Wer sich mit der DDR und mit den verschlungenen Pfaden ihrer Kunst und Kultur, vorzüglich ihrer Literatur befasst, der kommt an einem ihrer wichtigsten Vertreter nicht vorbei – an Erik Neutsch (1931 bis 2013), der kürzlich 90 Jahre alt geworden wäre und der zu Lebezeiten viel Lob und hohe Auszeichnungen bekommen, aber auch manchen Ärger zu verkraften hatte. Zu seinen wichtigsten Werken gehört auf jeden Fall der von Frank Beyer auch prominent mit Manfred Krug, Eberhard Esche und Krystyna Stypułkowska (synchronisiert von Jutta Hoffmann) verfilmte Roman „Spur der Steine“, der im Gegensatz zu dem Buch schon bald nach seiner Uraufführung verboten wurde und erst im Zuge der Wende wieder öffentlich aufgeführt werden konnte. Neben vielen Büchern, darunter auch solche für Kinder, hatte Neutsch auch für das Theater geschrieben, wie das dritte der insgesamt fünf aktuellen Sonderangebote beweist, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 20.08. 21 – Freitag, 27.08. 21) zu haben sind. „Haut oder Hemd“ – so lautet der Titel des 1971 in Halle in der Regie von Ulrich Thein uraufgeführten Stücks und darin geht es um nichts weniger als gewaltige Veränderungen und große Utopien, gesehen mit den Augen der damaligen Gegenwart.

Wie es nach ihrer Rückkehr von der großen Fahrt mit einem Freundschaftszug mit der dreizehnjährigen Britta Bindseil, genannt Strippe, weitergeht, davon handelt „Im Zug hinter Brest“ von Bernd Wolff. Und auch davon, ob man so etwas ausziehn kann wie ein Hemd, das in die Wäsche muss? Aber was ist so etwas?

Eine große Entdeckungsreise unternimmt Bastian in „Bastian und der Familienausflugsdampfer“ von Jürgen Jankofsky. Vor allem aber hat Basti einen großen Wunsch.

Gerechtigkeit – das ist eines der wichtigsten Motive in „Der Hasenhirt. Einem deutschen Volksmärchen in Versen nacherzählt“ von Erwin Johannes Bach.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Heute geht es um ein fürchterliches Verbrechen in einem Krieg, der selbst schon ein großes Verbrechen war und Millionen von Menschenleben gefordert hat. Zugleich legt der heutige Beitrag Zeugnis vom Mut und von der Widerstandskraft der von faschistischen Aggressoren mit einem furchtbaren Kampfmittel bedrohten Menschen ab – bedroht durch den Tod durch Verhungern. Und dennoch haben diese Menschen am Ende gegen die Invasoren gesiegt …

Als Eigenproduktion veröffentlichte EDITION digital 2017 den Zeitzeugenbericht „Das Wunder von Leningrad“ von Erwin Johannes Bach – „Herausgegeben und mit einem Nachsatz sowie Kommentaren versehen von Aljonna und Klaus Möckel“: Dieser Bericht eines Zeitzeugen besticht durch große Bildhaftigkeit und Gedankentiefe. Erwin Johannes Bachs Leben verlief dramatisch, 1897 in Hildesheim geboren, verlor der spätere Komponist und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg seinen Bruder – eine lebenslange Wunde –, musste auch selbst an die Front. Er studierte in verschiedenen Disziplinen, publizierte ein wichtiges musikwissenschaftliches Werk: „Die vollendete Klaviertechnik“, schuf vier Sinfonien, von denen drei durch Flucht und Krieg verlorengingen. 1934 mit seiner jungen Frau vor den Nationalsozialisten in die UdSSR geflohen, geriet er dort in die Stalinschen „Säuberungen“, erlebte Erniedrigung und Verbannung. Die Familie (drei Kinder wurden geboren) war zu einer Odyssee mit den Stationen Moskau, Odessa, Swerdlowsk im Ural, Tomsk in Sibirien, Taschkent in Usbekistan gezwungen.

Bei Kriegsausbruch hatte es Bach nach Leningrad verschlagen, das schon bald einem der grausamsten Vernichtungsfeldzüge der deutschen Wehrmacht ausgesetzt war. Von dieser Blockade handelt der von EDITION digital erstmals veröffentlichte Text, von den zerschossenen Häusern, den verhungernden, erfrierenden Menschen dieser einst so prächtigen Stadt. Und doch ist es keine Botschaft der Resignation oder gar Verzweiflung, denn Bach glaubte an die innere Kraft des Menschen. Ein Tschaikowski-Konzert im eisigen Winter 1941/42 wird ihm zum Beweis für Mut und Unbeugsamkeit gegenüber böswillig-mörderischer Zerstörung. Eine Botschaft, die durch ihre tiefen Wahrheiten überzeugt!

Dieses Buch, das anlässlich des 120. Geburtstages von E. J. Bach erschienen war, ist ein Zeugnis menschlicher Standhaftigkeit in größter Not. Ergänzt wird der Text durch Artikel und Briefe über Leben und Werk dieses zu Unrecht vergessenen Künstlers.

Herausgegeben wurde „Das Wunder von Leningrad“ von Aljonna Möckel, geborene  Bach, seiner Tochter, einer bekannten Übersetzerin und Autorin, sowie deren Mann, Klaus Möckel, einem außerordentlich vielseitigem Schriftsteller. Beide bemühen sich seit mehreren Jahren, das musikalische und literarische Erbe des Komponisten Erwin Johannes Bach dem Vergessen zu entreißen. Hier die ersten Seiten ihres Nachsatzes zu seinem berührenden Zeitzeugenbericht, in dem auch viel über den Autor zu erfahren ist:

Nachsatz

DAS WUNDER VON LENINGRAD, dieser beeindruckende Bericht eines Zeitzeugen, besticht durch große Bildhaftigkeit und Gedankentiefe. Der Autor, Erwin Johannes Bach, war nach langen Jahren des Exils unter oft erniedrigenden Bedingungen in diese Stadt gelangt, wo er eine Stellung im Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Theater und Musik bekommen hatte. Seine Frau mit einem wenige Monate alten Baby wurde nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion gleichfalls von Moskau dorthin evakuiert, die Familie wurde auseinandergerissen. Die beiden Söhne, drei und sieben Jahre alt, kamen in ein Kinderheim bei Jaroslawl.

