Anlässlich des Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (5. Mai) startet die Kampagne „100 Stimmen für #NoNIPT“.  Initiator*in ist das #NoNIPT Bündnis gegen die Kassenfinanzierung des Bluttests auf Trisomien, ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis, das die vorgeburtlichen genetischen Tests zur Suche nach genetischen Besonderheiten beim Fötus ableht.

„Den sog. Nicht-invasiven Pränataltest (NIPT) auf Trisomien zur Kassenleistung zu machen, ist das falsche Signal.
In der Bevölkerung werden Kassenleistungen als Basisversorgung wahrgenommen.
Eine Kassenzulassung kommt einer Empfehlung gleich und sendet eine fatale Botschaft an werdende Eltern.
Sie lautet: Die Suche nach dem Down-Syndrom beim werdenden Kind ist medizinisch erforderlich, sie ist verantwortlich und sozial erwünscht, weil die Solidargemeinschaft der Versicherten die Kosten trägt. Ein Kind mit Down-Syndrom ist heutzutage vermeidbar und zu vermeiden. Wir fordern, dass ein ethisch und gesellschaftspolitisch so umstrittener und folgenreicher Beschluss nicht allein durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) beschlossen werden kann.“, so Vera Bläsing von der Elterninitiative BM 3×21.

Der NIPT hat keinen medizinischen Nutzen, er kann nichts heilen. Er kann nur sagen, ob das werdende Kind wahrscheinlich eine Trisomie hat oder nicht. Bei einem auffälligen Testergebnis ist der Schwangerschaftsabbruch die einzige Handlungsalternative zur Geburt des Kindes mit Behinderung. Werdende Eltern müssen sich für oder gegen die Fortsetzung der erwünschten Schwangerschaft entscheiden“, weiß Claudia Heinkel, Pua-Fachstelle im Diakonischen Werk Württemberg Diakonie.

Silke Koppermann vom Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik ergänzt: „Die Testergebnisse können auch falsch sein. Je jünger die Frauen sind, die den Test machen lassen, desto höher ist statistisch zwingend die Zahl der falsch-positiven Testergebnisse, bei Trisomie 21, und noch viel mehr bei den Trisomien 13 und 18. Die medizinischen Fachgesellschaften sagen deshalb, dass jedes auffällige Testergebnis vor einem Schwangerschaftsabbruch durch eine invasive Untersuchung abgeklärt werden muss. Der Test erspart den Schwangeren also nicht grundsätzlich die invasive Untersuchung und das damit verbundene Fehlgeburtsrisiko.“

Immer wieder betonte der G-BA, dass der Test im begründeten Einzelfall bezahlt werden soll und es kein Screening auf Trisomien geben wird. Auch in der Orientierungsdebatte im Bundestag sprachen sich fast alle Abgeordneten gegen eine Reihenuntersuchung auf das Down-Syndrom aus. Der Beschluss von September 2019 spricht jedoch eine andere Sprache: Der genetische Bluttest soll als Kassenleistung genutzt werden können, „wenn er geboten ist, um der Schwangeren eine Auseinandersetzung mit ihrer individuellen Situation hinsichtlich des Vorliegens einer Trisomie im Rahmen der ärztlichen Begleitung zu ermöglichen.“ Der Beschluss bindet die Kassenleistung also allein an die subjektive Besorgnis der Schwangeren vor einem Kind mit einer Trisomie. Als Resultat rechnet der Berufsverband für Frauenärzte beim Inkrafttreten des G-BA Beschlusses mit einer Inanspruchnahme durch mindestens 90 Prozent der Schwangeren – von Einzelfällen kann also keine Rede sein.

Das #NoNIPT Bündnis wies bereits mehrmals auf Widersprüche und Probleme im Verfahren hin und forderte den G-BA direkt auf, den Beschluss auszusetzen.

„Seit langem weisen wir auf gravierende Unstimmigkeiten und Probleme in der Begründung zur Kassenfinanzierung des vorgeburtlichen Bluttests hin – und werden von der Politik ignoriert. Wir haben den Eindruck, dass ein Großteil unserer Parlamentarier*innen schlicht nicht begriffen hat, worum es hier wirklich geht. Unsere Kampagne ist ein lauter Ruf aus der Zivilgesellschaft in Richtung Bundestag, sich den Argumenten endlich zu stellen. Voraussichtlich Mitte Juli findet im GB-A
die abschließende Sitzung im Verfahren zur Kassenzulassung statt, die Zeit drängt!“, so Tina Sander vom Inklusionsverein mittendrin e.V.

„Am G-BA-Verfahren waren im Wesentlichen medizinische Fachgesellschaften beteiligt. Unter Mediziner:innen ist jedoch das medizinische Modell von Behinderung nach wie vor das vorherrschende. Eine Schwangere stellt sich aber vorrangig die Frage, wie sich ein Kind mit Behinderung auf ihre eigene Biografie auswirken wird: Kann ich noch in der Urlaub fahren? Kann ich mich trotzdem beruflich verwirklichen? Werde ich mich mein Leben lang kümmern müssen? Den bislang am Verfahren maßgeblich Beteiligten fehlt unserer Auffassung nach die Expertise, um diese Fragen kompetent beantworten zu können“, ergänzt Bläsing.

„Wir haben den Deutschen Bundestag bereits vor einem Jahr konkret dazu aufgefordert, die im April 2019 begonnene Debatte zu Pränataldiagnostik wieder aufzunehmen und fortzusetzen. Passiert ist da seitdem überhaupt nichts“, berichtet Taleo Stüwe vom Gen-ethischen Netzwerk e.V. und führt aus: „Auch in Hinblick auf zukünftige vorgeburtliche Test, die nach anderen genetischen Varianten suchen, braucht es dringend gesetzliche Regelungen für den Umgang mit selektiven vorgeburtlichen Tests. Wir fordern die Abgeordneten auf ihrer Verantwortung nachzukommen und politische Entscheidungen für eine inklusivere Gesellschaft zu treffen.

Hintergründe:

Die sogenannten Nicht-invasiven Pränataltests (NIPT) sind seit 2012 in Deutschland auf dem Markt. Seitdem sind werdende Eltern mit einem weiteren vorgeburtlichen Untersuchungsverfahren, welches nach genetischen Besonderheiten beim Fötus sucht, konfrontiert. Im September 2019 beschloss der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das höchste Gremium der Selbstverwaltung des Gesundheitssystems: Der NIPT auf die Trisomien 13, 18 und 21 soll zukünftig von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bezahlt werden.
Der Beschluss soll in Kraft treten, sobald eine Versicherteninformation zum NIPT und den Trisomien 13, 18 und 21 vorliegt und vom G-BA beschlossen wurde. Seit Anfang des Jahres liegen dem Gremium Entwürfe für einen allgemeinen Informationsflyer zu Pränataldiagnostik und einer auf den NIPT und die Trisomien fokussierten medizinischen Broschüre für werdende Eltern vor. Diese Materialen sollen zukünftig verpflichtend zur Unterstützung der ärztlichen Beratung zu Pränataldiagnostik eingesetzt werden. Am 22. April beschloss der G-BA die Konditionen für das Stellungnahmeverfahren zu diesen Materialien.

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