrieb Dreher lernt. Und wenn ein anderer Kollege, zum Beispiel sein Nachbar Fritz Müller, darüber lamentiert, dass die geplanten zweieinhalb Millionen Mark Gewinn im Jahre 1958 nicht zu erreichen wären, so belehrt er: „Sieh, da sind neue Maschinen gekommen, eine Lagerhalle ist gebaut, und so kriegen wir Luft …“
Im Grunde wissen Ernst Scheffski und seine anderen Kollegen, die noch mit unehrlichen Minuten rechnen, dass jene Gesellschaftsordnung siegen wird, deren Mitglieder in die Fertigung einer Pumpe oder eines anderen Gegenstandes weniger gesellschaftliche Arbeit hineinstecken als die andere.
Schwer ist’s nicht, einzusehen, dass nur im Schoße des allgemeinen Wohlstandes der eigene wirklich erblühen kann. Aber danach handeln – das ist schwer! Da sollten einmal neue Drehstähle eingeführt werden. Viele schrien Zetermordio und weigerten sich, mit den Stählen zu arbeiten, weil sie die Leistung beeinträchtigen würden. Aber in der Nachtschicht, wenn die Meister weg waren, arbeiteten sie heimlich damit – ohne die Norm berichtigen zu lassen …
Die Technik wird moderner, die Planung übersichtlicher, die Arbeitsorganisation von Tag zu Tag flüssiger. Alle diese Verbesserungen haben nur dann Nutzen, wenn sie der gesamten Gesellschaft zukommen.“
Erstmals bereits 1959 druckte der Verlag Sport und Technik Neuenhagen bei Berlin den Roman „Die Kraftprobe“ von Karl-Heinz Schleinitz: Segelflugzeuge über Wulkau. Das ist für die Arbeiter und Bauern in und um das Lausitzer Städtchen, an das sich die Grube „Morgenrot“ anlehnt, ein vertrautes Bild. Rudi Bork, der Jungingenieur und Leiter der GST-Gruppe Segelflugsport, hat wochenlang auf gutes Wetter für den Fünf-Stunden-Flug, die letzte Bedingung für seine Silber-C, gewartet. Dieser Flug wird ihm die begehrte Auszeichnung bringen. Ganz andere Gedanken haben die Mitglieder der sozialistischen Jugendbrigade des Meisters Drogge. Sie verwünschen Rudi, weil sie mit ihrer Reparatur nicht weiterkommen, für die er noch eine Zeichnung zu liefern hat. So zögert sich die Reparatur des Baggers und sein Wiederanlaufen hinaus. Lohnausfall, Planrückstand! Alle schimpfen auf Rudi. Aber warum? Er hat sich ordnungsgemäß Urlaub geben lassen. Er konnte nicht wissen, dass die Brigade ihren Reparaturplan vorfristig erfüllt. Er hat auf die Zeichnung bereits Überstunden verwandt, war aber doch nicht fertig geworden. Rudi war in seiner Arbeit stets zuverlässig und wurde bisher von allen anerkannt. Dennoch wenden sich die Kollegen jetzt gegen ihn. Die Diskussionen weiten sich immer mehr aus. Besonders unter den Jugendlichen kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen. Es droht eine Kluft zwischen den Arbeitern und der Intelligenz aufzubrechen. Gegnerische Kräfte regen sich. Längst ist es nicht mehr der Fall Bork geblieben. Die Kraftprobe beginnt. Und dann regnete es auch noch andauernd:
„Erster Teil: ZWISCHENFALL
I
Es regnete wie schon seit Wochen. Rinnsale waren zu Bächen geschwollen. Das Korn stand schwarz auf dem Halm. Selbst in der Lausitzer Heide blinkten Tümpel fauligen Wassers. Die Dämmerung machte aus ihnen lichtlose Augen.
Zwei Menschen standen unterm Blätterschirm einer Linde.
„Du hörst mir ja gar nicht zu!“, sagte das Mädchen.
Der junge Mann fühlte sich ertappt.
„Aber Jutta, wie könnte ich nicht zuhören!“, beteuerte er.