Der Komponist, Musikwissenschaftler und Schriftsteller Bach (kein Abkömmling der berühmten Namensvettern) hatte den Krieg schon als junger Mann kennen- und hassen gelernt. Selbst Soldat im I. Weltkrieg, wurde ihm der Tod des jüngeren Bruders, der 1917 fiel, zur lange schmerzenden Wunde. Ein Grund für ihn, sich während der Weimarer Republik ins linke Spektrum einzuordnen und Stellung gegen den aufkommenden Faschismus zu beziehen. Zumal er als Jude die Gefahren sah, die ihm und seinesgleichen persönlich drohten.

Bach hatte in den zwanziger Jahren bei bekannten Professoren (Moldenhauer, Schrattenholz, Taubmann) studiert, sich im Komponieren und Musizieren versucht, Klavierunterricht für Studenten gegeben, die für ihre Prüfungen den letzten Schliff brauchten. 1929 legte er ein umfangreiches theoretisches Werk vor, die VOLLENDETE KLAVIERTECHNIK, das teilweise auch in mehrere Fremdsprachen übersetzt wurde. Dabei arbeitete er besonders die anatomischen Voraussetzungen des Menschen beim Klavierspiel heraus – er hatte eigens zu diesem Zweck einige Semester Medizin belegt. Das Werk löste auf Grund seiner hohen Ansprüche an den Pianisten diverse Diskussionen aus.

Bach ging die Ehe mit einer zehn Jahre älteren Frau ein, von der er sich aber bald wieder zu lösen suchte. 1934 floh er, als KPD-Mitglied und Jude von Verhaftung bedroht, über Prag in die Sowjetunion. An seiner Seite eine Studentin, die bald darauf seine zweite Frau und die Mutter seiner Kinder wurde. 1934 wurden sein Sohn Hans, benannt nach Bachs im I. Weltkrieg gefallenen Bruder, 1938 sein Sohn Wolfgang, 1941 seine Tochter Aljonna Mirjam geboren.

Über die Verhältnisse in der Sowjetunion hatte sich der Flüchtling ohne Zweifel Illusionen gemacht. Die stalinistischen „Säuberungen“, die besonders seit 1936 mit Schauprozessen und willkürlichen Verhaftungen einhergingen, mit Todesurteilen und Verbannung nach Sibirien sowohl eigener Parteikader als auch linker Emigranten, überstand die Familie zwar glimpflich, aber die andauernde Anspannung, die stete Bedrohung waren aufreibend und erschöpfend. Kaum hatte Bach eine Stelle angetreten, verlor er sie wieder. Er musste mit seinen Angehörigen ständig den Aufenthaltsort wechseln, wurde von Odessa nach Moskau, dann nach Swerdlowsk in den Ural geschickt und schließlich ins sibirische Tomsk verbannt. Der Grund der Verbannung waren kritische Äußerungen über die Zustände im Land und (wie er später seinem Sohn Hans erzählte) ein Brief an Stalin, in dem er den „großen Führer“ vor Abmachungen mit Hitler warnte. Dieses Schreiben hätte ihn den Kopf kosten können.

Dem „Juden Bach“ – so wurde er abschätzig in Papieren des faschistischen Innenministeriums bezeichnet – war die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden, doch musste er nun jahrelang um die sowjetische Staatsbürgerschaft kämpfen, ohne die ihm die Ausweisung drohte. Seine Frau Gertrud hatte dieses „Privileg“ erlangt, er aber musste sich regelmäßig zur Überprüfung beim NKWD melden und um die Anstellung bangen, die man ihm zum Beispiel in Tomsk an der dortigen Musikhochschule gegeben hatte, damit er die Familie mit dem Nötigsten versorgen konnte. „Ein zerrissenes Leben“, wie Gottfried Eberle kürzlich in einem Artikel über den Komponisten und Literaten schrieb („Ruf an die Menschheit. Der Musiker Erwin Johannes Bach“, in „musica reanimata“, Heft 92, Juli 2017), das zu bewältigen ihm wohl auch Schostakowitsch half, der berühmte Komponist, mit dem er freundschaftlich verbunden war.

Als der Krieg nahte, sah sich Stalin genötigt, die Repressalien einzuschränken. Nicht dass die Verfolgungen und Diffamierungen völlig aufgehört hätten, aber die Zeit und die Mittel wurden zu knapp, um weiterhin derlei Selbstzerfleischung zu betreiben. Wahrscheinlich auf Geheiß des NKWD musste Bach seine Professur in Tomsk aufgeben und mit der Familie die Stadt verlassen. Nach einigen mit Ungewissheit verbundenen Monaten in Mitschurinsk konnte die Familie nach Moskau zurückkehren. Schon bald, nachdem der Musiker dann, wie anfangs beschrieben, eine Tätigkeit in Leningrad aufgenommen hatte, kam es zur Blockade durch die Deutschen. Er, seine Frau und das Baby sahen sich unvermittelt jenen schrecklichen Geschehnissen ausgesetzt, die im „WUNDER VON LENINGRAD“ dargestellt sind. Allerdings schien es dem Autor wohl zu profan, die Not der eigenen Familie in diesen Text einzubeziehen: die Angst der Eltern zum Beispiel um ihre erst vor kurzem geborene Tochter, die mit einer schweren Lungenentzündung auf den Tod lag und nur gerettet werden konnte, weil der Vater seine Goldplomben gegen Sauerstoff tauschte. Auch dass er, der sich in dieser Situation schämte, Deutscher zu sein, wie er in einem Gespräch mit einer Bekannten erklärte, über den Leningrader Rundfunk zu den deutschen Soldaten auf der anderen Seite der Front sprach, erwähnt er mit keinem Wort.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.

