- „Fünf Flure“, „ATLAS“ und „Einsam stirbt öfter“ nominiert
- Preisverleihung am 18. August im Deutschlandfunk in Köln
Für die Jubiläumsausgabe des Hörspielpreis der Kriegsblinden – Preis für Radiokunst hat eine 15-köpfige Jury drei Arbeiten nominiert. Die renommierte Auszeichnung, getragen von der Film- und Medienstiftung NRW und dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV), wird am Mittwoch, 18. August im Deutschlandfunk Köln vergeben.
Unter Vorsitz der Kulturwissenschaftlerin Gaby Hartel nominierte die Jury folgende drei Produktionen:
„Fünf Flure, eine Stunde“ von Luise Voigt, Produktion: hr/SWR/Deutschlandfunk
Schauplatz Pflegeheim – Das One-Take Hörspiel „Fünf Flure, eine Stunde“ nimmt die unterschiedliche Wahrnehmung der Zeit des verrinnenden Lebens und der Anforderungen an diesen Arbeitsort in den Blick. Ein langes, reiches und eigenständig geführtes Leben steht nicht selten im Widerspruch zu dem, was die meisten an dessen Ende erwartet: die letzten Lebensjahre im Altenheim. Unweigerlich entstehen an diesem Ort Ambivalenzen auf vielen Ebenen. Während den Bewohner:innen nur noch wenig Zeit in ihrem Leben bleibt, steht auch das Pflegepersonal – wenn auch auf ganz andere Weise – unter hohem Zeitdruck. So begegnen sich Helfende und Hilfebedürftige unausweichlich eingezwängt in der Taktung des Betriebs. Luise Voigt wirft einen neuen, angst- und vorurteilsfreien Blick auf diese letzte Etappe des Lebens. Die Jury: „Es gibt gesellschaftlich drängende Fragen, wie die der menschlichen Würde am Ende eines langen Lebens, die uns seit Jahren unter den Nägeln brennen. […] Dass Luise Voigt die Kritik [am Zustand der Pflege] anhand dieser künstlerischen Form erzählt und durch ihr Publikum aufdecken lässt, ist eine große Leistung. Mögen politische Entscheider:innen zu diesem Publikum gehören.“
„ATLAS“ von Thomas Köck, Produktion: MDR
Thomas Köck erzählt von der Arbeitsmigration in den 1980er-Jahren, vom Untergang der DDR und von einem Kind, das nach Vietnam reist, um den Weg seiner Vorfahren nachzuzeichnen: Die Großmutter floh kurz nach dem Ende des Vietnamkriegs 1975 mit ihrem Kind aus Saigon auf die Flüchtlingsinsel Pulau Bidong. Sie gehörten zu den „Boatpeople“, auf der Überfahrt kenterte das Schiff, Mutter und Tochter wurden getrennt. Die Großmutter wurde schließlich als Kontingentflüchtling von der Insel gerettet und nach Westdeutschland gebracht. Nach einigen Jahren kehrte sie zurück. Die Tochter hingegen ertrank entgegen der Annahme ihrer Mutter nicht und wuchs als Adoptivkind auf. Als junge Erwachsene wurde sie in die DDR entsandt, die ab 1980 vietnamesische Gastarbeiter:innen aufnahm. Köck, der virtuos Bilder von Bootsflüchtlingen oder Wirtschaftsfragen im Gestern und Heute verschränkt, entwickelt eine ungewöhnliche und mitreißende Perspektive auf die politische Wende 1989 und eine vietnamesische Familiengeschichte, die in der DDR wie in der Bundesrepublik ihre Spuren hinterließ. Die Jury: „[…] Gekonnt nuanciert der Autor zahlreiche gesellschaftliche Anspielungen und sein Stoff hätte das Zeug zu mehreren Melodramen. Doch Köck bleibt in dem von ihm abgesteckten konzeptionellen Rahmen […]. Weil er seinen Figuren dabei sehr nahekommt und sie von heute aus ohne ideologisches Korsett auf die Welt schauen lässt, betrachten auch wir sie aus einer frischen Perspektive. […].“
„Einsam stirbt öfter. Ein Requiem“ von Gesche Piening, Produktion: BR
Eine Aussegnungshalle, eine Trauerfeier, ein Verstorbener – aber keine Trauernden. Geboren, gelebt und gestorben. Mitten in der Stadt. Unter Menschen und doch fremd. Was ist da passiert? „Einsam stirbt öfter“ erzählt von all denen, die mitten in der übervollen Großstadt vereinsamt leben, unbemerkt versterben und schließlich von Amts wegen bestattet werden, weil niemand sonst ihre Totenfürsorge übernehmen will oder kann. Fremd unter Menschen im Leben, fremd und alleine bis in den Tod. Von Fremden bestattet, von anderen nicht weiter bemerkt. Was ist da passiert? Gab es Familie? Freunde? Nachbarn? Einen Bäcker, der den Toten vermisst? Was bleibt, wenn keiner zurückbleibt, der weint? Das Hörspiel erkundet, was im Leben wirklich wichtig ist. Wie müssen wir leben, um glücklich zu sterben? Die Jury: „[…] Es wird nichts erfunden, aber die Wirklichkeit gewinnt an Tiefe und damit an lange nachklingender Bedeutung. So wird dieses Hörspiel auch zum künstlerischen Plädoyer gegen die Ächtung der Einsamkeit, einem Zustand, unter dem Millionen leiden – sofern er nicht selbstgewählt und zeitlich begrenzt ist.“
Streaming der nominierten Hörspiele
Weitere Informationen zu den Autorinnen und Autoren, die vollständigen Jurybegründungen und Verlinkungen zu den nominierten Hörspielen finden Sie unter www.filmstiftung.de/events/70-hoerspielpreis-der-kriegsblinden/
Der Hörspielpreis der Kriegsblinden wird seit 1952 jährlich an ein für einen deutschsprachigen Sender konzipiertes Original-Hörspiel verliehen, das in herausragender Weise die Möglichkeiten der Kunstform realisiert und erweitert. Im vergangenen Jahr übernahm der DBSV die Mitträgerschaft vom Bund der Kriegsblinden.
Die Jury des 70. Hörspielpreises der Kriegsblinden
Blinde und sehbehinderte Jurymitglieder: Paul Baumgartner, Joachim Günzel, Hans-Dieter Hain, Nina Odenius, Dietrich Plückhahn, Siegfried Saerberg, Dörte Severin
Jurymitglieder aus dem Kunst- und Kulturbereich: Gaby Hartel (Kulturwissenschaftlerin, Vorsitzende der Jury), Thomas Irmer (Freier Journalist, u.a. Theater der Zeit), Eva-Maria Lenz (Freie Journalistin, u.a. FAZ, epd), Doris Plöschberger (Suhrkamp Verlag), Diemut Roether (Journalistin, epd medien), Hans-Ulrich Wagner (Universität Hamburg, Hans Bredow-Institut), Isabel Zürcher (Kritikerin, Lektorin und Publizistin), Jenni Zylka (Journalistin, Autorin und Moderatorin)
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