Positive Umfrageergebnisse und die unkritische Zuneigung vieler Medien scheinen eine Perspektive für eine neue Regierungskonstellation nach den Wahlen im September zu eröffnen. Dies spiegelt sich zum Teil auch in den Wahlprogrammen der Parteien wider. Zwischen der SPD und den Grünen ist die Schnittmenge ohnehin beachtlich, was bei den häufig wolkigen Formulierungen allerdings auch nicht verwunderlich ist. Die Linken sind nun aufgefordert, sich zumindest verbal zur NATO zu bekennen, damit eine grün-rot-rote Regierung zustande kommt. Das würde jedoch bedeuten, ihrem außenpolitischen Irrglauben abzuschwören, die NATO sei ein „Kriegsbündnis“.  

Nun weiß man aus Erfahrung, dass die Halbwertzeit von Wahlprogrammen nur bis zu den Koalitionsverhandlungen reicht. Nach der Regierungsbildung sind sie ohnehin Makulatur.

Vereint sind die drei potentiellen Regierungsparteien in der Ablehnung der von den Staats- und Regierungschefs der NATO 2014, 2016 und 2018 getroffenen Absprache, die Verteidigungsausgaben bis 2024 auf 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu erhöhen. Dass auch beschlossen wurde, den Anteil der Aufwendungen für die Ausrüstung der Streitkräfte auf „mehr als zwanzig Prozent des Verteidigungshaushalts“ zu steigern, wird allgemein ignoriert.

In ihrem Wahlprogramm lehnen die Grünen das „willkürliche NATO-2-Prozent-Ziel“ ab und fordern, die Bundeswehr „entsprechend Auftrag und Aufgaben personell und materiell sicher aus(zu)statten“. Offenbar in dem Verständnis, zunächst „Auftrag und Aufgaben der Bundeswehr an (den von ihnen definierten) realen und strategisch bedeutsamen Herausforderungen (zu) orientieren“.

In einem Interview mit dem US-Atlantic Council ist die Kanzlerkandidatin A. Baerbock kürzlich noch einen Schritt weiter gegangen. Sie hält die Kopplung der Verteidigungsaufwendungen der NATO an das BIP des jeweiligen Mitgliedstaates nicht für zeitgemäß ( „state of the art“), weil mit einem in einer Krise schrumpfenden BIP auch die Aufwendungen für die Verteidigung sinken, was ja auch als Folge der Pandemie durchaus möglich ist. Sie fordert stattdessen, die Verteidigungsaufwendungen an den notwendigen militärischen Fähigkeiten („what kind of capacities do we need“) auszurichten. Nimmt man die Grünen beim Wort, bedeutet dies folgendes: Sollten die Grünen künftig mitregieren, würden sie auch mehr als 2 Prozent des BIP in die Verteidigung investieren, falls sich dies als erforderlich erweist.

Der Auftrag der Bundeswehr ist auch für eine künftige Regierung verbindlich in der Verfassung festgelegt und kann deshalb nicht nach parteipolitischem Belieben geändert werden. Die zur Realisierung des Verfassungsgebots Landes- und kollektive Bündnisverteidigung erforderlichen Aufgaben werden von der Bundesregierung in den Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) abgeleitet. Auslandseinsätze sind nicht Teil des Verfassungsauftrags, aber eine verfassungskonforme  Aufgabe, aufgrund der Ermächtigung der Verfassung zum Eintritt in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit.

Streitkräfte sind immer in Bewegung, Stillstand bedeutet Rückschritt. In den letzten Jahren hat die Dynamik der außen- und sicherheitspolitischen sowie der geostrategischen Veränderungen zugenommen. Die NATO hat dieser Entwicklung bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit der Aufstellung des Strategischen Kommandos Transformation Rechnung getragen. Auch die Bundeswehr ist dem damit verbundenen Wandel der militärischen Fähigkeiten unterworfen.