Erstmals 1975 erschien im Kinderbuchverlag „Im Zug hinter Brest“ von Bernd Wolff: Kannst du so etwas ausziehn wie ein Hemd, das in die Wäsche muss? Ich verspreche dir: Nie ist das vorbei für mich! Die dreizehnjährige Britta Bindseil, genannt Strippe, kehrt von großer Fahrt zurück nach Bregenow in der Mark, und alles ist anders. Es war, in den Siebzigerjahren, die Zeit der Freundschaftszüge, und das quirlige Mädchen, das in seinem ablegenen Ort dafür gesorgt hatte, dass die Langeweile unter den Kindern und Jugendlichen nicht um sich griff, durfte dabei sein. Gläubig und mit offenem Herzen nimmt sie alles begeistert auf, was ihr begegnet und was man ihr erzählt, zumal ihre Freunde so denken wie sie: alles soll schön und gut werden, und Freundschaft ist etwas Heiliges, ohne Falsch und Hintergründigkeit, die Oberfläche eben. Dabei ist sie ein Mensch wie andere auch, mit Hoffnungen und Sehnsüchten, mit Lachen und Traurigsein. Es wird lange brauchen, bis Britta die Welt der falschen Ideale zu durchschauen lernt, länger, als dieses Buch Seiten hat. Vielleicht kann ihr der Leser dabei helfen. Betreten wir den schnellen Zug. Hier das erste und ein kurzes Stück vom zweiten Kapitel:

1. Kapitel

Der Zug jagt dahin, schießt dahin durch die weite belorussische Landschaft – ein schwarzer Pfeil, der die Sonne verfolgt.

Wälder, von flachen goldenen Strahlen durchflossen, gleiten vorüber, kaum dreißigjährig, tiefgrün und saftig: moosige Flecken unter Birkenstämmen, Fichtenschneisen voll Heidelbeeren, Erlensümpfe, unergründlich schwarzes Wasser, von keinem Hauch bewegt. Dörfer, wie verloren in diesem Grün. Goldbraune Felder, auf denen Getreidehocken lange streifenförmige Schatten werfen. Aufgescheucht flüchtende Elstern und vorbeiflatternde Lieder, schwermütig wie roter Mohn.

Bahnschranken, aus geschälten, rot-weiß gestrichenen Stangen gefügt, mit einem klobigen Kasten voll Sand als Widergewicht. Kommt wirklich jemand vorüber den lieben langen Tag, so hebt er sie selber hoch für sich und sein Gespannwägelchen. Denn Autos können hier nicht fahren, mahlen sich hoffnungslos fest im lockeren Sand. Kein Mensch sichtbar weit und breit. Und doch deutet alles auf Menschen hin. Liebevoll versorgte Landschaft. Nicht zuletzt auch an den Bahndämmen die regelmäßigen Betonklötze mit dem roten Stern und der Aufschrift „Slawa KPSS“.

Alles das jagt vorbei, huscht, gleitet, wischt vorbei, vorbei, vorbei …

„Morgen um neunzehn Uhr fünf sind wir zu Hause“, sagt Jürgen, „zweiundzwanzig Stunden noch, fast ein ganzer Tag …“

„Und dann?“, fragt Britta.

„Dann ist alles vorbei.“

Britta schüttelt heftig den Kopf. Der scharfe, singende Fahrtwind treibt ihr das Wasser in die Augen.

„Das ist nie vorbei! Nie! Hörst du?“

„Wirst schon sehen“, sagt Jürgen schulterzuckend.

Britta blitzt ihn an. „Als ob das eine Frage wär! Als ob man sich darüber streiten müsste! Kannst du so etwas ausziehn wie ein Hemd, das in die Wäsche muss? Ich verspreche dir: Nie ist das vorbei für mich!“

Und sie fügt hinzu, leise, abgewendet: „Sonst müsst’s auch mit uns vorbei sein. Willst du das?“

Der Fahrtwind faucht und pfeift.

„Als ob’s danach geht, was ich will“, sagt Jürgen gepresst. „Du wirst in deinen Ort fahren und ich in meinen, jeder wird seine Aufgaben haben, überfallen werden sie dich: Tu dies und mach das, wo du doch jetzt dort warst … So ist das, Strippe!“

Britta lacht schon wieder. In ihrem linken Mundwinkel bildet sich ein Grübchen.

„Wenn’s weiter nichts ist“, sagt sie, „das Ding werden wir schon schaukeln!“

[*] Kapitel

Bei jedem Lokomotivenpfiff reckt der Mann den Hals wie ein Ganter, schnauft vor Anstrengung, sogar der Mund öffnet sich: ein rundes dunkles Mauseloch – jedes Mal wieder umsonst.

Schwitzend vor Aufregung und Enttäuschung, wischt er die feuchten Handflächen an der Hose ab, reißt den Unterarm hoch, um dessen dünnes Handgelenk die Uhr immer wieder nach innen rutscht – ach, und die Zeit geht hin, die kostbare Zeit, die man hier nutzlos vertut. Eine Schnapsidee war es, ein Irrsinn, auf die Tochter zu warten, als ob’s noch nicht genügt hätte mit der Reparatur vorhin! Aber jetzt aufgeben, umkehren, wo der Zug jeden Moment einlaufen kann?

Da steht man hier, fremd wie ein Pfahl, zwischen all den Menschen – schwatzende, albernde, lachende, in blauen Blusen und mit Sträußen unter dem Arm -, das weiße Hemd verrußt einem hoffnungslos, aber zu verderben ist daran ohnehin nicht mehr viel, und wer soll sich bei der Hitze etwa noch die Dienstjacke überziehen? Ach, warum hat man sich nur auf so etwas eingelassen? Und der Zug kommt und kommt nicht. Wer weiß, was ihn aufgehalten hat unterwegs; hat vielleicht eine Kuh auf den Schienen gelegen, oder jemandem ist es eingefallen, die Notbremse zu ziehen – viel kann passieren, wenn die Strecke lang ist!

