Als das Verhältnis zwischen den USA und China sich unter der Trump-Regierung zunehmend verschlechterte und Huawei die Last der Sanktionen spürte, schien ein Thema für den Smartphone-Hersteller besonders problematisch zu sein: seine Abhängigkeit von Googles Betriebssystem Android. Damals verkündete Huawei, dass es ein Betriebssystem (OS) bereithielte, falls es künftig nicht mehr auf Android setzen dürfe. Allerdings machte das Unternehmen anschließend einen Rückzieher und sagte, dass das besagte OS nicht vollständig kommerziell einsatzbereit sei und verwendete ab September 2020, als die Sanktionen in Kraft traten, das Open-Source-OS von Android, genannt EMUI, ohne GMS (Google Mobile Service) Unterstützung. Huawei hat nun sein OS, Harmony 2.0, vorgestellt, das auf allen Huawei-Telefonen installiert wird und den Hersteller von jeglicher Bindung an Google innerhalb des Softwaresystems befreit.

Die Veröffentlichung des Betriebssystems ist recht bemerkenswert, da es zeigt, dass es möglich ist, wichtige Software durch selbst entwickelte Qualitätssoftware zu ersetzen. Das Harmony-OS-System basiert nicht auf Unix oder Android. Es ist völlig unabhängig. Manche Funktionalitäten sehen einigen patentierten Funktionen von Android oder Apple sehr ähnlich, wie z. B. einige Logiken, Gestenfunktionen oder Abläufe. Es könnte daher zukünftig zu patentrechtlichen Problemen kommen, besonders auf dem globalen Markt. Aber das ist in diesem Stadium nicht übermäßig kritisch. Das wichtigste Element, um Harmony zu einem Erfolg zu machen, wird nun die App-Entwicklungsumgebung sein. Viele Anwendungen werden wahrscheinlich nicht auf diesem OS funktionieren. Huawei bietet zwar einen eigenen Emulator an, der Android-Apps einfach in Harmony-Apps umwandeln kann, aber Nutzer des iOS-Emulators für das Android-OS wissen, dass die Leistung wenig zufriedenstellend ist. Der Emulator kann zwar mechanisch die Sprache ändern, aber er gibt ihr kein ansprechendes kommerzielles Finish oder ein ergonomisches Gefühl. Das ist der Grund, warum App-Entwickler oft den doppelten Aufwand und die Kosten aufbringen müssen, um Versionen ihrer App für die verschiedenen Plattformen zu veröffentlichen. Es erklärt auch, warum es für PCs weniger Software für das Mac OS gibt als für das Windows OS. In der Spielewelt sind PlayStation und Xbox die Spitzenreiter, die darum konkurrieren, mehr Spieleentwickler auf ihre Plattform zu bringen. Relativ kleinere Akteure wie Nintendo haben es schwer, mit ihnen zu konkurrieren und müssen ihre eigene Nische finden, in der sie ohne den Beitrag vieler Spieleentwickler erfolgreich sind.

Ob App-Entwickler anfangen werden, in der Harmony OS-Umgebung zu arbeiten, ist die entscheidende Frage.  Es hängt alles davon ab, wie viele Endbenutzer das Harmony OS anziehen wird. Sollte der Markt groß genug sein, werden App-Entwickler letztendlich investieren, um Produkte für die Plattform zu entwickeln. Viele chinesische Unternehmen der Unterhaltungselektronik wie Midea, Haier, Joyoung und Fotile haben bereits zugesagt, dieses OS auf ihren Geräten wie Waschmaschinen oder Backöfen einzusetzen. Smartphone-Hersteller wie Oppo, Vivo oder Xiaomi haben dies jedoch noch nicht getan. Sollte dies passieren, könnte das Harmony OS zumindest für den heimischen Markt ein Erfolg werden.

Die Smartphone-Lieferungen von Huawei sind bereits auf 4 % des weltweiten Marktanteils im ersten Quartal 2021 gesunken, von 20 % in der Spitze. Auf diesem Niveau ist die Herausforderung, ein Betriebssystem auf den Markt zu bringen, eine ganz besondere. Huawei ist darauf angewiesen, dass andere chinesische Smartphone-Hersteller es übernehmen. Diese könnten zur Bedingung machen, dass Huawei die Produktion ganz aufgibt. Aber das würde das Problem nur für den chinesischen Markt lösen. Weltweit sind Apples iOS und Googles Android gut etabliert, und es ist schwer vorstellbar, dass ein drittes Betriebssystem ihnen signifikante Marktanteile abnehmen und Entwickler anlocken könnte. Harmony müsste vielleicht so etwas wie Nintendo in der Spielewelt werden: ein Nischenanbieter mit einer eigenen Umgebung, eigenen Funktionen, eigenen Anhängern und eigenen Daseinsberechtigungen. Bis dahin begrüßen wir zwar die technische Meisterleistung, ein komplett neues und unabhängiges Betriebssystem entwickelt zu haben, aber es ist nicht die „Get-out-of-jail“-Freikarte, die Huawei braucht. Zumindest noch nicht.

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