Die Folgen des zweiten, langen Lockdowns sind weitreichend. Die Ergotherapeutin Jutta Berding verweist auf eine Sondererhebung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe: „Die lange Zeit der Einschränkungen hat sich auf die seelische Verfassung der Allgemeinbevölkerung und noch drastischer auf die Situation psychisch Erkrankter ausgewirkt“. Die Ergotherapeutin im DVE (Deutscher Verband Ergotherapie e.V.) ist Co-Herausgeberin der deutschen Übersetzung von ‚Recovery through activity‘, also Genesung durch Aktivität. Das Manual unterstützt Ergotherapeut:innen bei der Arbeit mit psychisch Erkrankten. Über diese Personengruppe hinaus ist im Rahmen der Gesundheitsförderung Weiteres denkbar: die Intervention greift bei Menschen, die unter Belastungen leiden, um sie in ein bewusst aktiveres und ausbalancierteres Leben zu begleiten.

Noch immer verbringen viele den Großteil der Zeit zuhause – im Homeoffice, im Onlinestudium, in Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit, aus Angst oder Vorsicht und weil Öffnungen sukzessive und Veranstaltungen meist gar nicht stattfinden. Was zwangsläufig dazu führt, dass die Aktivitäten in den verschiedenen Lebensbereichen unausgewogen sind. „Es ist wichtig, die eigenen Gefühle ehrlich zu betrachten – Verdrängen ist keine gute Idee“, sagt die Ergotherapeutin Jutta Berding und bestärkt Betroffene, sich Rat beim Haus- oder Facharzt beziehungsweise -ärztin zu holen; diejenigen mit einer psychischen Erkrankung unbedingt, aber ebenso Menschen, deren Gemütsverfassung durch die Situation der Pandemie angekratzt ist. Es ist anzunehmen, dass das nicht wenige sind.

Ergotherapeutische Kompetenzen nutzen

Ärzt:innen wissen um die Wirksamkeit ergotherapeutischer Interventionen in vielen Bereichen. Die Ausbildung von Ergotherapeut:innen bedient sich einer Kombination aus Medizin und Sozialwissenschaften, Pädagogik, Psychologie und Soziologie – beste Voraussetzungen, um gerade jetzt, während der Pandemie, Betroffene mit dem Wissen aus diesen unterschiedlichen Disziplinen sehr genau zu betrachten und ihnen zu einem aktiveren, gesünderen Leben zu verhelfen. Weitere Pluspunkte dieser Berufsgruppe sind die Methodenvielfalt und die unter Ergotherapeut:innen verbreitete Innovationsfreude. Dieser ist auch die von Jutta Berding mit ‚Genesung durch Aktivierung‘, kurz ‚GeDuAk‘, übersetzte Vorgehensweise zu verdanken. Das Manual mit dem Titel „Genesung aktivieren – Teilhabe fördern“ unterstützt mit einer Reihe von Arbeitsmaterialien die praktische, ergotherapeutische Arbeit. Ganz im Sinne einer jeden ergotherapeutischen Intervention findet auch bei diesem neueren ergotherapeutischen Ansatz zunächst ein ausführliches Anamnesegespräch statt. Dabei geht es um die Anliegen, die die Betroffenen auf dem Herzen haben, damit einhergehende Probleme und das für Ergotherapeut:innen zentrale Thema von Einschränkungen der Teilhabe. Sie finden gemeinsam heraus, welche Gründe eine Teilhabe reduzieren oder verhindern, ob es an der Erkrankung, der angeschlagenen Gemütsverfassung oder an anderen Dingen liegt.

Aktivitäten in der Gruppe beleuchten

Betrachten Ergotherapeut:innen mit psychisch Erkrankten deren Aktivitäten, stehen beispielsweise Themen wie ‚zu viel Zeit am Computer verbringen‘ oder ‚zu wenig oder keine Arbeit haben‘ im Mittelpunkt. Themen, die Pandemie-bedingt mittlerweile auch bei gesunden Menschen verstärkt auftreten. „Ziel der Gruppenintervention ‚Genesung durch Aktivierung‘ ist, die Betroffenen so zu befähigen, dass sie ihr Verhalten – beim Thema Computer, beim Thema Arbeit oder bei anderen Themen wie Bewegung oder was immer für sie wichtig ist – verändern wollen und können, um ein aktiveres Leben anzubahnen“, erklärt die Ergotherapeutin Berding. Sie fährt fort: „Dazu ist zunächst ein Explorieren, ein Erkunden notwendig, was bei dieser speziellen Intervention durch die Arbeit in der Gruppe geschieht“. Das Manual bietet Arbeitsbögen zu unterschiedlichen Aktivitäten. Die Antworten auf die darin gestellten Fragen werden in der Gruppe besprochen oder diskutiert. Der Sinn dahinter: Die Teilnehmenden stellen fest, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind, sie entdecken gemeinsame Themen oder Interesse an denselben Aktivitäten, tauschen Erfahrungen und Lösungsansätze aus und motivieren sich gegenseitig. Ebenso wichtig: sie geben Rückmeldungen und beziehen Stellung zu den Antworten der anderen, sodass jeder und jede Einzelne ein kontinuierliches Feedback zur Korrektur der eigenen Selbstwahrnehmung erfährt. Dies sind wegweisende Impulse für die Selbstreflexion und helfen, den Motivationsprozess in die Wege zu leiten.