Der Fanfarenzug dahinten probt nun schon zum fünfundzwanzigsten Male immer wieder das gleiche Lied, „Sabota u nas prastaja“, wenn man der dicken Blonden hier nebenan und ihrem Gesang Glauben schenken kann, es muss was Russisches sein, aber warum sich der eine Trompeter immer wieder bei der gleichen Stelle verbläst, bleibt unerfindlich. Ach, rausschmeißen sollte man den Kerl mitsamt seiner verqueren Trompete, Kohlen schippen lassen, Lok heizen meinetwegen, dass er mal einen Begriff bekommt von ordentlicher Arbeit und anständigen Leuten nicht den Gehörgang strapaziert – Armstrong würde sich noch im Grabe die Ohren zuhalten, wenn er’s hören könnte. Nun, Gott sei Dank, er kann nicht!

Nicht unflott sonst, das Lied, das erinnert einen an mancherlei, an die wirbelnden, seidengleißenden Röcke der Mädchen vom Moissejew-Ensemble, die man mal gefahren hatte, das waren noch Zeiten!, an die Reisebüroprospekte mit goldenen Moskauer Zwiebelkuppeln und – plötzlich hier – an den mächtigen tabakgefärbten knoblauchduftenden Schnurrbart des Sergeanten Welinzew, Iwan Denissowitsch.

Als der Mann so weit gekommen ist, staunt er erst mal: Iwan Denissowitsch, ist denn das möglich, mit keiner Silbe daran gedacht in all den vierundzwanzig Jahren, und plötzlich ist alles wieder da wie gestern? Gibt’s denn das?“

Erstmals 1972 veröffentlichte der Mitteldeutsche Verlag Halle (Saale) das Schauspiel „Haut oder Hemd“ von Erik Neutsch, das in einem Braunkohlenrevier in der (damaligen) Gegenwart spielt: Nichts Geringeres als die Neuprofilierung einer ganzen Bergbau-lndustrielandschaft, das Für und Wider um Entscheidungen über ein Territorium mit Tausenden dort lebender Menschen, wählt Neutsch als Grundlage für sein Schauspiel „Haut oder Hemd“. Das 1971 in Halle in der Regie von Ulrich Thein uraufgeführte Stück widmet sich den kühnen, zukunftsträchtigen Visionen nach dem später totgeschwiegenen VII. Parteitag der SED, dem letzten mit Walter Ulbricht als Generalsekretär. Die Produktivkraft Wissenschaft, vertreten durch den, die verschiedenen ökonomischen Varianten der Zukunft vorausberechnenden Informatiker Dr. Berg, den Chemiker und Plasteforscher Professor Uhlenhorst und den Ingenieur Baum, Fachmann der Kältetechnik, wehrt sich in einer Arbeitsgruppe gegen Kolbasser, Direktor eines Braunkohlekombinates, dem die Tagesaufgaben wichtiger sind und dessen Braunkohlebagger vor der Stadt nicht Halt machen. Aber auch die kühn in die Zukunft blickenden Wissenschaftler vertreten nur die Belange ihres Forschungsgebietes. Zu Recht erinnert der Wirtschaftssekretär der SED-Kreisleitung daran, dass es bei allen Plänen nur um die Menschen geht. Ein interessantes Lehrbeispiel der Wirtschaftspolitik in den letzten Jahren der Ulbricht-Ära. Hier das erste Bild des Ersten Aktes, in dem es übrigens auch um Kaffee und Kommunismus sowie um die Zukunft im Jahre 2050 geht – nach dem Ende einer glücklichen Nacht:

ERSTER AKT

Dachboden

Geschmackvoll hergerichtet, mit Liebhaberstücken aus Natur- und Geisteswissenschaften. In der Mitte eine Liege. Tür zu einem Nebenraum. Treppe, die vom Erdgeschoß heraufführt.

1

Ute und Berg nach einer glücklichen Nacht. Ein Wecker schrillt.

Berg erwacht: Funksignale von anderen Sternen. Schrieb die Zeitung. Gestern. Doch gestern ist schon Frühgeschichte. Es kommt drauf an, von wo aus einer denkt. Aus der Tiefe oder aus der Höhe. Ob mit den Füßen, den Transportarbeitern, Saugwarzen eines Wurms aus dem Alluvium… Ob von dieser Erde, Chemiepott Brück, verqualmt und sichtbenommen, Kohletal seit dem Tertiär, umnebelt vom Gestank der Schwelereien… Oder ob vom Weltpunkt Einsteins aus. Vierdimensional, Venussonden. Kybernetische Systeme. — Kaffee! Kaffee? — Vom Weltpunkt Einsteins, Ute. Nacht wird Tag. Sekunden werden zu Äonen. Die Wissenschaft ist ein Aggressor. Unblutig siegt sie, deshalb siegt sie groß. – Ich mach dir gleich den Kaffee. — Morgen schon betritt vielleicht der erste Mensch… Verdammtes Eiweißaufbaudenken! Betritt das erste Lebewesen, das erste Phänomen vom Pegasus, vom Andromedanebel die Erde. Und was dann? Wir müssen unsre Automaten speisen. Unsre Strategien müssen wir entwerfen. Kannst du mir noch folgen, Ute? — Du, ich weiß nicht, wo der Kaffee ist. – Erdöl, ja, Atomkraft bald im Brücktal.

Ute rekelt sich: Guten Morgen.

Berg: Kein kalter Winter mehr. — Guten Morgen. — Energie aus Heliumkernen. Licht im Überfluß. Licht auch in den Köpfen.

Ute: Unsre Zukunft scheint gesichert. Doch nicht gesichert scheint unser Morgenkaffee.

Berg: Du bist profan. Ich schildre dir das Jahr zweitausend… Zweitausendfünfzig… Und du? Denkst schnöde nur an deinen Kaffee. Ahnst du überhaupt, was Kommunismus ist? Ich meine, woran man ihn erkennen würde, woher man wüßte, daß er’s ist, wenn er es wäre… Paß auf. Dicht bei ihr: Ich greif zum Telefon, ruf den Rat des Kreises an und sage: Hallo, hier spricht Berg. Sie wissen doch, Genosse Ratsvorsitzender, wie’s einen packt, wenn man verliebt ist. Mein Mädchen wartet, und ich habe Lust, es weiterzulieben. Ach, bitte, erlassen Sie mir die heutige Sitzung. Und was entgegnet der Genosse? Einverstanden. Selbstverständlich. Der gesamte Rat wünscht Ihnen viel Vergnügen. – Ute, liebst du mich?