„Mir machst du nichts vor!“ Das Mädchen warf den Kopf zurück, dass die kurz geschnittenen Haare wippten und schloss die braunen Augen zu einem Spalt. „Und geschwindelt wird nicht in der Schule.“
„Wir sind nicht in der Schule, Fräulein Lehrerin!“
„Noch viel schlimmer!“ Jutta tippte mit dem Finger auf seine Nase, die etwas zu spitz geraten war. „Und ich werde dir sagen, woran du gedacht hast!“ Ihr Mund lächelte in einer Mischung von Strenge und Milde. „Hieran hast du gedacht!“ Der Zeigefinger beschrieb in der Luft Kreise.
„Kannst du Gedanken lesen?“
„Hmhm“, summte sie, in den Tönen gestuft. „Für den Hausgebrauch. Aber bei dir ist’s sowieso kein Kunststück, dir steht alles auf der Stirn geschrieben.“
„Morgen fliegen die Schwalben hoch“, sprudelte es aus seinem Mund. „Ab morgen ist schönes Wetter!“
„Deine Voraussagen taugen nichts.“ Sie deutete nach oben. „Hattest du nicht Sonne prophezeit?“
„Das ist nur ein Schauer!“
„Ein Dauerschauer!“
„Komm mit zu mir, ich zeige dir die Wetterkarte!“
„Ich möchte nicht ins Gerede kommen!“
„Du traust mir nicht.“
Schalk saß in den Augenwinkeln Juttas. „Mutter sagte immer: Glaubt ein Mädchen den Männern zu früh, ist’s bald verloren.“
Der junge Mann sah Jutta prüfend an. Sie ist schön … schön wie … wie eine Blume. Leider eine mit Stacheln …
Fester pressten seine Arme das Mädchen. Verlangen stieg in ihm auf. Er achtete nicht auf die schweren Wassertropfen, die durch ein Loch im Blätterschirm auf den gebeugten Rücken klatschten, bis er zusammenzuckte, da es nass über die Nackenhaut lief.
Rasch entschlüpfte Jutta der Umklammerung. „Und wie war das mit den Schwalben?“
Der junge Mann ließ die Arme sinken. Sie lächelte gewinnend. Er holte tief Luft, ärgerlich über sich selbst, über sein Zaudern, ärgerlich über dieses verflixt verführerische Mädchen, das in der Lage ist, einen vom Siedetopf in den Eiskübel zu stecken und hinterher noch unschuldig zu tun wie ein Gänseblümchen.
Er dozierte: „Also die Luftfeuchtigkeit wird geringer, weil ein Hoch kommt; also können die Insekten höher fliegen, weil sie vom Nass nicht mehr belastet werden; also segeln die Schwalben hinterher, weil sie die Insekten fressen müssen. Kapiert?“
„Und du fliegst noch höher!“ Sie sah zu ihm auf. Sein Blondschopf wogte wie ein Weizenfeld.
Er war sich nicht schlüssig. Zieht sie mich wieder auf – oder kommt das Glänzen zwischen den Lidern wirklich vom teilnehmenden Stolz? Augen sind das – warm wie Samt … und Lippen wie eine dunkelrote Mohnblüte …
„Ich fliege bestimmt höher!“ Er stockte, betrachtete sie. Ihr Blick hing an seinem Mund. Zaghaft sprach er weiter: „Klar wird der Himmel sein. Gegen elf ist er übertupft. Die Tupfen gehen in die Höhe und Breite, Wolkentürme, sechstausend Meter hoch, schießen draus empor.“ Dann brach sein Temperament durch, er sprach schneller, die Arme ruderten, als könnten sie den Körper der Erde entreißen. „Und ich hänge am Himmel und steige und gleite, und es wird eine Stunde vergehen, die zweite, die dritte, fünf Stunden verfliegen und vielleicht noch mehr, und unten werden sie in den Sand malen ,Wir gratulieren, Rudi!‘ und sie werden sich mit mir freuen über die Silber-C, denn sie zählt doch im Wettbewerb für unsere Gruppe – ein Jahr warte ich auf diesen Tag!“ Unversehens hatte er sie umschlungen. Jutta ließ es geschehen. Sanft streichelte seine Hand über ihr Haar.