Denn die Verfassung – „Streitkräfte zur Verteidigung“ – beschreibt nicht nur den funktionalen Aspekt des Auftrags der Bundeswehr. Vielmehr definiert sie den qualitativen Anspruch an die Streitkräfte, die Landes- und Bündnisverteidigung ohne Einschränkung zu gewährleisten. Damit verpflichtet sie jede Bundesregierung, die Streitkräfte zur Erfüllung ihres verfassungsmäßigen Auftrags zu befähigen und die dafür erforderlichen finanziellen Mittel bereitzustellen. Kurz: Auftrag, militärische Fähigkeiten und Verteidigungshaushalt müssen im Einklang sein.

Die Absicht der Kanzlerkandidatin der Grünen, den finanziellen Bedarf der Bundeswehr an den notwendigen militärischen Fähigkeiten zu messen, ist deshalb ebenso zu begrüßen wie die implizite, aber zwangsläufige Selbstverpflichtung, falls erforderlich auch mehr als 2 Prozent des BIP für die Sicherheitsvorsorge aufzuwenden. Vorausgesetzt, die künftige Bundesregierung handelt verfassungsgemäß und im Einvernehmen mit unseren Verbündeten.

Deshalb sei daran erinnert, dass die NATO bereits 2002, in einer Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges, als viele Mitgliedstaaten eine „Friedensdividende“ kassierten, untersucht hat, welche militärischen Fähigkeiten das Bündnis benötigt, um die Verpflichtungen aus dem Washingtoner Vertrag angesichts der veränderten geopolitischen Lage erfüllen zu können. Das Ergebnis war die auf dem Gipfel in Prag beschlossene Defence Capabilities Initiative (DCI). Diese führte schließlich zu den Vereinbarungen von Wales 2014 und den beiden folgenden NATO-Gipfeltreffen.

Das System der NATO-Streitkräfteplanung erlaubt den regelmäßigen Abgleich des Streitkräftedispositivs mit den strategisch-operativen Erfordernissen des Bündnisses im Hinblick auf die jeweiligen sicherheitspolitischen und geostrategischen Rahmenbedingungen. Die Bereitschaft der Staats- und Regierungschefs der Allianz, gemeinsam Anstrengungen zu unternehmen, um die Sicherheit der Mitgliedstaaten zu gewährleisten, beruht daher auf einer sorgfältigen Verteidigungsplanung. „Willkürliche“ Verpflichtungen hätten wohl kaum alle Mitgliedstaaten akzeptiert; ebenso wenig wie eine „unsinnige“ Bindung an das BIP. Schließlich gilt in der Allianz das Konsensprinzip, was auch bedeutet, dass eine Änderung dieser Verpflichtung nur mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten möglich ist.

Die Wirtschaftsleistung zum Maßstab des Bündnisbeitrags zu machen ist deshalb sinnvoll, weil wirtschaftlich schwächere Staaten nicht überfordert werden und die starken wie Deutschland einen fairen Anteil an der gemeinsamen Sicherheitsvorsorge übernehmen. Das entspricht dem Solidaritätsprinzip, der tragenden politischen Säule der Allianz.

Dass sie die Verteidigungsaufwendungen für ihre Streitkräfte bis 2024 auf 2 % des Bruttoinlandprodukts steigern, haben sich die Staats- und Regierungschefs der Allianz im gegenseitigen Vertrauen darauf zugesagt, dass jeder zu seinem Wort steht. Diese Verpflichtung bindet auch künftige Regierungen. Falls daher die derzeitige öffentlich bekundete Position der Grünen auch nach den Koalitionsverhandlungen und mit der Regierungsbeteiligung noch Bestand hat, kann die Bundeswehr offenbar eine erhebliche Steigerung des Verteidigungshaushalts erwarten, denn gemessen an ihrem doch sehr moderaten Fähigkeitsprofil brauchen unsere Streitkräfte noch mehr als zehn Jahre, um einen angemessenen Beitrag zur Landes- und kollektiven Bündnisverteidigung leisten zu können.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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