Ute: Ja. Doch sie entzieht sich ihm in den Nebenraum.

Berg reißt ein Fenster auf: Komm herein, Gegenwart. Kühler, erfrischender Atem. Sitzungen wieder, Variantendiskussion, kein Ende. Versucht Kniebeugen. Als ob der letzte Winter sich nicht schon längst für meine Diagramme entschieden hätte. Doch ich werd sie überzeugen. Kleinkriegen muß ich sie, besiegen. Deinen Vater, den Taktierer, und Kolbasser, der sich an die Strategie der ersten Dampfmaschine klammert. Mögen sie auch schachern um die Hinterlassenschaft im Brücktal, die Programmierer waren schneller. – Ich glaube, ich verzichte auf den Frühsport. Ute! Ute!

Ute an der Tür: Ich habe den Kaffee ausgegraben, den ich relativ vor tausend Jahren für dich gekauft habe. Wieder von nebenan: Hast du einen Topf zum Kochen?

Berg: Ja.

Ute: Wo?

Berg: Vorn rechts. Neben dem Atomium.

Ute: Den, wo draufsteht: destilliertes Wasser?

Berg: Nein! Halt! Darin hab ich mal Quecksilber erhitzt. Nimm den daneben, der zugedeckt ist mit dem Alten Testament.

Ute: Den mit der Aufschrift: Schwefelsäure?

Berg: Ja, den. Du wirst uns noch vergiften mit deiner Betriebsamkeit. Bist du denn schon nüchtern, Mörderin der Phantasie? Läßt mich allein mit deinem Hemd. Das einzige, was mir von dir noch bleibt, ist Dederon. Chemie auf Kohlebasis. Verdammt, jetzt bin auch ich nüchtern.

Ute zurück, singt:

Ein Licht ist aufgegangen,
wir haben es gefangen
in einer dunklen Nacht.

Berg: Etwas leiser, Ute. Meine Wirtin ist eine Frühaufsteherin. Besonders sonntags. Da trägt sie immer Blumen auf den Friedhof.

Ute: Ich muß mit meinem Vater sprechen.

Berg: Über uns? Über meinen Umzug?

Ute: Ja. Und über mich. Noch bevor ich zu ihm in die Forschung gehe. Übermorgen letzte Prüfung. Und übernächste Woche mein Diplom. Mit der Unterschrift von Justus Liebig. Ein Grund, das große Heulen zu kriegen. Singt:

Doch nun beginnt das Bangen,
der Tag ist schon verhangen,
das Licht verlöscht ganz sacht.

Berg: Ute! Wenn sie dich hört!“

Erstmals 1990 veröffentlichte Jürgen Jankofsky im Verlag Junge Welt Berlin „Bastian und der Familienausflugsdampfer“: Bastian, der kleine Basteljan, möchte seine Eltern erinnern, dass sie ihm schon seit langem einen Familienausflug versprochen haben, einen Ausflug mit einem richtigen Dampfer. Und damit sie das nicht immer wieder vergessen, will er ihnen einen kleinen Familienausflugsdampfer aus Pappe basteln. Dabei geht ihm aber der Leim aus, und so geht Bastian notgedrungen auf eine große Entdeckungsreise, erlebt eine wahrhaft klebrige Geschichte, erfährt viel über klebrige Dinge und sogar über die Arbeitswelt seines Vaters, die ihm bis dahin verschlossen war. Und so stehen die Dinge schließlich nicht schlecht, dass Bastians Familienausflugsdampfer am Ende in See sticht. Aber noch ist es nicht soweit. Hier drei kurze Ausschnitte vom Anfang dieses Buches:

Bastian und der Familienausflugsdampfer

Bastian seufzt. Der Leimnapf ist leer! Das neue Schiffsmodell liegt halbfertig vor ihm und kann noch längst nicht schwimmen. Die Rumpfhälften klaffen auseinander. Die Kapitänsbrücke hängt schief. Die Schornsteine liegen sogar noch auf dem Tisch in Bastians Zimmer.

Kräftig drückt der Junge den Leimpinsel auf die Rumpfnaht, versucht einen letzten Rest Leim herauszustreichen. Dann taucht er einen Finger ins Leimgefäß, wischt es sorgfältig aus. Doch nicht ein Tröpfchen Leim lässt sich erhaschen.

Wie soll Bastian die Eltern überraschen, wenn sein Familienausflugsdampfer nicht fertiggebastelt ist?

Lange schon freut sich Bastian auf einen Ausflug mit Mama und Papa. Eine Dampferfahrt hatten sie ihm versprochen. Und genau solch einen Ausflugsdampfer wollte er heut Abend Papa vorzeigen. Mama und Papa sollen sich auf den gemeinsamen Tag in der Familie freuen.

Bastians Eltern sind Schichtarbeiter. Wenn Mama zur Arbeit geht, kommt Papa aus dem Werk nach Hause. In der nächsten Woche geschieht das wieder umgekehrt. Morgen jedoch haben beide einen freien Tag.

Suchend bückt sich Bastian, blickt unter den Tisch, schaut unters Bett. Vielleicht steht irgendwo ein vergessener Leimtopf. Mit Papa bastelt er oft und gern. Doch jetzt findet er nirgendwo Leim. O weh! Wie soll er den Dampfer fertigbauen?

Bastian greift die Schiffsschornsteine, hält sie wie ein Fernglas vor die Augen. Er blickt zum Fenster hinaus. Ob ihm einer seiner Freunde helfen kann? Nein, alle seine Freunde schlafen noch im Kindergarten.

Wie immer, wenn Mama zur Nachtschicht muss, hat sie Bastian schon vor der Mittagsruhe abgeholt. Sie schläft mittags vor ihrer langen Schicht. Eigentlich sollte auch Bastian jetzt im Bett liegen. Jedoch ein Familienausflugsdampfer bastelt sich nicht von allein.

Bastians Blick schweift über die Bäume des nahen Parks zu den hochaufragenden Werksschornsteinen. Als Bastian noch die Kinderkrippe besuchte, glaubte er, das Werk sei eine Wolkenmaschine, eine riesengroße Wolkenmaschine. Er meinte, die himmelhohen Schornsteine blasen alle Wolken in die Welt.