Auswirkungen von Aktivitäten

Jutta Berding hebt den zentralen Stellenwert von Aktivitäten bei dieser Intervention hervor. Das Manual bezieht sich auf zwölf Aktivitätsbereiche, die es mittels entsprechender Arbeitsbögen zu hinterfragen gilt. Neben Aktivitätsbereichen wie berufliches Aktivsein, soziales Leben oder Selbstfürsorge nimmt der Aktivitätsbereich ‚Freizeit‘ einen besonderen Stellenwert ein – gerade in Zeiten der Pandemie und der Lockdowns ein essenzieller Aspekt. Die Fragen zielen darauf ab, zunächst die Bedeutung von Freizeit für sich selbst herauszufinden: Was bedeutet der- oder demjenigen Freizeit? Seine Batterie aufzuladen? Etwas zu tun, was Vergnügen bereitet? Oder einfach nur Zeit für sich selbst zu haben? Und welche Interessen verfolgt diese Person? Weshalb es für den weiteren Therapieverlauf wichtig ist, etwas über die Interessen herauszufinden, erklärt die Ergotherapeutin Jutta Berding so: „Interessen lenken uns in der Zeitgestaltung“. Die Alltagsplanung an den Interessen auszurichten kann sich positiv und erfüllend auswirken; es kann aber ebenso in eine negative, die Gesundheit beeinträchtigende Richtung führen. Daher sieht das Manual vor, im nächsten Schritt Qualität und Quantität, also die Wirkung der einzelnen Aktivitäten auf die jeweilige Person zu betrachten.

Quantität und Qualität von Aktivitäten

„Aktivitäten können den eigenen Interessen entsprechen. Verliert sich jemand allerdings stundenlang darin, wie das beispielsweise beim exzessiven Spielen am Computer vorkommen kann, ist die Frage, ob dies erfüllend und gesundheitsförderlich ist, schnell beantwortet“, verdeutlicht die Expertin und zeigt auf, wie das Gegenteil aussieht. Sind Aktivitäten erfüllend, was immer wieder im beruflichen Kontext zu beobachten ist, steuern diejenigen, die dabei ihre Grenzen nicht beachten, mitunter auf einen Burnout zu. Die Erkenntnis, warum etwas gut und förderlich für Gesundheit und Wohlbefinden ist, genügt jedoch nicht. Die Veränderung muss stattfinden, gelebt werden. Diesem Punkt widmet sich das Manual als nächstes. In Bezug auf den Aktivitätsbereich ‚Freizeit‘ bedeutet dies zum Beispiel, dass der oder die Ergotherapeut:in die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung vor Ort gemeinsam mit den Klient:innen erkundet oder sie gemeinsam herausfinden, welche Aktivität zunächst regelmäßig stattfinden soll.

Ergotherapeut:innen begleiten jede Stufe der Veränderung

Um den Prozess von Beginn bis hin zum Implementieren von Aktivitäten in den Alltag verbindlich zu machen, arbeiten Ergotherapeut:innen mit Zielvereinbarungen und thematisieren die Schritte der Veränderung in der Gruppe. Die Reaktionen der Teilnehmenden und der Austausch über die erzielten Fortschritte wirken edukativ und verpflichtend. Darüber hinaus befähigen Ergotherapeut:innen die Klient:innen, Strategien zu entwickeln, um den Veränderungsprozess kontinuierlich zu fördern. Übungen zu Aktivitäten und einer aktiveren Lebensführung tun ein Übriges: Sie erleichtern es den Betroffenen, die veränderten Verhaltensweisen dauerhaft in ihren Alltag zu integrieren – so lange, bis das Ziel der Betätigungsbalance erreicht ist. Bei psychisch Kranken, aber auch bei Menschen mit anderen Belastungen.

Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeut:innen vor Ort; Ergotherapeut:innen in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche

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