Der Regen ließ nach. Fern, zwischen den Linden der Landstraße, blinzelten die Lichter Wulkaus.
„Jutta!“
„Hm?“
„Ich nehme dich mal mit! Wir sagen immer, fliegen ist das zweitschönste Gefühl!“
„Und das erstschönste?“, lockte die Stimme.
Doch gleich darauf nüchtern, und das war eine Dusche: „Du wolltest zu deinem Kollegen gehen. Es regnet nicht mehr!“ Sie lief davon.
„Warte doch!“ Er eilte hinterher. Sie gingen schweigend. Am Dorfeingang fragte sie leise: „Kommst du morgen zum Bahnhof?“
„Ich komme.“
Sie trennten sich. Er sah ihr nach, verwirrt, verträumt. Dann war das Helle verschwunden.
Rudi zögerte. Warum nur habe ich mich bei Ritter angemeldet! Was brauche ich seine Neophanbrille, dieses Museumsstück seiner Jagdfliegerzeit! Er ist so anders geworden. Früher haben wir zusammen gesessen, auf dem Flugplatz und in seiner Wohnung. Wir haben gearbeitet an den Kisten, wir haben Fliegergarn gesponnen – und wir sind geflogen. Was hat ihn nur so verändert?
Rudi wischte mit der Hand über Stirn und Schopf, wie man lästige Fliegen verscheucht. Dann verdrängte die Erscheinung Juttas die unangenehmen Gedanken. Rudi meinte den Duft ihres Haares zu spüren, den Klang der Stimme, die Wärme der Umarmung, und wünschte die letzte Stunde zurück.
Plötzlich wandte er sich um und schritt aus. Bist fünfundzwanzig und durcheinander wie ein Achtzehnjähriger! Verschenke dein Herz, sagt Vater, aber behalte den Verstand … Rudi machte sich auf den Weg zum Viertel der Villen und Landhäuser, die sich, protzig und anmaßend, auf der schmalen Zunge zwischen Alt-Wulkau und dem Wald ausbreiteten. Einst wohnten hier die Gewaltigen der umliegenden Gruben. Seitdem heißt das Viertel „Herrenwinkel“. So ein Name bleibt haften wie die Klette im Fell des streunenden Hundes.
Bläuliches Licht huschte über die Dächer der Villen. Rudi hielt inne. Sein Blick tastete den Himmel ab, der vollgepackt war mit grauschwarzen Ballen ohne Anfang und Ende und ohne Konturen. Sie wälzten sich träge. Er lauschte. Der Himmel blieb stumm. Also war es nur ein Gruß vom Tagebau. Rudi ging auf die nächste Villa zu.
Aus ihren Fenstern quoll gelbes Licht in Fülle. Rudi blieb stehen. Ihn schmerzte die Helle körperlich. Aber wer zwingt mich denn, sagte er sich, in dieses Grelle zu treten, das einen nackt macht und die Träume der letzten Stunde zerreißt …
Und während er, noch unentschlossen, in der Geborgenheit des Dunkels verharrte, zogen vor seinem Auge die letzten Jahre vorüber.
1952! Es kann wieder geflogen werden!
Der Parteisekretär hat die Sache unter sich. Die Kumpel bestürmen ihn. He, trag’ mich ein!
Im Nu stehen die Namen von fünf Dutzend Enthusiasten auf seiner Liste. Die Enthusiasten sind alte Segelflieger, die jahrelang sehnsüchtig ohne Erlösung dem Kreisen des Bussards nachgeblickt haben. Es melden sich ehemalige Militärflieger, die im Kriege mit der linken Hand Tausende PS dirigierten.
Viele Junge kommen; die Abenteuerlust, die Lust am Probieren juckt sie.