Nun aber kommt Bastian bald in die Schule. Jetzt weiß er, dass die Schornsteine zu einem Chemiewerk gehören. In diesem Riesenwerk gibt es eine Leimfabrik. Dort arbeiten Mama und Papa.

Aber Moment mal! Bastian setzt sein Schornsteinfernglas ab. Warum sollte er nicht schaffen, was Mama und Papa können?

Er wird sich seinen Leim selbst herstellen, jawohl! Mit dem selbstgemachten Leim kann er das Schiffsmodell fertigbasteln, und die Eltern werden staunen.

Auf zur Leimfabrik!

Flugs schleicht Bastian aus dem Kinderzimmer. Leise schließt er die Wohnungstür.

Oma Klebmann und die Schwalben

Bastian rennt durch den Park. Lauter wird das Rauschen, Stampfen, Dröhnen des Werkes, immer lauter. Das Werk ist nicht mehr weit entfernt.

Auf einer Parkbank döst Oma Klebmann. Fast stolpert Bastian über ihre ausgestreckten Beine.

„Hast du es aber eilig!“, ruft Oma Klebmann erschrocken.

„Ich muss ins Werk, Papa beim Leimmachen beobachten“, antwortet Bastian, schon zwei Parkbänke weiter.

„Warte“, ruft ihm Oma Klebmann nach. „Komm zurück! So einfach kommst du nicht in das Chemiewerk.“

Bastian bleibt stehen, wendet sich verwundert um.

„Die Wache wird dich anhalten und zurückschicken. Nur wer einen Werksausweis oder eine Erlaubnis vorzeigen kann, darf durch das Tor. Fremde oder Kinder dürfen das riesige Werk nicht betreten, denn es könnte gefährlich für sie werden.“

Bastian blickt zu Boden.

„Kopf hoch!“ Oma Klebmann winkt Bastian heran. „Was wolltest du bei den Leimmachern?“

Aufmerksam hört sie zu, was Bastian über den freien Tag der Eltern, über den Familienausflugsdampfer und den restlos leeren Leimtopf erzählt. Schwalben segeln dicht an der Parkbank vorbei, als wollten auch sie hören, was Bastian bedrückt.

„Komm, setz dich zu mir. Sieh mal! Die Schwalben sind nicht nur Flug-, sondern auch Leimkünstler“, sagt Oma Klebmann. „Von ihnen haben die Menschen viel gelernt. Schwalben leimen ihre Nester aus Lehm und Stroh mit Speichel zusammen. Nach ihrem Vorbild haben die Menschen früher ihre Häuser gebaut. Weißt du, den Handwerker, der das Fachwerk eines Hauses mit einem Gemisch aus Lehm und Stroh und Kuhdung füllte, nannte man Leimer. Und baute eine Schwalbe ihr Nest an oder in einem Haus, glaubten die Menschen, das bringe Glück.“

Oma Klebmann kratzt ein Harzklümpchen vom Stamm einer Kiefer, die hinter der Bank wurzelt. „Sieh mal, überall in der Natur findest du Klebriges, die Knospen der Kastanie, die Milch des Löwenzahns, die Blüten vom Sonnentau…“

„Und den süßen Honig“, unterbricht Bastian etwas vorlaut.

„Stimmt“, Oma Klebmann lacht. „Ich kann mir gut vorstellen, wie du aussiehst, wenn du eine Honigschnitte verdrückt hast. Hände, Schnute und Kinn sind klebrig wie die Zunge vom Frosch oder vom Specht, die damit ihr Futter einfangen.“

Oma Klebmann drückt Bastian das Harzklümpchen in die Hand und sagt: „Wir Menschen haben viel gelernt, weil wir die Pflanzen und Tiere genau beobachten und uns Nützliches abgeschaut haben.“

Bastian zuckt die Schultern und rollt das Harzklümpchen zweifelnd von Hand zu Hand.

„Tja!“ Oma Klebmann scheint ratlos. „Wie könnte ich dir bloß weiterhelfen?“

Da sehen sie einen Mann mit Papierhut durch den Park laufen. Er schiebt eine Karre voller Besen, Bürsten und Eimer vor sich her.

„Was für ein Glück“, ruft Oma Klebmann. „Dort kommt Herr Kleistrich, unser Malermeister.“ Sie bittet Herrn Kleistrich, der doch tagtäglich mit Leim hantiert, Bastian weiterzuhelfen.

Herr Kleistrich hebt den Jungen in seine Karre.

Bastian hascht noch schnell nach einer vorbeitrudelnden Ahornfrucht und klebt sie Oma Klebmann als Dankeschön auf die Nase.

Meister Kleistrich und viele Tapeten

Herr Kleistrich malert und tapeziert in Wohnungen die Wände und Decken. Heute arbeitet er in einem frisch verputzten Haus. Bastian hilft ihm die Tapetenrollen, Leitern, Leimeimer, Besen und Bürsten in eine leere Wohnung tragen. Meister Kleistrich bedankt sich freundlich und fragt: „Du wolltest also in die Leimfabrik, kleiner Mann?“

Bastian legt die letzten Tapetenrollen ab und ärgert sich ein wenig. Schließlich ist er der Größte in seiner Kindergruppe.

„Die Leimfabrik kenne ich gut, dort habe ich den Pausenraum tapeziert“, erinnert sich der Malermeister.

Bastian sieht ihn erwartungsvoll an. Der rührt bedacht in seinem Leimeimer, rollt dann eine Tapetenbahn aus. Anker und Schiffe werden sichtbar. Geschickt schneidet er die Tapetenbahn zu. Dann taucht er eine Bürste in den Leim und kleistert die Tapetenbahn ein. Schließlich steigt er auf eine Leiter, drückt die Tapete an die Wand und klopft und streicht sie fest. Bastian wartet.

„In der Leimfabrik“, sagt Herr Kleistrich endlich, „dachte ich zuerst, die Fußböden sind mit Zuckerguss überzogen. Aber dieser Zuckerguss war Leim, verschütteter, versprühter, verschmierter Leim.“

„So wie dieser?“ Bastian wischt einen Leimspritzer von seiner Nasenspitze.

„Nein, nein. Im Chemiewerk werden viele Sorten Leim und Klebstoff hergestellt. Manche sollen Papier, andere Glas oder Eisen oder Beton zusammenkleben.“ Herr Kleistrich klopft die nächste Tapetenbahn fest. „Meinen Leim musste ich mitnehmen in die Leimfabrik. Tapetenleim wird dort nicht gekocht. Tapetenleim aber taugt nur für Tapete und nicht für dein Schiffsmodell.“

„Schade.“ Bastian wendet sich ab.

„Nicht so eilig, kleiner Mann!“ Sorgfältig streicht Herr Kleistrich eine Tapetenfalte glatt. Schon zieren Anker und Schiffe eine ganze Wand; grüne Anker, gelbe Schiffe und sogar ein bisschen blaues Meer ist zu sehen.

„Tapeten verzaubern Räume“, freut sich Herr Kleistrich. „Spürst du schon ein wenig Seewind von deinem Familienausflug?“ Bastian murrt eine undeutliche Antwort.

Meister Kleistrich schaut auf: „Schiffsleim kann ich dir nicht geben, doch kann ich dir erzählen, wie es am Arbeitsplatz der Leimmacher, wie es in der Leimfabrik aussieht.“

Und gleich beschreibt er Bastian den Pausenraum. Dort klebte der Malermeister eine Wald-und-Wiesen-Tapete, damit sich die Arbeiter während der Pause gut erholen können. Wald und Wiesen an den Wänden ringsum.

Die Leimmacher arbeiten in einem der vielen Gebäude der Fabrik. Viele Rohrleitungen verbinden das Hauptgebäude der Leimherstellung mit anderen Anlagen des großen Chemiewerkes. Im Erdgeschoss lärmen Pumpen.

Manche Arbeiter bedienen diese Pumpen, andere kontrollieren in Zwischenetagen die turmhohen Leimrührwerke. In der obersten Etage werden die Rührwerke gefüllt, und in der Messwarte wird die Leimherstellung geregelt und überwacht.

Viele Bildschirme flimmern hier, Kontrolllämpchen blinken, Telefone melden, ob alles ohne Störungen abläuft.

Ziemlich warm ist es im Hauptgebäude. Die Leimmacher kommen leicht ins Schwitzen bei ihrer Arbeit. Trotzdem tragen sie Schutzhelme, manchmal auch Schutzbrillen, Schutzhandschuhe oder sogar Schutzmasken, um sich vor heißen Spritzern oder giftigen Dämpfen zu schützen.

„Na, kannst du dir die Leimfabrik nun vorstellen?“

„Ein bisschen. Nun weiß ich, wie es dort aussieht, aber nicht, wie ich zu meinem Schiffsleim komme.“ Noch immer ist Bastian enttäuscht, weil Tapetenleim seinen wundervollen lustigen und bunten Familienausflugsdampfer nicht zum Schwimmen bringen kann.

„Nur Mut, deine Überraschung wird schon gelingen“, meint Meister Kleistrich. Er faltet für Bastian einen Tapetenhut und stülpt ihn über den Jungenkopf. Mit diesem Hut voller Anker und Schiffe verlässt Bastian den freundlichen Malermeister und tritt hinaus auf die Straße.“

Erstmals 1951 veröffentlichte Erwin Johannes Bach im Alfred Holz Verlag Berlin „Der Hasenhirt. Einem deutschen Volksmärchen in Versen nacherzählt“: „Der Hasenhirt“, von dem Dichter und Komponisten Erwin Johannes Bach trefflich in Verse gesetzt, stellt eine Variante des bekannten Volksmärchens dar. Ein König verspricht demjenigen seine Tochter, der ihr einen goldenen Ring und damit die Lebensfreude zurückbringt. Doch als die Tat einem einfachen Hirten gelingt, bereut der Herrscher seine Zusage. Bevor der Jüngling die Braut gewinnt, soll er nun erst noch tagelang hundert Hasen hüten. Falls ihm nur einer davon entkommt, würde das seinen Kopf kosten. Rat tut not, aber zu seinem Glück besitzt der Bursche eine Wunderpfeife, die alle Hasen beisammen hält. Da nützt es auch nichts, wenn die Prinzessin, die Königin und zuletzt der König selbst, als Bauersleute verkleidet, schmachvolle Handlungen in Kauf nehmen, um ihm wenigstens eins der Tiere abzuluchsen. Mit bissigem Humor werden die Wortbrecher bloßgestellt. Die Gerechtigkeit siegt, Gewitztheit und Mut triumphieren über hinterhältiges Ränkespiel. Vor nunmehr sieben Jahrzehnten zum ersten Mal erschienen, ist diese zeitverhaftet-zeitlose Geschichte eine poetische Kostbarkeit. Und so beginnt dieses zauberhafte Märchen in Versen:

Der Hasenhirt

Vor vielen Jahren …
… und vielen Tagen
Hat Folgendes sich zugetragen –
Und es beginnt, wie überall,
Das Märchen mit: Es war einmal …

Es war einmal ein alter König,
Der liebt sein Töchterlein nicht wenig,
Verwahrte die Prinzessin klug,
Kein Freier war ihm gut genug.
Viel Prinzen waren schon gekommen,
Die sie zu frein sich vorgenommen;
Dieweil jedoch, wie schon gesagt,
Kein einziger ihm ganz behagt,
In allen Stücken ihm genügt,
Hat er sie alle weggeschickt.
Zwar ist’s schon häufig so gewesen,
In andren Märchen auch zu lesen,
Doch was ihr hier des weitren hört,
Ist ganz besonders hörenswert.