Und Karl Friedrich Ritter nimmt sich der Tatendurstigen an. Er hat mit seiner Vergangenheit gebrochen. Er leitet den Abraumbetrieb und ist angesehen. Nichts trennt uns …
Ein Flugplatz ist herzurichten. Gelände? Zugegriffen! Ödland mit schluchttiefen Erdrippen, schlechtheilenden, faltigen Wunden gibt es um Wulkau genug. Einst lag Kohle darunter. Bagger hatten sie ausgeklaubt und die Wunden lieblos mit Abraum verschüttet.
Brigaden stürmen mit Schippen die Einöde. Planierraupen zuckeln hinaus und zerfetzen die Erdrippen. Schließlich ziehen Pflüge und Drillmaschinen der MTS über das eingeebnete Feld.
Der Flugplatz ist fertig – aber von den fünf Dutzend verschworener Enthusiasten sind ganze zwei Hände voll übriggeblieben. Sie hoffen noch immer. Und als endlich nach Jahren schweißtreibender Arbeit der Wulkauer Himmel erobert werden kann, stehen zur Sache nur noch fünf …
Zwei Jahre später erlöscht auch Ritters Begeisterung.
Und zu ihm soll ich jetzt gehen? fragte sich Rudi. Vielleicht denkt er, wir kommen ohne ihn nicht aus, und mein Besuch wäre ein erstes Vorfühlen!
Nein, ich fliege ohne seine Brille!
Rudi ging weiter. Er war froh über seinen Entschluss. Minuten später stand er vor dem Häuschen, in dem er bei seinen Eltern wohnte. Es war ein sittsames Geschwisterchen im Kreise der großen Familie, die sich Werksiedlung nannte. Die Fenster waren dunkel. Vater und Mutter schliefen. Wer mit der Sonne aufsteht, hält es beim Schlafengehen mit den Hühnern.
Rudi schlich in die Küche, aß einige Bissen vom Abendbrot, das die Mutter bereitgestellt hatte, und stieg über die knarrende Stiege in seine Kammer.
Er sah aus dem Fenster. Der Wind trug dumpfes Rumoren heran: die Bagger! Rosenduft, schwer und süß, berauschend, füllte die Nacht. Rudi beugte sich hinaus. Unterm matten Mondschein schimmerten die weißen Blüten des Rosenstrauches. Er blickte nach oben. Na also, du riskierst ja schon ein Auge, Monds Kalle!
Rudi atmete freier, da er vom Mond bestätigt fand, dass seine Berechnungen stimmten. Seine Fantasie beflügelte sich, er sah die trächtigen Aufwinde gegenständlich vor sich, kreiste in Gedanken über dem alten Tagebau, wagte den Sprung übers feuchte Luch bis zum Neuaufschluss, wo brodelnde Luftmassen nach oben schossen, um die Maschine unwiderstehlich mit sich zu reißen.
Der Flug muss gelingen!
Er pfiff ein Lied, keck, übermütig. Und während er sich zur Nacht entkleidete, glitten sehnsüchtige Gedanken über die Brücke des Mondes zur Liebsten.“
Na, dann wollen wir doch mal sehen, wie die Geschichte mit Jutta und Rudi ausgeht und ob das alles was wird mit der Segelfliegerei über Wolkow und mit der Planerfüllung natürlich. Manches von dem, was Karl-Heinz Schleinitz da vor nunmehr schon ein paar Jahrzehnten aufgeschrieben hat, das klingt zum Teil doch sehr weiter weg und dem einen oder anderen Leser dürfte es nicht ganz leichtfallen, sich in die Kämpfe jener vergangenen Zeiten – und in diejenigen, die sie damals ausgefochten haben – hineinzuversetzen. Aber es gelingt ihm immer wieder, die damaligen Menschen und ihre Motive lebendig werden zu lassen. Und so lohnt sich die Lektüre dieser Geschichten aus einer ziemlich weit zurückliegenden Zeit eben doch. Und ob es nun was werden wird mit Jutta und Rudi, mit dem Segelfliegen und mit der Planerfüllung?
Viel Spaß beim Lesen, einen schönen September und bleiben Sie auch als Geimpfter und Genesener weiter vorsichtig, vor allem aber weiter schön gesund und munter und bis demnächst.
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