Der König, der sein Töchterlein
In jeder Hinsicht wollt erfreun,
Hält prächtig sie in Schmuck und Ehren
Und kann ihr keinen Wunsch verwehren.
Er baute ihr ein Kämmerlein
Aus Gold und aus Karfunkelstein;
Der größte Künstler aus dem Reich
Erschuf ihr einen Silberteich,
Ein Schwimmbassin mit goldnen Kanten,
Der Kies der Wege Diamanten,
Und war ein Hain von Zaubererlen,
Drauf wuchsen Edelstein und Perlen;
Ein Apfelbaum stand an der Pforte,
Statt Früchten trug er Apfeltorte,
Und Sträucher gab es, die wie Schlehen
Von weitem waren anzusehen –
Wer näher trat, bemerkte flugs:
Statt Blüten hier Schlagsahne wuchs;

Doch der Prinzessin schönstes Ding
War ein rotgüldner Fingerring.
Braucht ihn am Finger nur zu drehen,
Musst alles in Erfüllung gehen,
Was sie sich wünschte weit und breit
An Spiel und Lust und Herrlichkeit.

Doch war es grade dies Geschmeid,
Von dem ihr kam das Herzeleid.
Als sie zum Bad sich ausgezogen,
Kam eine Ente angeflogen,
Die hat das Ringlein sich genommen,
Ist mit dem Ringlein fortgeschwommen;
so sehr das Königskind auch ruft,
die Ente hebt sich in die Luft.
Und ach, des güldnen Rings Verschwinden
Konnt die Prinzessin nicht verwinden;
Sie grämte sich viel Tage lang
Und ward am Ende schrecklich krank.
Sie härmte sich ohn Unterlass
Und wurde bleich und wurde blass,
Sie weint und trauert alle Stunden,
Jedoch der Ring, er blieb verschwunden.
Sie wünschte sich ins kühle Grab
Und magerte beträchtlich ab;

Schon ist der Augen Glanz gewichen,
Ihr goldnes Haar ist ganz verblichen,
Kein Lächeln schönt mehr ihre Wangen,
Seitdem der Ring verlorn gegangen,
Sie spricht kein einzig fröhlich Wort
Und härmt und sehnt sich immerfort.

Dem König, der sein Kindlein sah,
Ging dessen Unglück wirklich nah;
Sein Töchterlein, sein Königskind,
Wie schafft man ihm den Ring geschwind!
Denn ohn ihr Ringlein offenbar
Kommt bald sie auf die Totenbahr.

Man mühte sich, sie zu zerstreuen
Und anderweitig zu erfreuen,
Jedoch im ganzen Königreich
Nichts kam dem goldnen Ringlein gleich.
Das Königskind ward kränker immer,
Die Magerkeit ward immer schlimmer.
Jedoch der Menschheit Leid und Blässe
Regt auch der Wissenschaft Interesse,
Die jederzeit, des Irrtums bar,
Die letzten Gründe legt uns dar.

Drum, als die Ärzte all befragt,
Weshalb das Unglück an ihr nagt,
Da ward die Sache sonnenklar,
Und taten sie aus einem Mund
Dem Könige zu wissen kund:
Vonnöten ist des Ringleins Fund,
Ohn Ringlein wird sie nicht gesund. –

Wie war das Herz dem König wund!
Er denkt und grübelt jede Stund –
Und wie am End das arme Mädchen
So schlank und dünn war wie ein Fädchen,
Hat sich der König ausgedacht,
Im ganzen Reich bekanntgemacht:
Wer nur das Ringlein finden kann,
Wird der Prinzessin Ehemann,
Wird sie in allem Glanze frein,
Nach seinem Tod der König sein …“

Vielleicht sollte man, um die rhythmische Schönheit dieses gereimten Märchens zu genießen, das Ganze nicht nur lesen, sondern laut lesen? Jedenfalls ist „Der Hasenhirt“ – diese Person kommt etwas später ins Spiel – es wert, einmal näher und genauer angesehen zu werden. Interessant ist dabei übrigens auch ein Blick auf Vorlagen, die Bach für seine Fassung verwendet haben mag. So findet sich zum Beispiel unter dem gleichen Titel in der Sammlung „Deutsche Hausmärchen“ aus dem Jahre 1858 von Johann Wilhelm Wolf ein Text, der folgendermaßen beginnt: „Es war einmal ein König von Portugal, der hatte eine sehr schöne Tochter und die hatte so viel Freier, daß sie sich ihrer nicht zu entschlagen wußte, und daß die Wahl ihr mit jedem Tage schwerer wurde, denn jeden Tag kamen ihrer einige Dutzende mehr in der Hauptstadt an. Da ließ der König endlich ein Gebot ergehen: wer ihm einen goldenen Apfel brächte, der solle die Prinzessin haben. Nun wäre es zwar leicht gewesen, sich einen goldenen Apfel beim Goldschmied machen zu lassen, aber damit war es nicht gethan, denn der Apfel mußte gewachsen sein und es gibt nur einen Baum in der Welt, worauf sie wachsen.

Nun verloren die meisten Freier den Muth, ein General aber behielt dessen genug und machte sich auf den Weg und kam in einen großen Wald, und als er den hinter sich hatte, da lag eine große Haide vor ihm und mitten auf der Haide stand der Wunderbaum und der glänzte ganz prächtig, so voll goldener, Aepfel war er. Kaum stand er daran, als ihm einer der goldenen Aepfel vor die Füße fiel.“ Und dieser Text dürfte nicht die einzige Hasenhirt-Variante gewesen sein.

Johann Wilhelm Wolf lebte von 1817 bis 1855, war ein deutscher Germanist und Schriftsteller, der systematisch Märchen und Sagen sammelte. Nachdem er 1854 an einem Nervenleiden erkrankte, das er mit Kuren zu bekämpfen versuchte, starb er jedoch bereits im folgenden Jahr relativ jung.

Im Übrigen gibt es auch einen DEFA-Märchenfilm „Der Hasenhüter“ von Ursula Schmerger (Buch und Regie) aus dem Jahre 1977, der wiederum lose auf das Märchen „Der Hasenhüter und die Königstochter“ von Ludwig Bechstein zurückgeht und seit 2016 auch als DVD zu haben ist. Eine weitere Quelle. Vielleicht schauen Sie mal rein?

Und damit zurück zu den heutigen Sonderangeboten. Viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen schönen August (mit und ohne Sternschnuppen), bleiben Sie weiter vorsichtig, vor allem aber weiter schön gesund und munter und bis demnächst.

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital war vor 26 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.100 Titel. E-Books sind barrierefrei und Bücher werden klimaneutral gedruckt.

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